Ein vergessenes Theater in Stuttgart: Apollotheater, Residenztheater, Deutsches Theater

„Vornehmstes und schönstes Varieté- und Spezialitätentheater Stuttgarts“ 

– Apollotheater, Residenztheater, Deutsches Theater in Stuttgart – von der Unterhaltungsbühne zur ernsthaften Sprechbühne – 

von Klaus J. Loderer


Mit dem Apollotheater werden Stuttgarter heutzutage das Stage Apollo-Theater assoziieren, eines der beiden Musicaltheater in Möhringen. Diesen Theaternamen gab es aber in Stuttgart schon früher. Wobei der Name Apollotheater nur kurz existierte. Das Theater war länger als Residenztheater bekannt und wurde schließlich zum Deutschen Theater. Nach nicht einmal 25 Jahren legte sich der Schleier der Geschichte über dieses Stuttgarter Theater.

Anfang als Unterhaltungstheater

Richard Zanker erzählt in seinem Buch „Geliebtes altes Stuttgart“ vom Apollotheater und einem Preisausschreiben „Wer ist Frau Luna?“ als Werbung für Paul Linckes Operette, das zu einen riesigen Ansturm auf das Theater führte.  „Vornehmstes und schönstes Varieté- und Spezialitätentheater Stuttgarts. Größtes Vergnügungs-Etablissement der Residenz“ – so wurde das Apollotheater in Stuttgart beworben. Im Stuttgarter Adressbuch von 1901 ist ein Bestuhlungsplan abgebildet. Dieser ist sehr anschaulich als perspektivische Innenansicht mit Blick von der Bühne gezeichnet. Schnell fällt die Ähnlichkeit mit dem Friedrichsbautheater auf, das allerdings erst später entstanden ist. Das Apollotheater diente wohl als Vorbild für das Friedrichsbautheater. Während im Friedrichsbautheater sechs Tischreihen parallel standen, waren es im Apollotheater zehn Tischreihen im Hauptsaal, dazu kamen noch die Tische im sogenannten zweiten Parkett, einem seitlichen Bereich unter dem Balkon. Das flache Parkett besaß also keine Sperrsitzbestuhlung wie etwa das Hoftheater, sondern war variabel mit Tischen und Stühlen bestuhlt. Daran kann man erkennen, dass während der Vorstellungen bewirtet wurde. Die Werbung führt auch dazu an: hochfeines Restaurant, reingehaltene offene und Flaschenweine, Ausschank von Münchener und einheimischem Bier“. Im sich auf drei Seiten um den Saal herumziehenden Balkon gab es seitlich Logen und im mittleren Bereich sog. Balkon-Fauteuils und dahin weitere Tische. Außerdem gab es eine Galerie mit Bänken. Insgesamt soll das Apollotheater 1000 Plätze gehabt haben.


Der Zuschauerraum des 1898 eröffneten Apollotheaters in Stuttgart – Sitzplan (Adreß- und Geschäfts-Handbuch der Könige. Haupt- und Residenzstadt Stuttgart 1901)

Die Eintrittspreise waren nach Sicht bzw. nach Prestige gestaffelt. Die Sitze mit der besten Sicht waren die vier Sitzreihen in der Mitte des Balkons, die Balkon-Fauteuils genannt wurden (im Sitzplan leicht falsch geschrieben). Diese Plätze kosteten zwei Mark. Teurer waren mit fünf Mark Plätze in den Logen. Der Blick auf die Bühne war zwar schlechter – aber das Prestige war höher. Familien konnten Logen für einen Pauschalpreis von zehn Mark bekommen. Im ersten Rang gab es seitlich offene Logen. Und es gab noch die besonders hervorgehobenen Logen im Proszenium. Als geschlossene Logen und mit Baldachinbekrönung hatten diese Logen im ersten Rang zu dieser Zeit das höchste Prestige. Der Blick auf das Bühnenbild war zwar problematisch, aber fast das gesamte Publikum sah, wer in der Loge saß. Wobei es eben auch möglich war, ungesehen in der Tiefe der Loge zu bleiben. Plätze an den Tischen im Parkett und im Balkon kosteten 1,50 Mark. Billiger waren mit einer Mark die Plätze im sogenannten zweiten Parkett. Allerdings dürfte der Blick aus diesen Seitenschiffen sehr eingeschränkt gewesen sein. Noch billiger waren die Eintrittskarten für die Galerie, die nur 50 Pfennige kosteten. Diese Beträge sagen nun wenig aus. Vergleichen wir doch einmal die Preise mit jenen des Hoftheaters. Bei einer normalen Vorstellung reichte dort die Spanne von 50 Pfennigen bis sechs Mark. 50 Pfennige kostete ein Sitz auf der Seite der vierten Galerie, von wo aus man vermutlich nichts gesehen hat. Die Sperrsitze im Parkett kosteten von 3,20 Mark bis 4,50 Mark. Selbst ein Stehplatz kostete 1,50 Mark. Die teuersten Plätze waren mit je sechs Mark in der Fremdenloge, wie die große Loge in der Mitte der ersten Galerie genannt wurde. Die Proszeniumslogen des Hoftheaters gingen nicht in den Verkauf, da sie für das königliche Haus reserviert waren. Auch hierin sieht man das besondere Prestige dieser Logen. Mit fünf Mark war ein Logensitz im ersten Rang in der gleichen Preisklasse wie im Apollotheater. Ansonsten waren die Eintrittspreise im Apollotheater niedriger. Die Nachmittagsvorstellungen an Sonn- und Feiertagen waren als Volksvorstellungen (ebenso wie im Hoftheater) ermäßigt. Außerdem gab es ab 21.30 Uhr verbilligte Eintrittskarten, dafür sah man nur noch die letzte Stunde der Vorstellung.

 

Wir erfahren aus der Abbildung im Adressbuch auch, dass die Vorstellungen im Apollotheater täglich um 20 Uhr begannen und bis 22.30 Uhr dauerten. An Sonn- und Feiertagen gab es Volksvorstellungen um 16 Uhr. Bespielt wurde das Theater am Anfang nur im Sommer. Es war wohl nicht heizbar. Die Saison dauerte vom 3. Juni bis zum 26. August.

 

Das Theater machte auch gleich auf die öffentlichen Verkehrsmittel aufmerksam.  „Vom Schloßplatz aus mit der Strassenbahn Strecke Marienplatz in 8 Minuten zu erreichen. Nach Schluss der Vorstellung stehen dem P.T. Publikum die Wagen der Strassenbahn nach allen Richtungen in genügender Anzahl zur Verfügung.“ Damals kurvten zahlreiche Straßenbahnlinien durch die Straßen der Innenstadt und so kam man vom Schlossplatz direkt mit der Straßenbahn zum Marienplatz, was heute übrigens nicht mehr möglich ist. Heute muss man am Charlottenplatz umsteigen. Die Gesamtfahrzeit beträgt heute laut SSB-Angaben theoretisch sieben Minuten, sofern man am Charlottenplatz schnell genug die Treppe hinabgerannt ist, um den Anschlusszug zu erwischen. Ist der Zug verpasst, fährt erst zehn Minuten später der nächste. Da man allerdings erst einmal in die Tiefen der U-Bahn hinunter und am Marienplatz wieder hinaufsteigen muss, dauert es heute sogar länger.


Der heutige Leser mag im Text über „P.T. Publikum“ gestolpert sein. Diese Formulierung fiel mir vor Jahren erstmals auf einem Schild im Café Diglas in Wien auf. In Vollversion hat es die Bedeutungen „Pleno titulo“ (mit vollem Titel) oder „praemisso titulo“ (mit vorausgeschicktem Titel), abgekürzt „p.t.“, und wurde verwendet, wenn man bei Gruppen die eventuellen Titel nicht einzeln aufzählen konnte.

Ein Theater in der Heusteigstraße

Das Apollotheater befand sich in der Nähe des Marienplatzes in einem von der Heusteigstraße, der Lehenstraße, der Filderstraße und der Strohbergstraße umgrenzten Baublock. Die Geschichte geht zurück auf ein weit außerhalb der Stadt gelegenes Gasthaus bei der Ziegelhütte am Fuß der Weinsteige, womit natürlich die alte Weinsteige gemeint ist. 1713 wurde hier für einige Jahre eine Quarantänestation eingerichtet, die im Volksmund „Sieh Dich für“ genannt wurde. 1742 erhielt das Gasthaus den Namen „zur goldenen Traube“. 1845 erwarb der Brauer Paul Kolb das Anwesen, das später zur nach ihm benannten Kolbstraße Nr. 14 wurde, und richtete eine Bierbrauerei ein. Auch das Gebäude Nr. 2 gehörte Kolb. Auf dem Grundstück Heusteigstraße 105 errichtete er einen Keller und ein Magazingebäude. 1894 war Gottlieb Gottschalk Wirt der Gaststätte. Nach Kolbs Tod übernahm Ernst Wulle 1897 die Brauerei Kolb und erwarb das Gebäude Kolbstr. 2. Es war der Beginn einer ganzen Reihe von Brauereiübernahmen durch Wulle. Die Malzfabrik Dachau erwarb das Gebäude Kolbstr. 14. Heinrich Mayer, der in der Filderstr. 34 wohnte, war neuer Eigentümer des Anwesens Heusteigstr. 105. Er ließ 1898 ein Theatergebäude errichten, das er Apollotheater nannte. Heinrich Mayer (1850-1911) war 1886 Mitbegründer der Neuen Stuttgarter Straßenbahngesellschaft, die später mit der Stuttgarter-Pferde-Eisenbahngesellschaft zur Stuttgarter Straßenbahn AG zusammenging, Gründer der Glashüttenwerke Adlerhütten und 1899 Gründer der Neckarwerke Elektrizitätsversorgung AG

Der Marienplatz

Der Marienplatz sah um 1900 noch etwas anders aus als heute. Mehrere Straßen trafen hier zusammen. Verschiedene Straßenbahnlinien überquerten den Platz, da sich an der Ecke Hauptstätter Straße und Filderstraße ein Straßenbahndepot befand. Das markanteste Gebäude am Platz war der Zirkus. Dieses große feststehende Zirkusgebäude, 1892 nach Plänen des Hofwerksmeisters Albert Hangleiter errichtet, wurde 1916 abgerissen. Die Zahnradbahn durchquerte den Platz noch nicht, sie begann in einem eigenen Bahnhofsgebäude, das heute als Theater „Rampe“ dient. Auch der dominante Kaiserbau existierte noch nicht. 1912 wurde der Kaiserbau errichtet mit einem damals modernen Automatencafé.

Die Architektur des Theaters

Die Stuttgarter Architekten Schmid & Burkhardt, die einige Wohngebäude im Stil der Neorenaissance planten, bauten das bestehende Magazingebäude um. Neu entstand der Portalvorbau mit Dreiecksgiebel und zwei Ecktürmen für die Treppenhäuser. Architekturdekorationen wie Pilaster und Gesimse sorgten für eine repräsentative Wirkung. Motive wie der Kopf des antiken Gottes Apollo und die Lyra wiesen auf die Nutzung als Musentempel hin. Ein großes Bogenmotiv sollte wohl an ein Thermenfenster erinnern, war aber recht kleinteilig in Fensterchen unterteilt. Zwei geschwungene Treppenläufe führten als großzügige Freitreppe zum Haupteingang, den ein weit auskragendes Vordach in der Form eines Baldachins überspannte. Dem Theater vorgelagert war ein begrünter Außenbereich. Die Torpfosten an der Heusteigstraße waren von Köpfen nach den Vorbildern antiker Theatermasken bekrönt. Auch im Saal gab es dekorative Elemente, die auf die Funktion als Theater hinwiesen. Auf den Brüstungen des Balkons waren Palmzweige und Musikinstrumente (entweder gemalt oder in Stuck) zu sehen. Unter den Fenstern die im oberen Bereich der Seitenwände Tageslicht in den Saal ließen waren weitere dekorative Motive mit Masken. Karyatiden trugen die Gewölbeansätze. Stark ornamentiert waren die Stichkappen im flachen Tonnengewölbe, das in der Mitte mit einem großen Rundgemälde und zwei kleineren Bildmedaillons geschmückt war. Besonders hervorgehoben war der Proszeniumsbereich als zur Bühne überleitendes Raumelement. Die sogenannten Proszeniumslogen, Elemente aus dem traditionellen Theaterbau, die dem Saal eine gewisse Seriosität und Eleganz geben und ihn von einfachen Unterhaltungstheatern abheben sollten, sind noch einem besonders betont. Die Brüstung schwingt vor. Baldachine mit Halbkuppel, an denen ein stark geraffter Vorhang angebracht ist, zeichnet diese Logen noch einmal aus. Das Theater sollte vorbereitet sein für Besucher aus wichtigen Familien oder gar aus dem Königshaus. Abgesehen davon, dass zu dieser Zeit Proszeniumslogen einfach dazugehörten, wenn man als Theater etwas auf sich hielt.


Historische Fotografie des Residenztheaters in Stuttgart, wie das Apollotheater ab 1901 hieß

Das Apollotheater wurde am 1. Dezember 1898 eröffnet. Dass in diesem Jahr das Reichshallentheater in der Karlstraße, das seither Varietéprogramm anbot, geschlossen wurde, war sicherlich kein schlechter Ausgangspunkt. Das Adressbuch von 1900 führte unter der Heusteigstr. 105 Julius Grauaug als Wirt und Joseph Grauaug als Comptoirist an. Julius Grauaug wurde dann als Theaterdirektor geführt. Auch der Bruder Ludwig Grauaug soll am Apollotheater gewirkt haben. Er wechselte kurz darauf als Direktor an das neu eröffnete  Friedrichsbautheater, mit dem eine große Konkurrenz erwuchs. Die einer Wiener Theaterfamilie entstammenden Grauaugs waren zuvor am Apollotheater in Ulm gewesen. Die Ära Grauaug blieb aber im Apollotheater nur kurz. Julius Grauaug ging 1902 an das Korsotheater in Zürich.

Anspruchsvolles Schauspiel im Residenztheater

1901 wurde das Apollotheater nach dem Auslaufen der Sommerspielzeit einen Monat lang umgebaut und eröffnete am 6. Oktober 1901 als Residenztheater. Aus dem Adressbuch von 1902 erfährt man, dass Viktor des Campos die Restauration betrieb. Theaterdirektor war nun Theodor Brandt. Er war den Stuttgartern schon durch seine avantgardistischen Aufführungen im Kurtheater in Berg bekannt. Hinter dem Pseudonym verbarg sich der in Wien geborene Theodor Köstlin (1855-1939), der als Schauspieler bei Heinrich Laube im Wiener Stadttheater und am Berliner Residenztheater tätig war. Die außerdem im Adressbuch erwähnte Schauspielerwitwe Klara Schüle war Brandts Schwiegermutter. Im insgesamt etwa zwanzigköpfigen Ensemble spielten u.a. Maria Koppenhöfer, Fritz Wisten, Brandts Frau Helene Schüle-Brandt und Brandts Sohn Karl Köstlin.

 

Im Neuen Theater-Almanach von 1902 sind die in der ersten Spielzeit im Residenztheater aufgeführten Stücke aufgelistet: Rosenmontag, Das historisches Schloss, Fee Caprice, Champerays Leiden, Die größte Sünde, Coralie u. Cie, Glück (La Veine), Japanische Base (M’amour), Herr Bankdirektor (La bourse ou la vie), Braver Richter (Le bon juge), Fräulein von der Post, Mademoiselle X, Wohlthäter, Der ewige Krieg, Vater, Rausch, Ostern, Moins cing. Gießbach (Le Torrent), Der gemütlicher Kommissar, Teremtete, Georgette, Ehrenwort. Darunter sind zahlreiche französische Stücke.


Das Profil des Theaters hatte sich also völlig gewandelt. Nicht mehr Unterhaltungstheater und Revuen standen auf dem Spielplan sondern anspruchsvolles Schauspiel. Diese neue Ausrichtung war vielleicht eine Reaktion auf die Eröffnung des Friedrichsbautheaters, das musikalische Unterhaltung bot. Man kann wohl annehmen, dass mit dem Einzug des Sprechtheaters die Bewirtung aus dem Saal herausgenommen wurde. Brandt führte für einige Spielzeiten den ganzjährigen Spielbetrieb ein.

 

Brandt ergänzte seinen Spielplan auch mit Gastspielen. Fast in jeder Spielzeit trat die bekannte Schaupspielerin Louise Dumont auf. Gäste waren 1902/1903 Schauspieler wie Adalbert Matkowsky und Georg Engels. Nuscha Butze, die erste Theaterdirektorin Berlins, kam mit dem Ensemble des Berliner Neuen Theaters. Auch die japanische Schauspielerin und Tänzerin Sada Yacco (Kawakami Sadayakko) trat in Stuttgart auf. Als Neuheit kam in der Spielzeit 1902/1903 das 1901 in Berlin uraufgeführte Schauspiel „Alt-Heidelberg“ von Wilhelm Meyer-Förster. 1903 stellte man um auf eine Saison vom 1. September 1903 bis 31. Mai 1904. Als Regisseur war jetzt der später durch den Film „Frauenarzt Dr. Praetorius“ bekannte Schauspieler Eugen Dumont im Theater. 1904/1905 gastierten u.a. Joseph Kainz und Isadora Duncan. Als Neuheit kam Wedekinds „Erdgeist“.


Aufführung des Schauspiels Alt-Heidelberg im Residenztheater in Stuttgart um 1902


Der französische Schwerpunkt wurde weitergeführt mit Gästen aus Frankreich, darunter dem Ensemble Baret aus Paris mit Mme. Cheivel, dem Schauspieler Corquelin ainé (eigentlich Benoît Constant Coquelin), der Opernsängerin Anna Judic (eigentlich Anne Damiens), der Sängerin und Schauspielerin Yvette Guilbert und der berühmten Sarah Bernard. 

 

1905 ging Brandt allerdings schon als Regisseur an das Wiener Burgtheater. Kurze Zeit waren Oskar Fuchs und Hans Zillich Theaterdirektoren. Beide Direktoren traten auch auf der Bühne auf. Mit im Ensemble war Zillichs Frau Else Marland. Zillich leitete auch das Sommertheater in Triberg im Schwarzwald. 1909 war er Schauspieler unter Max Reinhardt im Deutschen Theater in Berlin und 1911 am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg.

 

Das Residenztheater war dann etwa zwei Jahre geschlossen. Am 1. Oktober 1908 wurde das Theater unter neuer Leitung wiedereröffnet. Emma Briese-Samst trat als Pächterin auf. Ihr Mann Max Samst war Direktor. Erich Briese, Heinrich Samst und Lieschen Samst gehörten wohl auch zur Familie. Max Samst trat mit einem neuen Ensemble an. Er wohnte wie seine Vorgänger im Theater. Auch Schauspieler und technische Mitarbeiter wohnten immer wieder im Theater. Immerhin traten Frank Wedekind und Max Grube, der spätere Intendant des Meininger Theaters, als Gäste auf. 1909 entstand dem Residenztheater mit dem Stuttgarter Schauspielhaus (heute Altes Schauspielhaus) neue Konkurrenz. Samst versuchte das Publikum neben den ernsten Stücken mit Lustspielen und Schwänken zu locken, so etwa „Im Café Noblesse“ von Carl Schüler. 1911/1912 kam Wedekinds „Büchse der Pandora“.

 

Nach Mayers Tod um 1911 war seine Witwe Luise Mayer noch einige Zeit Eigentümerin. Im März 1912 hörte der Theaterbetrieb im Residenztheater auf. Das Adressbuch 1913 nennt noch den Schauspieler Karl Kahn und den Theatermeister August Alder als Bewohner. Allerdings trat das Ensemble des Residenztheaters nur noch bei Gastspielen auf. Die Samst-Truppe gastierte fünf Monate lang im Kölner Metropoltheater. Das Residenztheater selbst wurde zu einem Kino, betrieben durch die Kinematographen-Aktiengesellschaft Straßburg im Elsaß. Noch im Adressbuch 1914 werden Emma und Erich Briese als im Theater wohnende Schauspieler genannt. Im folgenden Jahr fehlt der Eintrag des Theaters. Auch der Neue Theater-Almanach von 1914 führt das Residenztheater nicht mehr. Es war wohl die veränderte Theatersituation in Stuttgart, die das Aus für das Residenztheater bedeutete. Denn mit der Eröffnung des Schauspielhauses 1909 und den neuen Hoftheatern 1912 war die Zahl der Theatersitzplätze wesentlich gestiegen. Gleichzeitig hatte sich das Angebot an Stücken erhöht. Allerdings blieb das Restaurant wohl geöffnet. Viktor de Campos war weiter als Betreiber der Restauration tätig. Neue Eigentümerin war 1915 die Württembergische Vereinsbank, die in der Friedrichstr. 46/48 ihren Sitz hatte.

Deutsches Theater

Erst nach dem Ersten Weltkrieg wurde das Theater am 30. November 1918 wiedereröffnet. Im Adressbuch 1919 findet man es unter der Heusteigstr. 105 nun als „Deutsches Theater“. Theaterdirektoren waren zu Beginn Ferdinand Skuhra und Theodor Köstlin. Ab 1920 war Roman Betz Gastronom, dann seine Witwe Josepha Betz. Im Adressbuch 1922 sind mehrere Mitglieder der Familie Skuhra genannt: Theaterdirektor Ferdinand Skuhra, die Schauspielerwitwe Auguste Skuhra und der Sekretär Rudolf Skuhra. 


Diese kurze Epoche der Stuttgarter Theatergeschichte ist völlig in Vergessenheit geraten, doch war sie für die Aufführung moderner Theaterstücke von großer Bedeutung. Wieder ist es Richard Zanker, der in seinem Buch „Geliebtes altes Stuttgart“ erzählt, dass ihm besonders dieses Theater ans Herz gewachsen sei. Er habe dort die Werke der Klassiker und moderne Stücke von Gerhart Hauptmann, Sudermann, Hartleben, Ibsen, Strindberg, Wedekind, Georg Kaiser kennengelernt. Der Schauspieler Ferdinand Skuhra, der 1903 am Theater in Esseg und ab 1904 am Residenztheater spielte, leitete mehrere Theater in seinem Leben. 1907 war er Direktor des Kleinen Schauspielhauses in Wien, von 1912 bis 1918 Intendant im Stadttheater Brandenburg, 1919 bis 1923 am Deutschen Theater in Stuttgart, 1924 bis 1927 Intendant des Stadttheaters Saarbrücken und 1927 bis 1932 Intendant des Theaters Trier. Später war er Intendant in Innsbruck. Theodor Köstlin oder Brandt war nach einer Tätigkeit als Regisseur am Hoftheater Weimar (1912 bis 1915) wieder nach Stuttgart zurückgekehrt und ab 1918 kurze Zeit am Deutschen Theater, bevor er als Intendant an das Theater in Mährisch-Ostrau wechselte. Er kam 1922 allerdings wieder nach Stuttgart zurück, wo er bei der Süddeutschen Rundfunk AG tätig war. Auch seine Frau Helene Brandt-Schüle und der Sohn Karl Köstlin waren wieder im Ensemble. Neu dabei war dessen Frau Emmi Sonnemann, die später Hermann Göring heiratete,


Der Stuttgarter Süden um den Marienplatz. Rechts unten sieht man das Apollotheater
(Adreß- und Geschäfts-Handbuch der Könige. Haupt- und Residenzstadt Stuttgart 1900) 


Der Spielplan des Deutschen Theaters bot unter Ferdinand Skuhra und Theodor Brandt anspruchsvolles Schauspiel. Das ergänzte die Stuttgarter Theaterlandschaft gut, denn das Stuttgarter Schauspielhaus (heute Altes Schauspielhaus) hatte in dieser Zeit einen Operettenschwerpunkt. Unterhaltung zeigte das Friedrichsbautheater. Das  Landestheater (das ehemalige Hoftheater und spätere Staatstheater) spielte Oper, Schauspiel und Ballett. Schon in Brandenburg war es Skuhra wichtig gewesen, dass auch Arbeiter das Theater besuchen konnten.

 

Der Spielplan war ambitioniert. Skuhra brachte viele  neue Stücke auf die Bühne. Ein Beispiel ist die Stuttgarter Erstaufführung des Schauspiels „Die Wandlung“ von Ernst Toller. Am 30. September 1919 im Theater „Die Tribüne“ in Berlin uraufgeführt, kam es am 27. Januar 1920 in Stuttgart heraus mit Fritz Wisten als Kriegsheimkehrer Friedrich in der Ausstattung von Willi Baumeister und der Inszenierung von Ferdinand Skuhra. Baumeister stattete auch Shakespeares „Macbeth“ aus. Stücke wie Wedekinds „Büchse der Pandora“ und Strindbergs „Fräulein Julie“ standen ebenso auf dem Spielplan.

 

Hier seien ein paar Kritiken angeführt. Der Staats-Anzeiger für Württemberg vom 11. März 1919 schrieb über die Premiere am 8. März „Mit dem seinerzeit im hiesigen Schauspielhaus zuerst gegebenen Jettchen Gebert hat das Deutsche Theater manchem eine angenehme Abwechslung geboten. Die Aufführung hatte Erfolg wenn es auch nicht allen Darstellern völlig gelang, sich in Ton und Art des altjüdisch-berlinerischen Hauses Gebert mit seinen östlichen Gästen vollständig hineinzuleben. Am meisten verstand das Frau Helene Brandt-Schüle mit der Wiedergabe von Riekchen Gebert und Herr Gilzinger mit der rührenden Komik des alten Eli Gebert. Meisterhaft wußte Herr Brandt den philosophisch fein gebildeten modernen Juden mit seiner weltschmerzlichen Resignation zu charakterisieren. Wohl gelungen war der kecke Judenjunge des Herrn M. Wittmann. Die liebreizende sonnige Gestalt Jettchens brachte Frau Sonnmann besonders in den Liebesszenen zu innigem Ausdruck. Im Anfang erschien uns ihr Spiel allerdings etwas zu steif. Herr [Erich] Rottacker ließ es bei seiner Verkörperung des Dr. Kößling an Temperament und Wärme fehlen. Der Ton, den Julius Jacoby aus Benschen hereinbringt, ist Herrn K. Köstlin wohl gelungen, wenn er vielleicht auch etwas zu laut war. Die übrigen Darsteller leisteten im ganzen Gutes. Die Regie arbeitete prompt und bot charakteristische Bilder.“ Es handelte sich um die Bühnenfassung des 1906 erschienenen Romans „Jettchen Gebert“ von Georg Hermann. Das Theater brachte auch die Fortsetzung „Henriette Jakoby“. Die beiden in der Biedermeierzeit in Berlin spielenden Romane wurden von der Kritik als „jüdische Buddenbrooks“ gefeiert und waren sehr populär. Außerdem war zu dieser Zeit „Die Schwestern und der Fremde“ von Bruno Frank, 1917 an den Kammerspielen München uraufgeführt, im Spielplan.


Der Staats-Anzeiger vom 11. März 1919 kündigte an: „Als nächste Neuheit gelangt „Der Sohn“ von Hasenclever, in dem der wiedergenesene Herr v. Oppen auftritt, zur Darstellung. Ferner sind Aufführungen von Hermann Sudermanns neuestem Lustspiel „Das höhere Leben“ und Georg Kaisers „Gas“, das bei seiner Berliner Aufführung in der Volksbühne am Bülowplatz einen großen und ungeteilten Beifall erhielt, vorgesehen.“

Musikalische Matineen am Sonntag

Zwischendurch gab es auch musikalische Programme. 1919 scheint eine musikalische Morgenunterhaltung eingeführt worden zu sein. So berichtete der Staats-Anzeiger 1919 über ein Konzert am Sonntagvormittag: „Für eine zweite Morgenfeier im Deutschen Theater hatte der Veranstalter dieser musikalischen Sonntagsunterhaltungen, Kapellmeister Max Lang, die Darbietung volkstümlicher Gesänge als Ziel ins Auge gefaßt. Die Vortragsfolge hatte in zwei Gruppen Lieder im Volkston von älteren Meistern (Mozart, Schubert, Franz, Schumann und F. Mendelssohn) und solche von lebenden Komponisten (J. Weismann, A. Mendelssohn, J. Haas und Wilh. Berger) ausgewählt. Josef Haas’ Kinderlieder seien zuerst herausgehoben; sie erheben sich durch ihre schlichte, wohlgetroffene Vertonung über den Durchschnitt. Auf Weismanns sympathisches und natürliches Kompositionstalent ist in drei Liedern zur prägnanten Ausprägung gekommen; es liegt Stimmung in jedem Stück, wie dies auch besonders von A. Mendelssohns kraftvollem Tanz unter der Linde gilt, einem richtigen musikalischen Feuerwerk mit ungarischem Tanzmusikeinschlag in der Begleitung. Auch eine Auswahl von Duetten wurde vorgetragen. Als Sängerinnen bewährten Fr. Bezler und Frl. Elben Feinsinn und gesunde Natürlichkeit im Vortrag. Mit der Begleitung der Gesänge stellte Max Lang seinen bedeutsamen Beitrag zum guten Gelingen der Morgenunterhaltung.“

 

Am 23. März 1919 traten zwei Sängerinnen in einer Matinee auf. Der Staats-Anzeigen vom 25. März berichtete: „Im Deutschen Theater stellten die Sängerinnen Emma Tester und Meta Diestel am Sonntag ihre Gesangskunst für eine Morgenunterhaltung zur Verfügung. Die Leitung durch Max Lang hatte mit diesen bewährten Künstlerinnen den Kunsterfolg im voraus sichergestellt, und so war die Beteiligung auch an diesem 3. Konzertmorgen sehr rege. Ein Brahmsprogramm kam mit Duetten und Sololiedern zur Durchführung. In der Auswahl waltete bei den Duetten eine glücklichere Hand als bei den Einzelliedern. Allzu Bekanntes wie es bei den Liederdarbietungen durch Frau Tester überwog, war in seinem Eindruck durch die naheliegenden Vergleiche mit gesanglich noch mehr vollendeten und in der Auffassung noch einheitlicher gestalteten Darbietungen gefährdet. Schönes Stimmmaterial reicht für Brahms oft jäh  in gegensätzliche Stimmungen hinüber gleitende Tonpoesien nicht zu. Von den reizenden Liedern im Volkston, die Fr. Diestel ausgewählt hatte, fand jedes seine abwechslungsreiche mit treffsicherer Stimmungszeichnung vornehm behandelte Darbietung. Wahl und Ausführung waren hier gleich wohlgelungen, der Vortrag innerlich beseelt und von eigenartigem Reiz in der Auffassung. Bei den Duetten kam es wertvoll zum Ausdruck, daß beide Sängerinnen künstlerisch wohl zusammengeübt sind: im Ausdruck und der inneren Beseelung des Ganzen schmiegten sich die Stimmen vorzüglich aneinander. Der Beifall der Zuhörerschaft forderte sich auch aus den Duetten eine Zugabe.“

Operettensommer

1920 gab es unter der Leitung von Georg Kober und Hugo Nillius eine Sommerspielzeit mit Operetten. Das Ensemble bestand aus Walter Diehl, Alfred Felden, Fritz Granat, Lothar Harthenberg, Hanns Könner, Heinrich Pehel, Oskar Spielmann, Anton Pohl, Karl Armin Thym, Gretl Diestel-Dollinger, Lilli Faiß-Tichler, Berth. Gräbner, Lucia John, Olga Nillius, Ida Roßdeutscher und Else Talmar. Edwin Schuhmacher und Moritz Taertsch leiteten als Kapellmeister das achtzehnköpfige Orchester. Der Chor bestand aus acht Herren und acht Damen.

 

Ab dem 19. Dezember 1920 wurde das Deutsche Theater von Ferdinand Skuhra als Volksbühne geführt. In dieser Spielzeit gab es einige Klassiker, darunter neben „Hamlet“, „Torquato Tasso“ und „Maria Magdalena“ die Verwechslungskomödie „Don Gil mit den grünen Hosen“ von Tirso de Molina. Als Neueinstudierung kam „Alt-Heidelberg“ wieder auf die Bühne. Außerdem gab es „Bunbury“ von Oscar Wilde. Moderne Stücke waren „Der, der die Maulschelle kriegt“ von Leonid Andreyev und „Der König der dunklen Kammer“ von Rabindranath Tagore.

 

Es war die Inflation, die dem Theater schließlich das Genick brach. Das Theater schloss 1922. Ab 1923 gehörte das Gebäude der Stuttgarter Ausstellungsgesellschaft. Gewerbliche Nutzungen folgte. Im Gebäude war um 1925 die Zigarettenfabrik Nafi-Nafi AG tätig, die schließlich auch Bankrott machte. In den 1930er-Jahren nutzte die Mechanische Trikotwarenfabrik Gebrüder Rothschild (die noch im Adressbuch 1938 genannt werden) die Räume. In den 1940er-Jahren war die Robert Bosch GmbH Eigentümerin. Schließlich gehörte das Anwesen der Stadt. Heute steht dort eine Wohnbebauung.

 


Weitere Stuttgarter Theater:


Über das Friedrichsbautheater in Stuttgart


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