Sängerporträt: Livine Mertens (1901-1968) – die singende Agentin vom Théâtre de la Monnaie

Sie sang mehr als fünfzig verschiedene Rollen am Theatre Royal de la Monnaie in Brüssel 

– Livine Mertens – die singende Agentin – 

von Matthias Woehl


Ausgesprochen häufig liest man in Sängerbiografien, dass er oder sie sich angeblich „überhaupt nicht“ für Politik interessiert hat. Das ist im Fall von Livine Mertens endlich einmal anders. Sie hat sich im Zweiten Weltkrieg während der deutschen Besatzung für ihre politische Überzeugung und ihr Land eingesetzt. Doch dazu später.

Livine Mertens als Carmen
Foto: R. Marchand

Livine Mertens wurde als Livia Mertens 1901 in Antwerpen geboren. Schon mit acht Jahren verlor sie ihre Mutter, die am Musikkonservatorium in Antwerpen Gesang studiert hat, und von der Livine wohl die musikalische Begabung erbte. Schon als junges Mädchen spielte sie leidenschaftlich Klavier. Als junge Dame lernte sie den berühmten belgischen Bariton Maurice Decléry kennen, der von Belgien aus eine Internationale Karriere gemacht hat. Unter anderem war er von 1901 bis1903 an der Metropolitan Opera in New York engagiert. Einige Schellackplatten sind zum Glück von dieser großen Stimme erhalten. Er erkannte Livias Gesangstalent und bildete sie aus. 

1921 debütierte sie als Konzertsängerin in Antwerpen und machte sich auf Wohltätigkeitskonzerten einen Namen. 1923 trat sie unter dem Künstlernamen Livine Mertens ihr Engagement am Théâtre Royal de la Monnaie in Brüssel an, wo sie am 1. August 1923 als Fréderic in der Oper „Mignon“ von Ambroise Thomas debütierte. Dem Haus blieb sie über zwanzig Jahre, bis 1945 treu. 

Livine Mertens als Kind in „L’enfant et le sortilège“
Fotograf: J. Rentmeester
Zu ihren Auftritten gehörten auch gesellschaftliche Ereignisse wie die Galavorstellung der Stadt Brüssel am 8. November 1926 um 20 Uhr im Opernhaus Brüssel aus Anlass der Hochzeit des Herzogs von Brabant (der Kronprinz und spätere König Leopold III.) mit Prinzessin Astrid von Schweden. Livine Mertens sang das Kind in „L’enfant et les sortilèges“ von Maurice Ravel.

In Brüssel machte sie sich besonders in Hoserollen einen Namen. Viele erhaltene Rollenportraits zeigen eine schlanke wunderschöne Frau, und sie sang nun wirklich alles, was das „Travestie-Repertoire“ im französischen und deutschen Fach so her gab: Siebel in „Faust“, Nicklausse in „Hoffmanns Erzählungen“, Komponist in „Ariadne auf Naxos“, Orlowski in der „Fledermaus“, den Octavian im „Rosenkavalier“, den Sklaven in „Francesca da Rimini“ und viele andere Partien Rollen des Mezzofachs. Darunter waren natürlich auch die üblichen Rollen wie z.B. die Carmen. Mignon sang sie in 140 Aufführungen. Überhaupt war sie fleißig, die Liste ihrer Partien umfasst mehr als fünfzig Rollen, und darunter finden sich auch einige Werke, die heutzutage von den Spielplänen leider völlig verschwunden sind. Darunter in der Spielzeit 1927/1928 Nicette in „Le Pré-aux-Clercs“ von Ferdinand Hérold, Colette in „La basoche“ von Andé Messager und in der Spielzeit 1930/1931 Colombine in „Bonjour Monsieur Pantalon“ von Albert Grisar.

Ihre Stimme ist uns durch Schallplattenaufnahmen erhalten. Aus der 1921 in Gent uraufgeführten Oper „La Route d’émeraude“ des belgischen Komponisten und Organisten August de Boeck (1865-1937) gibt es eine Aufnahme von ihr mit dem wunderschönen Wiegenlied (Berceuse). In ihrem akustischen Vermächtnis hören wir eine wunderschöne, hervorragend geführte Stimme mit tadellosem Legato, sehr geschmackvoll und mit einer, für einen Mezzosopran, erstaunlichen Höhe. Gott sei Dank haben wir diese Aufnahmen, die sie fast alle mit ihrem Ehemann, dem Dirigenten Maurice Bastin, eingespielt hat. Es ist erstaunlich, das sie mit dieser Stimme keine größere Karriere gemacht hat, aber meines Wissens hat sie zwar an anderen Opernhäusern in Belgien gastiert, aber nie über die Landesgrenzen hinaus. 

Hörbeispiel: Livine Mertens singt „Berceuse“ von August de Boeck:



Gelobt wird im übrigen auch ihre leidenschaftliche Darstellung auf der Bühne, und sie scheint einen unglaublichen Humor gehabt zu haben, den sie vor allem in ihren zahlreichen Operettenpartien ausleben konnte. Berühmt war sie für ihre Großherzogin in „La Grande-Duchesse de Gerolstein“ von Jaques Offenbach, von der Ausschnitte auf Tonträger festgehalten wurden. 

Dann begann der Zweite Weltkrieg. Das Deutsche Reich überfiel Belgien. Levine Mertens wollte den Einmarsch der deutschen Truppen nicht einfach so widerstandslos hinnehmen und ließ sich vom belgischen Geheimdienst als Agentin anwerben. Von 1940 bis 1944 arbeitete sie unter großer Gefahr bei „Service Athos“, einer „Operation“ des Geheimdienstes, bis sie 1944 von der Gestapo aufgedeckt und inhaftiert wurde. Einige Monate verbrachte Livine Mertens in Haft. 

Ob es an den körperlichen oder seelischen Verletzungen, die eine solche Haft mit sich bringt, gelegen haben mag, mit dem Singen war es vorbei. Sie versuchte es noch einmal in der Spielzeit 1945/1946 an der Oper in Gent, aber es ging nicht. Mit nur 44 Jahren musste sie ihre Karriere frühzeitig beenden. Über ihr weiteres Leben ist nichts bekannt. Sie starb am 28. Oktober 1968 in Brüssel.

Hörbeispiel: Livene Mertens singt „Plaisirs suprèmes“ von Louis Hiller:



Ob es dem Vergessen oder ihrer geheimnisvollen Nebentätigkeit geschuldet ist, es sind viele,  besonders genaue, Lebensdaten schwer zu recherchieren. Über viele Dinge weiß man nur dass sie stattgefunden haben, aber nicht genau wann. Schon ihr genaues Geburtsdatum, als auch Details über die Eheschließung mit Maurice Bastin, ihre patriotischen Dienste ihrem Land gegenüber, sind für mich nicht zu ermitteln. Aber das macht es natürlich noch ein bisschen geheimnisvoller! Was wir aber haben sind unglaublich schöne Aufnahmen der Mezzosopranistin, die zu hören sich wirklich lohnen.

Hörbeispiel: Livine Mertens singt "Habanera" von Georges Bizet:



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