Berliner Theatergeschichte: Nur kurz existierte die Oper im Nationaltheater am Weinbergsweg

Ein gescheitertes Volksopernexperiment

– Aus dem neuen Nationaltheater in Berlin wurde das Walhallatheater – 

von Klaus J. Loderer

 

Es waren die kleinen Törtchen, die mich vor ein paar Jahren in das Café Fleury am Weinbergsweg in Berlin lockten. Ich kehrte auf dem Weg zu einer Theatervorstellung im Prater in der Kastanienallee ein. Ich hatte mich zu Fuß vom Hackeschen Markt über die Rosenthaler Straße aufgemacht. Am Rosenthaler Platz zweigt der Weinbergsweg ab und führt leicht den Hang hinauf. Es ging mir wohl so wie etwa hundert Jahre zuvor dem Schriftsteller Alfred Döblin, der damals als Theaterkritiker unterwegs war. 1911 beklagte er sich in der von Herwarth Walden herausgegebenen Zeitschrift „Der Sturm“ über den weiten Weg zum Rosenthaler Tor. Er war 1911 aber nicht im Prater sondern ungefähr dort, wo ich im Theater saß. Genauer gesagt war er ein Haus weiter. Da ist heute ein Park, den es im Kaiserreich noch nicht gab. Sein Ausruf „Und so lebe der Weinbergsweg!“ bezog sich weniger auf die Straße, als auf ein Theater, das er dort besuchte. Am Weinbergsweg 18/19 stand damals das Walhallatheater. Man erfährt leider nicht, welches Stück sich Döblin angesehen hat, er nutzte die Spalte in der Zeitschrift eher für allgemeine Bemerkungen über das Kritikerwesen und das moderne Theater. Aber er war der Meinung, dass es etwas werden könnte mit dem Walhallatheater. 


Das Walhallatheater führte diesen Namen da damals erst seit ein paar Jahren, nachdem der Versuch einer privaten Volksoper nach gerade einer Spielzeit gescheitert war. Aber die Geschichte des Theaters reichte weiter zurück. Um die Geschichte des Theaters zu verstehen, ist es allerdings nötig die Standorte der angeblichen Vorgängertheater genauer zu untersuchen. Es zeigt sich schnell, dass es im Weinbergsweg mindestens drei verschiedene Theater gab.


Das Walhalla-Theater im Weinbergsweg wurde 1904 als Nationaltheater eröffnet und als privates Opernhaus bespielt

Berliner Leben 1904, 9


Berliner Circus-Theater


Der Name Weinbergsweg weist darauf hin, dass der Hügel bis ins 19. Jahrhundert tatsächlich für Weinanbau genutzt wurde. Die Weinschänken wurden schon bald ausgebaut. Im Bereich des Weinbergwegs besaß der Gutsbesitzer E. Wollank zahlreiche Grundstücke. 1852 entstand in der Gegend das nur drei Jahre existierende Berliner Circus-Theater, das allerdings nicht genau lokalisierbar ist. Ob man es als Vorgänger des Walhalla-Theaters bezeichnen kann, sei einmal dahingestellt.


Vorstädtisches Theater


Den einzigen Hinweis auf ein Theater im Weinbergsweg in der Mitte des 19. Jahrhunderts liefert das Adressbuch von 1852 bei der Hausnummer 10. Dort findet man neben dem Tischler Belke, den Schutzmännern Brandt und Müller den Theaterunternehmer Gräbert als Hauseigentümer und die Schauspieler Greenberg, Stockfisch und Stürmer. Dieses seit 1849 existierende Vorstädtische Theater befand sich im Abschnitt zwischen der Zehdenicker und der Fehrbelliner Straße. Es befand sich also schräg gegenüber des viel später entstehenden Walhallatheaters. 


Louis Gräbert erwarb 1840 die dort seit 1892 existierende Gartenwirtschaft. 1841 ließ er einen Saalbau errichten, den er der Thalia-Gesellschaft zur Verfügung für Theateraufführungen zur Verfügung stellte. Auch die Laetitia, deren Vorstand er war, nutzte den Saal. 1848 erhielt Gräbert die Theaterkonzession. Er wird manchmal abgetan als Wirt, der nebenbei als Laie geschauspielert hat. Der Blick in den Bühnen-Almanach von 1854 zeigt allerdings ein gar nicht so kleines Ensemble und ein beachtliches Stückerepertoire. Man spielte Oper, Schau- und Lustspiel. Als Volkstheater scheint es eine wichtige Bedeutung gehabt zu haben. Der Schauspielerbestand war erstaunlich beständig. Viele Jahre spielte das Ehepaar von Pigage im Ensemble. Am Anfang bestand das Orchester aus Posaune, Cello, Flöte, erster und zweiter Klarinette, erster und zweiter Geige, Trommel, Pauke, Horn und Trompete. Von den aufgeführten Stücken ist einzig Ferdinand Raimunds „Der Alpenkönig und Menschenfeind“ heute noch geläufig. Nach Gräberts Tod führte seine Witwe das Theater weiter. Der Bühnenalmanach von 1856 nennt als Eigentümerin die Witwe Julie Gräbert. F. Pickenbach stand ihr als Direktor viele Jahre zur Seite. Schauspiele, Dramen, Lustspiele und Possen standen auf dem Spielplan. Das Orchester war inzwischen auf 16 Musiker erweitert. Für größere Vaudevilles wurde es noch verstärkt. Etwa 1870 starb Julie Gräbert. Der Theaterbetrieb wurde wohl unterbrochen, denn die folgenden Bände des Adressbuchs erwähnen das Theater nicht mehr. Im Adressbuch 1872 liest man unter Nummer 11a von einer Baustelle. Unter der Hausnummer 11c entstand ein jüdisches Waisenhaus. Erst der Band 1873 verzeichnet unter den Hausnummern 10 bis 11a wieder das dem Gutsbesitzer Breetz gehörende Vorstädtische Theater. Die Leitung hatte für einige Jahre Max Fritze. Der Bühnen-Almanach von 1877 nennt Eugen Bandow als Direktor.  Im September 1877 fand eine Renovierung statt. Am 30. September 1877 wurde das Theater mit „So sind sie alle“ wiedereröffnet. Das Theater gehörte nun einem Amtmann Jäger. Direktor war N. J. Anders (Bühnen-Almanach 1878). Um 1880 wurde es in Germania-Theater umbenannt und stand dann unter der Leitung von Direktor Smith-Schrader. Dann leitete ein Direktor Pröstel das Theater, der bisher als Restaurateur die Gaststätte betrieb. 1883 erwähnt das Adressbuch nur noch die Gaststätte. Das Theater wurde wohl aufgegeben. Nach dem Tod des bisherigen Eigentümers, des Rentiers Jäger, verkaufte der Erbe, Brauereibesitzer Jäger, die Gebäude. Bauunternehmer Storbek ließ die Gebäude abreisen und durch neue Wohnbauten ersetzen. Die Zehdenicker Straße wurde übrigens nicht nach dem Abbruch des Theaters angelegt. Sie wurde schon in den 1870er-Jahren an der Stelle der Hausnummer 9 als Durchbruch zwischen Weinbergsweg und Lothringer Straße angelegt.


Stadtplanausschnitt mit dem Nationaltheater und dem Germaniatheater (vormals Vorstädtisches Theater)
Situationsplan von Berlin 1882


Nationaltheater


1870 eröffnete ein weiteres Theater am Weinbergsweg. Auch wenn man sich heute unter Nationaltheater eine bedeutende Kultureinrichtung vorstellt, handelte es sich bei diesem nur um ein privates Theater. Das Theater mit der Adresse Weinbergsweg 6 und 7 entstand etwas unterhalb des Vorstädtischen Theater, von diesem getrennt durch die Zehdenicker Straße. Bisher wurde angenommen, es handle sich beim Nationaltheater um einen Vorgänger des Walhallatheaters, doch dieses stand auf der Straßenseite gegenüber. Der erste Direktor des Nationaltheaters war Louis von Selar. Im Bühnen-Almanach von 1871 erfährt man von einem Orchester mit 34 Musikern, Chor und Ballett. Die Zahl der Musiker war wohl ein Setzfehler, denn der nächste Jahrgang nennt nur noch 24 Musiker.


1870 begann man mit Oper. Die Aufführung von Rossinis Oper „Wilhelm Tell“ am Sonntag, den 9. Oktober war wohl die Eröffnungsvorstellung des Theaters, war ihr doch ein Prolog vorangestellt. Am Montag folgte das Schauspiel mit Ballett „Das bemooste Haupt oder Der lange Israël“, heute vergessen, damals ein 1839 uraufgeführtes Erfolgsstück von Roderick Benedix. Verdis „Der Troubadour“ mit Herrn Zellmann als Manrico, Rud. Rudischkofsky als Leonora und Frl. Spanner als Azucena am 13. Oktober war eine Wohltätigkeitsveranstaltung für den König-Wilhelm-Verein. Am 15. Oktober spielte man Mozarts „Figaros Hochzeit“. Diese Aufführungen erfolgten natürlich in deutscher Sprache. Im November gab man das populäre Zaubermärchen „Der Bauer als Millionär“ von Ferdinand Raimund. Am 3. Dezember war die Premiere von „Lieb Vaterland kannst ruhig sein, Lebensbild mit Gesang und Tanz in drei Akten und sechs Bildern“. Es könnte die Uraufführung des Stücks gewesen sein, dessen Titel eine Zeile der „Wacht am Rhein“ zitiert – vermutlich aus aktuellem Anlass ein sog. vaterländisches Stück, da Preußen gerade mitten im deutsch-französischen Krieg war. Der angegebene Autor Krüsemann ist das Pseudonym des Dramatikers und Theaterdirektors Georg Kruse (1830-1908), der 1869 das Thaliatheater in Breslau gründete und übrigens 1882 Direktor des Nationaltheaters wurde. 


Am 28. August 1871 wurde die Saison unter dem neuen Direktor Friedrich Gumtau mit Goethes „Egmont“ eröffnet. Der Bühnen-Almanach von 1872 nennt den Buchdruckereibesitzer Möser als Eigentümer. Robert Buchholz führte als Direktor einen beachtlichen Klassiker-Spielplan auf. Um 1880 war Ernst Carl Ferdinand von Hell Direktor.


Anzeige zur Eröffnung des Nationaltheaters

Vossische Zeitung 9.10.1870


Das Nationaltheater brennt


1883 diskutierten die Behörden in Berlin darüber, ob es möglich wäre die Theater an den Kosten für das Feuerlöschwesen zu beteiligen. Die Stadt Berlin drängte auf eine Kostenbeteiligung. Das Polizeipräsidium fand das kaum möglich, „da der größte Theil derselben ja, mit Ausnahme der königlichen Theater, fast alle schon ohnehin seit längerer Zeit sich in großer pekuniärer Bedrängnis befänden und die Aufbürdung neuer erheblicher Kosten dieselben in ihrer Existenz bedrohen würde.“ (Vossische Zeitung 5.4.1883). Damals schwebte auch die Einführung einer Steuer für Lustbarkeiten. Theater zeigten in ihren Aufführungen nicht nur dramatischen Feuerzauber, Theater brannten auch immer wieder ab. Am 4. April brannte das Nationaltheater. Die Abendausgabe der Vossischen Zeitung vermerkte kurz: „Um 12 ½ Uhr wurde im National-Theater, Weinbergsweg, Feuer entdeckt, welches bereits im Innern derart um sich gegriffen hatte, daß um 1 ¼ Uhr das Gebäude gänzlich in Flammen stand. An Rettung war allem Anschein nach nicht mehr zu denken.“

Ausführlich berichtete die Vossische Zeitung am 5. April 1883 in der Morgenausgabe: „Die Probe zu dem neuen Sensationsstück „Die Geheimnisse von New-York“ war gestern Vormittag 11 ½ Uhr beendigt. Sämmtliche Schauspieler und Schauspielerinnen hatten den Bühnenraum verlassen, während der Theatermeister kurz darauf den Hauptgashahn abschloß und den eisernen Vorhang herunter ließ. Dann entfernte auch er sich, nur noch einen Arbeiter der Kühlewein’schen Imprägnirungsanstalt in einem Nebenraum zurücklassend, der dort neue Decorations-Gegenstände mit Imprägnirungssubstanz überziehen sollte. Kurz nach 12 Uhr hatte auch dieser Arbeiter das Theater verlassen, so daß sich Niemand mehr im Bühnenraum befand, als plötzlich der bei dem Theater-Restaurateur Vogel in Condition stehende Hausdiener August Nothnagel vom Hofe aus einen auffälligen Qualm aus einem Theil des Daches, der sich gerade über dem Schnürboden befand, dringen sah. Sofort eilte N. zu seinem in der Theaterrestauration befindlichen Chef, der seinerseits sich sogleich in das eigentliche Theater begab, beim Eintritt aber sofort einen hellen Feuerschein auf dem Bühnenraum durch den eisernen Vorhang hindurch gewahr wurde. Unverzüglich eilte Herr Vogel in das Theaterbüreau, in dem sich außer dem Secretair noch die Damen Frl. Bertha von Lücek, Frl. Eva Kraft und Frl. Paulo befanden, um dort die Ankunft des Directors Herrn von Donath zu erwarten, und benachrichtigte die Anwesenden von der Gefahr, in der sie schwebten. Alle vier versuchten sich durch den erstickenden Qualm, der bereits den Gang zwischen dem Büreau und dem Bühnenraum angefüllt hatte, auf die Bühne zu begeben, mußten aber davon abstehen, da ihnen beim Oeffnen der Thür zum Bühnenraum bereits die hellen Flammen entgegenschlugen. Mit Mühe vermochten sie noch in das Freie zu gelangen, während Hr. Vogel sofort in das Foyer eilte, um mittelst des öffentlichen Feuermelders die Feuerwehr zu alarmiren. Er traf dort den Direktor Kruse, den Inspector Flug, den Regisseur Schäfer und den Schauspieler Burwig, die noch keine Ahnung von dem Feuer hatten. Sofort ließ der Director durch den Feuermelder die Feuerwehr alarmiren, während Frl. Paulo sich in deine Droschke warf, um den Director zu benachrichtigen. Indessen eilten die Herren in die Garderobenräume, um zu retten was noch zu retten war. Bereits nach 2 Minuten hatte, wie die genanten Zeugen versichern, das Feuer bei dem vielen vorhandenen leicht brennbaren Material derart um sich gegriffen, daß das ganze Dach in hellen Flammen stand. Ein frischer Wind fachte das entfesselte Element immer mehr an, so daß an ein Löschen mittelst der im Theater vorhandenen Löschvorrichtungen nicht zu denken war. Beim Eintreffen der ersten Spritzen hatte das Feuer durch den eisernen Vorhang hindurch auch den Zuschauerraum in Brand gesetzt und zunächst die königliche Loge ergriffen. Der den Löschangriff persönlich kommandirende Herr Branddirektor Major Witte ließ sofort 4 Dampfspritzen und 6 große Handdruckspritzen von der Haupteinfahrt und vom Garten her sowohl zur Löschung des Feuers wie zur Sicherung der durch Flugfeuer in höchstem Maße gefährdeten Nachbargrundstücke in Aktion treten, die gewaltige Wassermassen in das Feuermeer schleuderten. Trotzdem schien dasselbe an Gewalt eher zu-, statt abzunehmen. Krachend stürzte das brennende Dach mit dem weißglühend gewordenen Kronleuchter in das Parquet, alles unter sich Befindliche zertrümmernd. Nach 1½stündiger schwerer Arbeit, etwa um 2¼ Uhr Nachmittags, schien das Feuer auf die in Brand gefundenen Räume der eigentlichen Bühne, wie den Garderoben- und den Zuschauerraum beschränkt, so daß für einen Augenblick das Signal „Wasser halt“ gegeben werden konnte, um die weiteren Dispositionen zu treffen. Da plötzlich, um 2 ½ Uhr, erscholl von Neuem der Ruf „Feuer“. Der unter dem zum künstlichen Alpenglühen herbestellten Berg gelegene Oeconomieraum, über dem sich mehrere Kammern befanden, in denen der Requisiteur Gontard einige seiner werthvollen Requisiten aufbewahrte, hatte plötzlich von Neuem Feuer gefangen, das hier mit einer solchen Vehemenz um sich griff, daß eine daselbst angelegte Brandleiter mit in Brand gesetzt wurde, während sich die dort befindlichen Feuerleute in größter Lebensgefahr befanden. Es wurden sofort die Schläuche der Dampfspritzen dorthin dirigiert und nach wenigen Minuten die Flammen zum Ersticken gebracht. Inzwischen war in Vertretung unseres Polizei-Präsidenten Herr Regierungsrath von Heppe und Herr Polizei-Oberst von Herquet auf der Brandstelle erschienen, während der Kaiser durch seinen persönlichen Adjutanten über den Brand genauere Informationen einziehen ließ. Um 3 Uhr schien die Macht des Feuers an allen Punkten gebrochen, nachdem allerdings das ganze Innere des Theaters bis auf die Umfassungsmauern und die vorderen Theile des Gebäudes ausgebrannt war. Ueber die Entstehungsursache circulirten die mannigfaltigsten Gerüchte. Die Einen schoben die Entstehung einer Unvorsichtigkeit zu, die Anderen glaubten, daß das Feuer durch einen von der Theaterküche an dem Bühnenraum vorbeiführenden Schornstein entstanden, während andere sogar eine absichtliche Brandstiftung behaupteten. Welche von den Ansichten die richtige, läßt sich vorläufig auf noch nicht annähernd feststellen. Die Untersuchung ist eingeleitet und haben die Vernehmungen der Zeugen bereits begonnen. Von den betheiligten Feuerversicherungen ist bisher außer der städtischen Feuersocietät die Magdeburger Feuerversicherung mit 1500000 M ermittelt. Wie man hört, soll der größte Theil des Theaters bereits von oben genannter. Anstalt imprägnirt gewesen sein. Die Imprägnirungssubstanz scheint dem entfesselten Element ebenso wenig Widerstand geleistet zu haben, wie der bis zur Unkenntlichkeit verbrannte eiserne Vorhang, der sogar nicht einmal im Stande war, das Feuer von dem Zuschauerraum abzuhalten. Circa 100 Schauspieler, Schauspielerinnen und Theaterbeamte ec. Werden brodlos. – In Ergänzung obigen Berichts bringen wir aus anderen uns zugegangenen Referaten über den geschilderten Brand noch folgende Mittheilungen: Von den herbeigeilten Dampfspritzen wurden zwei gegen die Hauptfront des Theaters im Weinbergsweg postirt, die dritte nahm in der Zehdenicker Straße Aufstellung, um von hier aus über den Garten hinweg operiren zu können. Während es gelang, die angrenzenden Grundstücke, besonders einige sehr nahestehende Hintergebäude der Lothringer Straße vor jeder Gefahr zu schützen, war an eine Rettung des Theaters von vornherein nicht zu denken. Dasselbe war in sehr kurzer Zeit total ausgebrannt, nur die kahlen Wände ragen noch aus den Trümmern hervor. Einige Plätze im ersten Rang sind von den verzehrenden Flammen seltsamer Weise nicht berührt worden. Doch die rings um den Zuschauerraum führenden Gänge sind zum größten Theil zerstört, während die dicht daneben liegenden Restaurationsräuem vollständig unversehrt blieben. Die Löscharbeiten waren zum größten Theil um 3 Uhr beendet, wenngleich die in der Zehdenicker Straße aufgestellte Dampfspritze noch um 6 Uhr Abends in Thätigkeit war, um die nach dem Garten liegenden Räume, in denen es hier und da noch dampfte, abzulöschen. Vom Weinbergsweg aus gesehen, nimmt sich das Zerstörungswerk nicht so bedeutend aus, wie es in Wirklichkeit ist. Nur das vollständig zerstörte Dach und die darunter liegenden ausgebrannten Giebelfenster geben Zeugniß, wie das verheerende Element hier gewüthet. Die Gegen vor dem Rosenthaler Thor bot bis zum Abend ein lebhaftes Bild. Tausende umstanden die Eingänge zu den abgesperrten Straßen. Eine starke Polzeimacht zu Fuß und zu Pferde, unter Kommando des Polizeioberst Herquet, hatte für Aufrechterhaltung der Ordnung zu sorgen. Zahlreiche höhere Offiziere, unter ihnen der Kommandant von Berlin, General von Oppeln-Bronikowsky, und später im direkten Auftrag des Kaisers, Adjutant Major v. Brösigke, hatten sich auf der Brandstätte eingefunden und ließen sich durch Herrn Brandtdirector Witte eingehend Bericht erstatten. Um 6 ½ Uhr war noch ein großer Theil der Mannschaften mit Aufräumungsarbeiten beschäftigt, während die Dampfspritzen um diese Zeit die Brandstätte verließen. Schwer getroffen durch den Brand sind außer den Schauspielern und Schauspielerinnen und den Theaterarbeitern besonders die Mitglieder der Kapelle des National-Theaters, deren sämmtliche Noten und Instrumente ein Raub der Flammen geworden sind.“

 

Nach dem Brand wurden das Nationaltheater und das Eckhaus zur Zehdenicker Straße abgerissen. Das Adressbuch von 1885 führt die Nummern 6 und 8 als Neubau und die Nummer 7 als Rohbau an. Die Kaufmann Jacobsohn, Dekorationsmaler Dahms und Baumeister Probst gehörenden drei Gebäude waren höher und größer als die Vorgängerbauten. Es war die Zeit, in der sich die Dichte im Stadtviertel erhöhte. Mit Mietwohnungen war nun eine höhere Rendite zu erzielen. Der Name Nationaltheater wurde vom Ostendtheater (dem späteren Rose-Theater) in der Frankfurter Straße übernommen.


W.-Noack-Theater, Prater und Gebrüder-Richter-Theater


Man ist heute erstaunt, dass es am Weinbergsweg damals gleich zwei Theater gab. Eine Häufung von Theatern gab es nicht nur entlang der Friedrichstraße. Rechnet man die Varietébühnen im Umfeld mit dazu, war der Rosenthaler Platz ein regelrechtes Ausgehviertel. Gleich um die Ecke eröffnete am 16. September 1894 in der Brunnenstraße 16 das renovierte und mit elektrischer Beleuchtung versehene Theater von W. Noack, das immerhin 800 Personen aufnehmen konnte. Das Concordiatheater bestand ab 1892 in der Brunnenstr. 154. In der Verlängerung des Weinbergswegs, der Kastanienallee entstand 1862 der von Adolf und Louis Kalbo betriebene Prater, dessen Garten 5000 Personen aufnehmen konnte. Am 16. September 1906 wurde dort das Bürgerliche Schauspielhaus eröffnet. Am 13. November 1887 wurde in der Lothringerstraße 37 (heute Torstraße) das von Wilhelm Richter geleitete Gebrüder-Richter-Theater eröffnet, das 600 Zuschauer aufnehmen konnte, das später Casinotheater hieß.



Das Walhalla-Theater im Weinbergsweg wurde 1904 als Nationaltheater eröffnet


Das neue Nationaltheater – das größte Theater Berlins


Mehr als zwanzig Jahre lang existierte kein Theater am Weinbergsweg. Die Theatergeschichte am Weinbergsweg geht auf der anderen Straßenseite weiter und nun sind wir auch endlich beim Walhallatheater, das aber zuerst Nationaltheater hieß, was leicht für Verwirrung sorgen kann. Das neu errichtete Theater sollte eine Volksoper werden.

Die Möglichkeit zum Opernbesuch war um 1900 in der immer größer werdenden deutschen Hauptstadt gar nicht so einfach. Die kgl. Hofoper unter den Linden war teuer und hatte nur einen kleinen Zuschauerraum. Weitere Versuche privater Opernhäuser  wie Kroll oder das 1896 eröffneten Theater des Westens scheiterten üblicherweise an den hohen Kosten. Nach ein paar Jahren wandelte sich der Schwerpunkt Richtung Operette. Allerdings gab es immer wieder Operngastspiele in verschiedenen Theatern. Es war der ehemalige Leiter des Theater des Westens, Hugo Becker, der die Idee zu einem Opernhaus mit Aufführungen zu niedrigen Preisen hatte, die auch dem Volk einen Opernbesuch ermöglichen sollten. 


Das Walhalla-Theater im Weinbergsweg wurde 1904 als Nationaltheater eröffnet


Stadtplanausschnitt mit dem neuen Nationaltheater
Situationsplan von Berlin 1905

Ein Theatersaal mit Tonnengewölbe


Das Grundstück wurde an der nördlichen Seite des Weinbergwegs ausgewählt. Das neue Theater entstand zurückgesetzt unter der Hausnummer 18/19 auf einem Grundstück des Kaufmanns Emil Schippanowsky. Der Architekt Augustin entwarf das neue Theater, dessen Eingangsseite recht unscheinbar aussah. Der breit gelagerte Giebel mit dezentem Jugendstilschmuck und der Inschrift „Nationaltheater“ wurde von zwei seitlichen Vorbauten flankiert, in denen die Treppen zum ersten Rang waren. In der Mitte führten oberhalb einer breiten Freitreppe drei Eingänge in das Gebäude. Ein großes halbrundes Fenster bildete das Zentrum der Fassade. Dieses belichtete nicht etwa das Foyer – sondern die Rückseite des Zuschauerraums. Äußerlich hätte dieses Gebäude auch eine Turnhalle sein können. Das trifft auch auf den Zuschauerraum zu. Denn das Innere hatte keine Ähnlichkeit mit den damals üblichen Zuschauerräumen mit geschwungenen Rängen. Der langgestreckte Saal wurde von einem Korbbogen-Tonnengewölbe überdeckt. Dessen Eisenkonstruktion war zwar verkleidet, doch leicht zu ahnen. Eine solche Konstruktion konnte auch eine Bahnsteighalle oder ein Schwimmbad sein. Um einen gewissen repräsentativen Rahmen zu bieten, waren die Wände mit dekorativen Elementen versehen und war die Decke teilweise bemalt. Von der Decke hing ein riesiger Kronleuchter. Das hauptsächliche Dekorationselement war aber der Ziervorhang der Bühne. Mit 1800 Plätzen handelte es sich damals um das größte Theater Berlins. Die meisten Plätze waren im seitlich von offenen Logen eingefassten Parkett. Dahinter stieg ein Rang an.


Der Neue Theater-Almanach 1905 beschrieb den Saal in seiner Jahreschronik: „Das neue Haus, das räumlich größte von allen Berliner Theatern, erbaut unter Leitung des Architekten Augustin, vermeidet die bisher übliche Form des Zuschauerraumes. Nur ein Rang der Bühne gegenüber ist vorhanden, die Sitze im Parterre erheben sich amphitheatralisch, und Logen gibt es nur zur Seite des Orchesters. Die Bühne ist mit allen technischen Errungenschaften der Neuzeit ausgestattet.“ Auf Foyers wurde beim Bau verzichtet.


Der Welt-Spiegel stellte das neue Theater vor: Daß in Berlin die Theater in großer Fülle emporwachsen, ist schon bekannter. So wurde vor wenigen Tagen am Weinbergsweg das neue Nationaltheater eröffnet, dessen Außenarchitektur stark sezessionistisch wirkt. Das Theater ist der Pflege der Oper und Operette gewidmet.“ (Der Welt-Spiegel 29.9.1904)


Weitere Beschreibungen des Nationaltheaters findet man in den Berliner Tageszeitungen. Die Berliner Volks-Zeitung beschrieb das Theater knapp: Das Theater besteht aus einem Riesensaal, überdeckt mit einem imitierten Tonnengewölbe. Der Zuschauerraum steigt nach hinten an bis zum ersten Rang, der auch dereinstige Rang ist. Er umfaßt nur die Schmalseite gegenüber der Bühne. Seitenränge und Galerien gibt es nicht in diesem Hause mit dem Riesenparkett, dessen hinterste Plätze circa 40 Meter von der Bühne entfernt sind. Der Raum, in maßvollem sezessionisten Stil durchgeführt, ist fast ganz in lichtem Weiß gehalten, ebenso der Foyersaal und die Restauration unter dem Parkett, deren Zugänge zum Teil noch ungeschmückt geblieben sind.“ (Berliner Volks-Zeitung, 30.9.1904)


Kritischer war der Rezensent im Berliner TageblattUeber den Bau des neuen Teherans ist hier schon von fachmännischer Seite gesprochen worden. Ich habe nur hinzuzufügen, da die Akustik eine gute zu sein scheint. Auf meinem Platze war jede Silbe zu verstehen, und das Orchester klang gut bis auf die Trompeten und das Schlagzeug, die sehr hervorstachen, ein Uebelstand, dem durch Umsetzung der einen und Abdämpfend des anderen abzuhelfen ist. Trotzdem denke ich über den Raum nicht allzu günstig. Das lange Tonnengewölbe, das auch hinten nicht breiter als die Bühne, finde ich mit seiner bunten, überhellen Ausstattung wenig geschmackvoll. Man fühlt sich weder der Bühne noch dem Publikum verbunden, und eine rechte Stimmung wird hier schwerlich aufkommen. Das Problem des Zuschauerraumes, die ganze Aufmerksamkeit auf einen Punkt zu konzentrieren, ist jedenfalls nicht gelöst. Über Einzelheiten ein anderes Mal. Heute nur noch die Frage: Wie sollen die Fußgänger inmitten der anfahrenden Wagen ungefährdete zum Eingang gelangen? An sie hat man offenbar garnicht gedacht; selbst der Schutzmann, an den ich mich wandte, konnte mir die Frage nicht beantworten.“ (Berliner Tageblatt 30.9.1904)


Die Eintrittspreise des Nationaltheaters lagen im Parkett zwischen 4,10 M und 1,60 M. Einen Stehplatz gab es für 1,10 M. Vergleicht man die vorderen Parkettplätze mit denen anderer Theater lag der Preis in vergleichbarer Höhe. In der königlichen Hofoper kostete ein Parkettplatz allerdings 6 M. Im Theater des Westens lagen die „Fauteuils“ bei 4,10 M und im Metropoltheater bei 4 M. Zum Preisvergleich: eine Winterjacke kostete bei Baer Sohn 4 M, ein Wintermantel 8,50 M. Eine Literflasche 2902er Brauneberger Moselwein kostete bei M. Kempinski 1,75 M. Bei R. M. Maassen am Oranienplatz kostete ein Zobelmuff zwischen 5 und 15 M; ein Damenkostüm lag zwischen 17 und 150 M. U. Mannheimer verkaufte Straußenfederboas zwischen 18 und 34 M, hochelegante Boas zwischen 45 und 75 M. Bei Herrmann Gerson kostete ein Paar Herrenstiefel zwischen 10 und 18 M. Im Römerkeller kostete ein sonntägliches Mittagessen 2 M. Der Eintritt ins Aquarium Unter den Linden kostete 50 Pfennige. Im Künstlerhaus kostete der Eintritt eine Mark, die Jahreskarte drei Mark. 


Die mehr als 1800 Plätze jeden Abend zu füllen, war aber sicher nicht einfach. Außerdem war man im langgestrickten Saal auf den preisgünstigen Plätzen weit weg von der Bühne. Das flache Parkett war etwa 45 Reihe tief. Dazu kamen noch mehr als zehn Reihen im ersten Rang.


Bestuhlungsplan des Walhallatheaters 1905

Adressbuch für Berlin 1905


Eröffnung mit Verdis „Der Troubadour“


Für die Eröffnung war Mozarts Die Hochzeit des Figaro geplant. Am folgenden Tag sollte Verdis Der Troubadour folgen. Es kam dann anders, da sich die Fertigstellung des Nationaltheaters immer wieder verzögerte. Am 17. September 1904 informierte das Berliner TageblattDas neue National-Theater am Weinbergsweg hat seine Eröffnung um einige Tage verschieben müssen, da aus Sicherheitsgründen auf polizeiliche Vorschrift einige Änderungen in der Anlage der Sitzplätze vorzunehmen waren. Man hofft, daß am 21. September die Abnahme durch die Behörden erfolgen kann; die Eröffnung würde dann schon am 22. September (Donnerstag) stattfinden.“ Doch auch das klappte nicht. Dann platzte auch noch die auf den 24. September 1904 verlegte Eröffnungspremiere von „Der Troubadour“ kurzfristig, weil die Baupolizei das Gebäude immer noch nicht freigab. Das Berliner Tageblatt informierte darüber in der Abendausgabe und kritisierte: Natürlich ist es nur zu loben, wenn die Sicherheitsanlagen eines neuen Theaters von der Behörde so streng wie möglich kontrolliert werden. Aber war es nicht möglich, sich über alles Nötige schon etwas früher zu einigen, sodaß die Beunruhigung des Publikums und die Schädigung des Direktors vermeiden werden konnte?“ (Berliner Tageblatt 24.9.1904)


Erst am 28. September erfolge die baupolizeiliche Freigabe. Am 29. September 1904 fand um 20 Uhr die Eröffnungsvorstellung mit Verdis Oper statt. Natürlich war die Aufführung in deutscher Sprache. Das Dirigat hatte Wilhelm Reich. Regie führte Gustav Rodmann. Johannes Reinhardt sang den Manrico, Paula von Lindenfels die Leonore, Hans Melms den Grafen Luna und Etelka Rado die Azucena. 

 

Im Berliner Tageblatt findet am 30. September 1904 gleich auf der zweiten Seite einen Bericht zur Eröffnung: „Die langerwartete Eröffnung des neuen Opernhauses am Weinbergsweg ist gestern nun wirklich zur Tat geworden. Die Polizei hat keine Bedenken mehr. Soweit wäre die Direktion geborgen; nun kommen die Bedenken der Kritik. Aber wir wollen ihr die Freude am ersten Abend, dem ein zahlreiches und festlich gestimmtes Publikum beiwohnte, nicht verderben und zunächst anerkennen, was Gutes geboten wurde. „Nationaltheater.“ Ich denke mir darunter eine Bühne, die mit Vorliebe vaterländische Kunst pflegt und sie dem Volke zugänglich macht. Hoffentlich kommt es so. Wenn zur Eröffnung eine italienische Oper gewählt wurde, so geschah das wohl vom Standpunkt der Theaterpraxis, weil der Troubadour“ die vier Paraderollen enthält, die am besten mit den Vertretern der Hauptfächer bekannt machen. Es wäre aber ziemlich hübscher gewesen, wenn man gleich abseits von allen Gewohnheiten begonnen hätte; kommt es doch auch für diese Bühne mehr auf das Ensemble als auf den Einzelnen an, sollen doch hier weniger virtuose Leistungen als die Werke selbst die Besucher interessieren. Es ist nur erfreulich, daß man in dieser Hinsicht einen guten Eindruck konstatieren kann. Die Wiedergabe, die Verdis Meisterwerk erfuhr, war mit Sorgfalt vorbereitet; es ist offenbar, daß die Leitung alles so ordentlich, reinlich und angemessen wie möglich ausführen lassen will und deshalb zunächst für das, was zugleich Rahmen und Grundlage einer Opernvorstellung ist, für ein gutes Orchester und einen guten Chor, gesorgt hat. Beide gaben für ein neues Ensemble geradezu Ausgezeichnetes, und Herr Kapellmeister Wilhelm Reich begleitete die Sänger sehr geschickt und mi der nötigen Diskretion. Schade, daß er wenig Temperament entwickelte und die Musik dadurch einigermaßen ihres italienischen Charakters entkleidet wurde. Auf die Stileigentümlichkeiten des Komponisten zu achten, auf das, was bei einem Werke das Wesentliche ist, müßte in Zukunft der musikalischen Regie als Hauptsache gelten. Das deckt und trägt dann vieles. Von den Solisten wurde manches Gute, aber von keinem Einwandfreies geboten. Hans Melms (Luna) läßt sich durch seinen gesunden, quellenden Bariton verleiten, zu viel Ton zu geben und nach Effekt zu haschen; er muß viel Unmanieren ablegen, um rein künstlerisch zu wirken. Ein etwas weichlicher Manrico war Johannes Reinhardt, dessen an sich nicht übler Tenor (er sang die Stretta ohne Transposition) unter unfreier Tonbildung leidet. Bei der dramatisch wie musikalisch begabten Etelka Radio (Azucena) kommt alles darauf an, ob sie in ihrer offenbar zu früh beschrittenen Bühnenlaufbahn die Energie entwickelt, weiter zu lernen. Ihre Gesangstechnik steckt noch in den Anfängen, aber das Material ist so schön, daß sie eine hervorragende Altistin werden kann. Die größte Fertigkeit zeigte die Koloratursängerin Paula v. Lichtenfels, die die gewöhnlich von der Dramatischen gesungene Leonore recht sympathisch gab. Franz Roha vertrat mit Anstand den Ferrando.“ Soweit die Kritik über die Eröffnungsvorstellung. Der Text ist mit dem Kürzel L.S. unterzeichnet. Es dürfte sich um Dr. Leopold Schmidt, den Musikkritiker des Berliner Tageblatts handeln. 


Auch die Vossische Zeitung berichtete über die Theatereröffnung: „National-Theater. Am Donnerstag, 29. September, wurde das diesen Namen tragende neue Opernhaus mit Verdis „Troubadour“ eröffnet. Der Termin des für die Theater- und Musikverhältnisse Berlins unzweifelhaft wichtigen Ereignisses war ursprünglich für einen erheblich zurückliegenden Tag angesetzt worden, aber das neue Haus wurde nicht rechtzeitig fertig, und auch die für letztvergangenen Sonnabend angekündigte Eröffnungsvorstellung wurde wenige Stunden vor ihrem Beginn durch die Baupolizei verboten, so daß das zum Theater strömende Publikum nach Hause zurückkehren mußte. An das Verschieben von für einen bestimmten Tag in Aussicht gestellten Vorstellungen sind wir durch unsere hießigen Opern- und Operettenveranstaltungen durchaus gewöhnt, und wir betrachten es beinahe von vornherein als Selbstverständlichkeit, daß Umänderungen eintreten, weil das Ganze an irgendwelcher Stelle noch nicht klappt. Diesmal jedoch tragen der Direktor und seine Künstler keine Schuld, und aus dem vorläufig angekündigten Spielplan ist zu ersehen, daß sie bereits fleißig gearbeitet haben. Wir wollen also hoffen, daß ihnen der materielle Erfolg des Unternehmens ein sorgenloses und freudiges Weiterstreben ermöglichen wird. Da für die Eröffnungsvorstellung der alte „Troubadour“ gewählt wurde, ist durchaus zu begreifen. Die Partien des Werks sind jedem, welcher einer Oper als Mitglied angehört, geläufig, und es ist verständig, daß man sich zunächst eine Aufgabe stellte, deren Überwindung durch die Schwierigkeit, Proben abzuhalten, nicht so leicht in Frage kommen konnte, und darauf verzichtete, etwas Sensationelles zu versuchen, dessen Gelingen unter diesen umständen zweifelhaft wäre. Außerdem bietet der „Troubadour“ dankbare Rollen für vier erste Kräfte eines Opernunternehmens, so daß die Art seiner Wiedergabe einen Maßstab für den künstlerischen Standpunkt des Ganzen zu bieten vermag. Diese 4 Hauptpartien waren nun derart vertreten, daß sehr Achtbares neben wenig Zulänglichem stand. Frl. von Lichtenfels sang die Leonore, eine Aufgabe, welche meistens der dramatischen Sopranistin zugeteilt wird. Es läßt sich jedoch nichts dagegen einwenden, wenn die Leonore von einer Koloratursängerin, eine solche ist Frl. von Lichtenfels offenbar, verkörpert wird. Verdi hat die Rolle derart ausgestattet, daß ein Abweichen von der sonst üblichen Gepflogenheit sogar empfohlen werden kann. Die Sängerin besitzt kein sonderlich großes, aber angenehmes Stimmmaterial, welches gut gebildet ist, die Figuren der Arie im ersten Akt gelangen in durchaus zufriedenstellender Weise und die ganze Leistung verdient Anerkennung. Frl. Rado gab die Zigeunerin mit ausgiebigem, schönem Ton, man konnte, nachdem das zuerst sich stark bemerkbar machende Detonieren und Tremolieren überwunden war, Freude an ihrem Organ haben. Weniger gut stand es mit den Herren. Dem Luna des Herrn Melms fehlten feinere Ausarbeitung und Schattierungen gänzlich. Schade, daß die ungewöhnlich kräftige Baritonstimme des Sängers ihn verführt, sie dauernd anzustrengen. Gründliche Vortragsstudien würden hier sehr am Platze sein. Über Herrn Reinhardt (Manrico) ist leider wenig Gutes zu sagen. Seine Gesangskunst ist nicht derart, daß er auf die Dauer erste Aufgaben in dem neuen Unternehmen übernehmen können wird. Gut war Herr Roha als Ferrando. Entschiedenes Lob verdienen Chor und Orchester. Der erstere klang voll und sang sauber und sicher, während der instrumentale Teil jenem künstlerischen Tiefstand, den wir in Berlin und Umgebung – natürlich abgesehen von der königl. Kapelle – in den Theaterorchestern ohne Ausnahme erleiden müssen, sehr erheblich überragt. Sowohl die reiche Besetzung als die Tüchtigkeit der neuen Kapelle überraschen ungemein angenehm, und der Dirigent Herr Reich führte sich vortrefflich ein. Das Ballett im 3. Akte mit Frl. Robertius als Solotänzerin war geschmackvoll, und auf die Ausstattung und Kostüme war entsprechender Wert gelegt. Namentlich aus der Sorgfalt, die auf Chor und Orchester, diese sonst so schwachen Punkte, verwendet ist, läßt sich ersehen, daß Herr Becker, der Direktor des National-Theaters, seine Aufgabe ernst nimmt. Für die nächsten Tage sind Werke deutscher Meister angekündigt, sodaß das Theater dann auch eine seinem Namen entsprechende Tätigkeit entfalten wird.“ 

 

Der letzte Satz bezieht sich auf die Definition des Begriffs Nationaltheater als Theater, in dem Werke der Landessprache gespielt werden. Am 1. Oktober hatte Lortzings „Der Wildschütz“ Premiere. Es folgten Webers „Der Freischütz“, Mozarts „Figaros Hochzeit“ und Lortzings „Zar und Zimmermann“.


Franz von Hennig besprach Webers „Der Freischütz“: „Das neue Unternehmen bot am Sonnabend, 8. Oktober, eine Aufführung von Webers „Der Freischütz“, welcher viel Gutes nachgesagt werden kann. Freilich darf es diesmal ohne Ausstellungen nicht abgehen, denn der Vertreter des Max, Herr Classen, vermochte nur zum Teil zu befriedigen; seine Stimme ist in den tieferen Lagen wenig ausgiebig, und die Reinheit der Intonation ließ wiederholt zu wünschen übrig. Im ganzen war er aber ein annehmbarer Max,  während man der Agathe des Frl. Grinning das gleiche Prädikat nicht zuerkennen kann. Im Piano ist ihre Tongebung gar zu unsicher und nicht frei von umvornehmen Beimischungen. Dagegen verdienen die Inhaber der übrigen Rollen Lob, einzelne sogar wärmste Anerkennung. Zunächst ist Frl. Alten zu nennen, welche gesanglich ein treffliches und im Spiel ein allerliebstes Männchen war. Ebenso war der Kaspar des Herrn Roha eine sehr tüchtige Leistung. Der routinierte Künstler erneuerte den günstigen Eindruck, den er als Ferrando gemacht hatte. Der diesen beiden Herrschaften so reichlich gespendete Beifall erschien vollkommen gerechtfertigt. Auch die Herren Justiz (Ottokar), Mantler (Kuno) und Wissiak zeigten sich als angemessene Vertreter ihrer Partien. Die Regie könnte für mehr Leben auf der Bühne bedacht sein, die Zeiten, in denen man durch malerisch aussehende lebende Bilder zu wirken vermochte, sind auch für die Oper längst vorbei. Herr Kapellmeister Sänger leitete die Vorstellung, in welcher Chor und Orchester sich wieder von sehr guter Seite zeigten, mit völliger Sicher. Das erfreulich besuchte Haus war mit lebendig teilnehmenden Hörern besetzt.“ (Vossische Zeitung 9.10.1904)


Anzeige zur Eröffnung des Nationaltheaters

Vossische Zeitung 29.9.1904


Eleonora Duse im Nationaltheater


Gastspiele auswärtiger Stars lockten das Publikum. Im Oktober gastierte der Caruso-Rivale Alessandro Bonci (1870-1940) im Nationaltheater. Er sang den Herzog in Verdis „Rigoletto“, einer Rolle, mit der er 1907 sein Debüt an der Metropolitan Opera in New York gab. Im November kam Eleonora Duse mit eigenem Schauspielensemble. Man darf annehmen, dass Stücke wie „Dame aux camélias“ von Alexandre Dumas in italienischer Sprache aufgeführt wurden. Die Vossische Zeitung berichtete über den ersten Abend mit der berühmten italienischen Schauspielerin: „Die äußere Macht der Duse, d.h. ihr Ruhm und ihre „Zugkraft“, wie man das theatertechnisch ausdrückt, offenbarte sich gestern darin, daß das riesige, neu hergerichtete Gewölbe des National-Theaters, das etwa 2000 Sitze faßt, beinahe vollständig gefüllt war. Die innere Macht der Duse dagegen, ihr großes Können, hat sich gestern nicht recht entfalten wollen. Ich glaube, das liegt an zwei Momenten. Einmal daran, daß die forcierte „Mona Vanna“-Begeisterung überhaupt verraucht ist, daß dieses vor einigen Jahren riesig überschätzte Stück, das nur in wenigen Partien die dichterische Eigenart Maeterlincks verrät und im übrigen die Züge einer kalten und nicht einmal starken Effektkomödie an sich trägt, bereits ins Welken gekommen ist. Dann aber auch daran, daß die gleichfalls überschätzte Rolle der Mona Vanna, die hier in der zart beseelten Darstellung der Frau Geßner sehr sympathisch, aber auch nur sympathisch gewirkt hat, für eine großzügige Charakteristik keine rechten Stützpunkte bietet, Eleonora Duse hat sich freilich für derartige, ich möchte sagen, mystisch gespreizte Rollen, zu denen auch ihre Lieblingspartien in einigen Stücken D’Annunzios gehören, eine „zweite Spielweise“ angeeignet, eine feierliche, die in plastischen Wirkungen schwelgt, den Ton gleichsam auf ganzen Noten ruhen läßt und den Affekt für blitzartige Momente aufspart. Aber, wenn sich auch in dieser neuen Manier die große künstlerische Natur nicht verleugnet, so reicht der Eindruck doch nicht entfernt an jenen starken und originellen heran, der uns verblüfft, entzückt und bezaubert, wenn die Duse, wetteifernd mit der Natur, den Fluß des Lebens auf die Szene bringt, den unendlichen Stimmungswechsel in ihrem Spiele wie in einer Zauberlaterne spiegelt und so wenig berechnete Steigerungen und Einteilung im Takte merken läßt, wie eine Persönlichkeit die wir in Wirklichkeit belauschen. Dieser Hauptreiz ihrer genialen Darstellungsweise hat uns gestern wenig berührt. Sie hatte als „Mona Vanna“ nur „Momente“, freilich einige, die ihr kaum jemand nachspielt. So das erste Auftreten in gehobener Märtyrerstimmung, mit dem Ausdruck „reiner Torheit“, heiliger, naiver Zuversicht, der die Vorstellung des Mißverständnisses und des gemeinen Widerstrebens völlig ferne liegt, dann in (der vom Dichter äußerst schwach geführten) Zeltszene mit Princivalle, das eigenartige Mienenspiel, das Aufleuchten wehmütiger Heiterkeit im Moment des Erkennens, der süße Kindheitsvorstellungen wachruft, endlich der Stimmungswechsel im letzten Akte, der mit großer Energie des Naturells durchgeführte jähe Übergang von dem Eifer, das Natürlich-Edle dem Gatten klar zu machen, zum heftigen Bekenntnis einer nicht vorhandenen Schuld, in dem Betrug und Wahrheit ineinanderwirken. […] Ich schied mit der Empfindung: ich möchte die Duse sehen, d.h. die Duse, die ganz sie selbst ist, die im Wirbel der ungekünstelten Lebendigkeit alles Possieren in den Schatten stellt und uns mitten im Theater ein Erlebnis bereitet – nun, hoffentlich kommt des noch während des Gastspielt der großen Künstlerin.“ Hinter dem Kürzel A.K. verbirgt sich der aus Prag stammende Schriftsteller und Literaturkritiker Alfred Klaar (1848-1927), der für eine objektive Kritik eintrat.

 

Alfred Klaar schaute sich auch „Hedda Gabler“ an. In der Vossischen Zeitung (11.11.1904) schrieb er: „Ihren allbekannten und oft gewürdigten Gestalten ließ Eleonora Duse gestern die Hedda Gabler Ibsens folgen. Sie in dieser Rolle zu sehn, die sie schon einmal hier mit fragwürdigem Erfolge spielte, gewährte immer wieder ein vielfältiges Interesse, ein rein künstlerisches, ein ethnographisches und ein persönliches. Man fragt sich: wie wird sich diese geniale Italienerin, die das innere Leben ihres Volkstums in besonders feinnerviger und durchgeistigter Art versinnlicht, mit der Psychologie des nordischen, urgermanischen Seelenkünders zurechtfinden? Um es kurz zu sagen, sie übersetzt die Ibsensche Gestalt nicht nur in ihre Sprache, sondern auch in ihre nationale Art und in ihre Individualität. Sie gibt weit mehr Duse als Ibsen, sie tut es mit genialer Kunst, die indes den Ibsenkenner doch nicht darüber hinwegtäuschen kann, daß hier eine ehrliche Fälschung, ein unbewußte Unterschiebung sich unserer Teilnahme bemächtigt. […] Sie gibt, was einem romanischen Geiste natürlicher ist: ein von philiströsen Verhältnissen angeekeltes Weib von rassenhaften Instinkten, das sich ins Freie hinaussehnt, das sich ganz an die Nachtseite der Leidenschaft, an die Eifersucht hingibt und das den Geliebten um jeden Preis, sei es im Leben, sei es im Tode an sich reißen will. Wo diese vereinfachende, aber nicht tief genug greifende Auffassung sich festwurzeln kann, hat die Künstlerin unvergleichliche Momente. Sie ist die Verführung selbst, die feinste und zuversichtlichste Versuchung, wenn sie den zur Abstimmung verzogenen Lövborg verspottet und ihm den kalten Punsch aufdrängt […]. Für die virtuosen Momente der Duse hatte das massenhafte Publikum laute Anerkennung. Während des letzten Aktes drängten sich die Theaterbesucher aus den fernen Reihen des langgestreckten, tonnengewölbten Saals, aus der Gegend, wo man eigentlich nur mehr durch gläubige Autosuggestion Fühlung mit den Bühnenvorgängen hat, nach vorne, improvisierten ein Stehparterre und harrten sogar noch nach dem letzten Fall des Vorhangs aus – bloß, um bei den Hervorrufen im Dunstkreis der Duse zu atmen.“


Franceschina Prevosti in „La Traviata“ und „Fedora“


Das nächste Gastspiel war wieder im Opernbereich. Es gastierte die international bekannte italienische Sopranistin Franceschina Prevosti (1866-1938) am Nationaltheater. Franz von Hennig schrieb: „Frl. Franceschina Prevosti eröffnete am Freitag, 18. Nobember ein Gastspiel in Verdis „La Traviata“. Die Oper erscheint jetzt auffällig häufig auf unseren Bühnen, allein seit dem letzten September d. J. ist es notwendig bereits zum dritten Mal an dieser Stelle über sie zu berichten.“ Die Traviata „packt uns oft ans Herz, und Frl. Prevosti ist die geeignete Persönlichkeit, diesen Eindruck zu verstärken. Wir können uns nicht verhehlen, daß ihre stimmlichen Mittel früher ausgiebiger und zuverlässiger waren, aber die Vortragskunst der Dame, die Seele, welche sie in ihren Tönen offenbart, sind die gleichen geblieben oder haben sich vielleicht noch mehr vertieft. Das Spiel wird jeder Situation gerecht und wirkt in den dramatisch wichtigsten Momenten ergreifend. Diese Verkörperung der Violetta ist eine Leistung, die man nicht vergißt und stets gern wiedersieht. Herr Zeitschel war gesanglich ein achtungswerter Afred, er muß jedoch mehr Wert auf seine äußere Erscheinung legen und sich auf der Bühne bewegen lernen. Herr Melms ging mit seinem mächtigen stimmlichen Mitteln vornehmer um, als man es ihm sonst gewöhnlich nachrühmen kann, er repräsentierte den Vater Germont würdig. Die Dekorationen verdienen lobend erwähnt zu werden, und Herr Kapellmeister Sänger leitete das Ganze mit Sicherheit.“ (Vossische Zeitung 19.11.1904)

 

„Das „Nationaltheater“ versuchte sich gestern abend an Umberto Girodanos „Fedora“, die schon vor anderthalb Jahren im „Berliner Theater“ – auch damals gelegentlich eines Prevosti-Gastspiels – erstmalig in Szene gegangen war. Giordano, der als Verist mit „Mala vita“ eingesetzt hat, jenen krassen und manchmal eklen, immer aber erschütternden „Szenen aus den Tiefen des Lebens“, denen mit der Bellincioni in der tragenden Partie auch in Berlin ein immerhin beachtlicher Erfolg geworden war, hat in dieser „Fedora“ ein Werk gegeben, das in jedem Betracht ernst zu nehmen ist, und so die gestrige Reprise, die abermals der Prevosti zu danken war, in der Tat rechtfertigt. Um die gefeierte Gastin, die die „Fedora“ zu ihren glänzendsten und zündendsten Rollen zählen darf und zumal darstellerisch sich ganz wundervoll auf den Ton jener Kreise zu stimmen wußte, in denen die mondänsten und gepflegtesten Formen zu Hause sind, gruppierte sich eine Anzahl zum Teil hochachtbarer Kräfte, wie Frau Drusilla Mantler und die Herren Hans Melms (de Siriex), Fritz Birrenkoven, Franz Roha, Karl Stark, Fritz Lindemann (Lasinski) und Ludwig Bernhardt (Panoff), der eigens aus Koburg bemüht worden war; sie verhalfen im Verein mit Kapellmeister Wilhelm Reich und Oberregisseur Tetzlaff dem Werk zu einer Wiedergabe, auf die sich Berlins nördlichste Oper etwas zugute tun darf.“ (Vossische Zeitung 26.11.1904)


Das Ensemble des Nationaltheaters in der einzigen Spielzeit 1904/1905

Berliner Leben 1904, 9



Operetten im Nationaltheater


Neben den Opern kamen schon bald Operetten in den Spielplan. „Donna Juanita“ von Franz von Suppé machte den Anfang. Am 2. Dezember 1904 war die Premiere der Operette „Die Millionenbraut“ von Heinrich Berté, die in diesem Jahr in München uraufgeführt worden war. Der Musikkritiker Max Marschalk vermutete gar, dass das Programm des Nationaltheater nun in Richtung Operette gehen soll: „Die Operetten-Industrie kommt immer mehr herunter; ein Stück sieht aus wie das andere, wie es bei Fabrikwaren nun einmal so ist. Und eine Musik klingt wie die andere. „Die Millionenbraut“ fing recht verstimmend an; der ganze erste Akt, der in einem Detektivbureau spielt, ist sehr langweilig. Er schließt noch dazu mit einem Port Arthur-Kuplet! Man denke, was dazu gehört, das entsetzliche Drama, das sich im fernen Osten abspielt, zum Gegenstand trivialer Witzeleien mit Tanzbegleitung zu machen. Im zweiten Akte wurde dank dem flotten und liebenswürdigen Spiel des Fräulein Alma Saccur – auch der gastierende Herr Fritz Werner war ganz acceptabel – die Situation etwas angenehmer; hier hatte die Musik, von der ich nur sagen kann, daß ich sie schon irgendwo einmal gehört haben muß, sogar einige Höhepunkte – was sehr „relativ gemeint ist. Recht Anerkennenswertes leisteten ferner Frau Emmy Raabe-Burg und Herr Rudolf Seibold. In Szene gesetzt war die Operette nach niedrigster Vaudevilletheater-Manier; das wäre nicht nötig gewesen, aber vielleicht bereitet das National-Theater den Übergang zu einem leichteren Genre vor. Die Millionenbraut – eine reiche Amerikanerin – soll einen verkrachten französischen Adeligen heiraten; sie will erst nicht, aber er ist trotz seiner vielen Schulden und seiner vielen galanten Abenteuer halt doch ein guter Kerl. – Indessen, die Handlung ist ja, wie gewöhnlich bei diesen Stücken, nur ein Vorwand. Es kommt mehr auf das Drum und Dran an, und das hätte hier etwas lustiger und witziger sein können. Das Publikum, wenigstens ein großer Teil, amüsierte sich schließlich ganz gut und als am Schlusse des zweiten Aktes der Komponist und der Kapellmeister Herr Bertrand Sänger und eine Kollektion riesiger Lorbeerkränze auf der Bühne erschienen, hatte die Sache „ihre Richtigkeit“, wie es ja wohl in der „Undine“ heißt.“

 

Im Dezember kündigte das Nationaltheater an: „Der Direktion des Nationaltheaters wird demnächst Direktor Leopold Müller aus Wien, bisheriger Mitdirektor des Wiener Carl-Theaters beitreten um speziell die administrative Leitung zu übernehmen, während Direktor Hugo Becker die künstlerische Leitung weiterführt. Das Programm soll in keiner Weise eine Änderung erfahren.“ (Vossische Zeitung 10.12.1904). Den Sänger und Theaterdirektor Leopold Müller (1848-1912), der Erfahrung in der Leitung von Theatern hatte, holte man sich wohl, um die Rentabilität des Nationaltheaters zu steigern.

 

Wie umfangreich das Repertoire schon in der ersten Spielzeit war, zeigt als Beispiel die Woche vom 2. bis 9. April 1905: Montag „Fidelio“, Dienstag „Undine“, Mittwoch „die lustigen Weiber von Windsor“, Donnerstag „Don Juan“, Freitag „Fra Diavolo“, Samstag „Die Jüdin“, Sonntag „Zar und Zimmermann“ und „Fra Diavolo“. Ein solcher Spielplan ließ sich natürlich nicht mit ausführlichen Proben und detaillierten Inszenierungen durchführen. Am Donnerstag stand das Nationaltheater in Konkurrenz zum Kgl. Opernhaus, das ebenfalls „Don Juan“ spielte, womit natürlich Mozarts „Don Giovanni“ gemeint ist. Die für Freitag geplante Premiere von Aubers „Fra Diavolo“ platzte allerdings und wurde auf den Samstag verschoben.


Max Marschalk schrieb einen Verriß: „Aubers komische Oper „Fra Diavolo“ wurde am Sonnabend „neu einstudiert“ aufgeführt. In der Titelrolle gastierte Herr Dr. Otto Briesemeister, und zwar bot er eine überraschend schwache Leistung; im Spiel war er ohne rechte Lebendigkeit und ohne rechten Humor, und gesanglich fügte er sich in das Ensemble, was hier kein Lob ist. Als Lorenzo gastierte ein gänzlich unzureichender Herr Kurt Weber. Überhaupt – es war eine Aufführung! Sogar der allezeit tüchtige Herr Ludwig Mantler versagte als Lord Cookburn und Lizzie Sondermann als Pamella – ja, so etwas sollte in unserer Haupt- und Residenzstadt, selbst vor dem Rosenthaler Tor schlechterdings unmöglich sein. Die beiden Banditen waren eher lächerlich als komisch. Allein Fräulein Alma Saccur befriedigte; sie gab eine anmutige Zerline. Herr Bertrand Sänger dirigierte; er schlug recht und schlecht den Takt, ohne innerlich bei der Sache zu sein. So kam es, daß diese Musik der frischen Tempi, der heiteren Bewegtheit und mit ihnen der Wirkungsfähigkeit, die sie sonst in so hohem Maße auszeichnet, verlustig ging.“ (Vossische Zeitung 9.4.1905)

 

Anfang Mai 1905 gab es ein Gastspiel von Charlotte Wyns (1868-1917) von der Pariser Oper, bei dem sie u.a. in „Die Favoritin“ und in „Das Glöckchen des Eremiten“ (Les dragons de Villars) von Aimé Maillart auftrat. Das war sicherlich die ungewöhnlichste Oper der Saison. Ein ganz anderes Genre wurde mit dem Auftritt des italienischen Verwandlungskünstlers Frizzo am 27. Mai 1905 eingeführt, dem ein Ballettdivertissement vorangestellt war. Bei der Vorstellung am 31. Mai wurde vor dem Frizzo-Auftritt „Die schöne Galathee“ gespielt. Es war die letzte Vorstellung des Nationaltheaters.

  

Das Volksopernprojekt scheiterte letztlich. In der Jahreschronik des Neuen Theater-Almanachs von 1906 findet man den Eintrag für den 31. Mai 1905: „Das National-Theater in Berlin, als volkstümliche Opernbühne von Dir. Hugo Becker zu Beginn des Herbstes ins Leben gerufen und nicht ohne künstlerische Erfolge geleitet, schließt seine erste Spielzeit, welche zugleich die letzte ist. Auch der vorübergehende Eintritt des Herrn Dir. Leopold Müller aus Wien in die Direktion hatte nicht hindern können, daß das Unternehmen nicht in der gehofften Weise prosperierte, woran wohl die Lage des Theaters am Weinbergsweg und die der Oper nicht günstige Beschaffenheit des Raumes wesentlich Schuld trugen. Das zum größten Teil durch mehrjährige Verträge gebundene Personal löst sich auf. Als Possenbühne unter dem Namen Walhalla-Theater wird das Haus am 1. Oktober wieder eröffnet.“ Der Name Nationaltheater wurde schon bald von einem Theater in der Köpenicker Straße übernommen.


Anzeige zur Wiedereröffnung am 1. Oktober 1905 als Walhallatheater

Vossische Zeitung 1.10.1905


Wiedereröffnung als Walhallatheater


1905 übernahm Richard Schultz (1863-1928), der seit 1898 das Metropoltheater (heute Komische Oper) führte, das Theater und eröffnete es als Walhallatheater. Diesen Namen gab es in Berlin vorher schon einmal. Das Berliner Theater hieß vor 1888 Walhallatheater. Am 1. Oktober 1905 um 19.39 Uhr war die Eröffnungsvorstellung mit „Eine tolle Nacht“. Die Logen seitlich des Parketts wurden entfernt. Dafür wurden ganz vorne, vor dem eigentlichen Parkett Logen eingebaut. Eine wichtige Neuerung war, dass man nun im Theater rauchen durfte. Ab 20.30 Uhr fand im Walhalla-Konzert-Tunnel  ein Konzert mit den I. Wiener Original-Schrammeln und den Obersteyrern statt, das bis um zwei Uhr morgens dauerte. Es gab nun also zwei Veranstaltungsräumlichkeiten. Über die ungewöhnliche Kombination von Veranstaltungen staunt man heute: ab dem 4. November 1905 fanden internationale Ringkampfwettbewerbe statt. Das Vorprogramm bildeten zwei kurze Operetten, „In Lebensgefahr“ von Kerker und „Die Damen der Halle“ (Mesdames de la Halle) von Jacques Offenbach.


1906 im Walhallatheater auftretende Künstler

Berliner Leben 1906, 10


Varietéprogramme unter Paul Saitmacher


Eigentümer waren die Erben des Gutsbesitzer Wollank. Am 1. September 1906 begann die neue Saison unter der Leitung von Paul Saitmacher. Er präsentierte ein gemischtes Varietéprogramm wie am zuvor von ihm geleiteten Varieté Orpheum in Graz. Die Presse fand lobende Worte: „Zu einem ersten Varieté hat sich seit Kurzem das Walhalla-Theater herausgearbeitet. Täglich entzückt der bekannte Humorist Willy Prager mit seinen witzigen Vorträgen das Publikum. Frl. Emmy Kröchet erntet reichen Beifall und die Sisters Valentine, drei tanzende Engländerinnen, üben ihren Zauber aus.“ (Berliner Leben, 1906, 10). 1907 wechselte Saitmacher an das Reichshallentheater in Kiel.


1911 hatte James Klein, der später an der Komischen Oper durch seine großen Revuen bekannt wurde, die Leitung. In dieser Zeit waren Max Guthschmiedt und Georg Thülecke Kapellmeister. Das Orchester bestand aus 24 Musikern der Chor aus 24 Damen. Es gab ein kleines Ballett mit der Solistin Rosa Müller, fünf Tänzerinnen und dem Ballettmeister Otto Jaeckel. Durch die Winter- und die Sommersaison spielte das Theater praktisch ganzjährig. Im Dezember 1911 lief erfolgreich Teufel! Aufgeführte Stücke waren „Bravo!“, „Da Capo!“ und „Eine Allerwelts-Revue“ (Neuer Theater-Almanach 1911); „Um eine Krone“, „Teufel, das hat eingeschlagen“, „Nur nicht drängeln“, „Menschenrechte“ (Neuer Theater-Almanach 1913).  Es war in dieser Zeit als Alfred Döblin das Theater besuchte und durchaus eine positive Ansicht über die Aufführungen hatte. Allerdings lief das Theater wirtschaftlich wohl nicht gut. Im Neuen Theater-Almanach 1914 findet man in der Saisonchronik unter dem 1. November 1912: Zusammenbruch des Walhalla-Theaters in Berlin unter Leitung von Direktor James Klein. Er wurde später berühmt durch seine spektakulären Revue-Aufführungen an der Komischen Oper in der Friedrichstraße.


Vereinigt mit anderen Theatern


Hans Ritter vereinigte das Walhallatheater und das Luisentheater zu den Vereinigten Berliner Volksbühnen. Die Zeitschrift Berliner Leben kündigte 1913 an, dass Bella Frankhé vom Metropoltheater in Köln im Walhallatheater die Hauptrolle in Der Liebesonkel von Walter Kollo singen werde.  Ob die 1913 angekündigte Aufführung der 1912 uraufgeführten musikalische Posse tatsächlich stattfand, ist allerdings fraglich. 


Auf dem Nachbargrundstück Weinbergsweg 16/17 soll schon ab 1907 ein Kino gewesen sein. Am 30. August 1913 eröffnete das neu erbaute UT-Lichtspieltheater, damals das größte Kino Berlins. Das Kino hieß später auch Ufa-Palast des Nordens und Ufa-Theater Weinbergsweg.


1914 pachtete Bernhard Rose (1865-1927), der auch schon das Bernhard-Rose-Theater in der Frankfurter Straße leitete, das Walhallatheater und betrieb nun beide Theater. Der Spielplan wurde auf den gerade tobenden Ersten Weltkrieg angepasst, indem man Berlin im Felde spielte. Die Silvestervorstellung am 31. Dezember 1914 war Die Förster-Christl. Im März 1915 lief Die Jagd nach dem Glück“ – es könnte die Operette von Franz von Suppé gewesen sein. Rose betrieb das Walhallatheater bis 1920. In der  Spielzeit 1920/1921 leiteten Hans Berg und Wilhelm Hartstein das Walhallatheater. Die Sommerspielzeit gestaltete Walter Grävenitz, der auch das Gastspielt-Ensemble-Theater in Wilhelmshaven betrieb. 


Bestuhlungsplan des Walhallatheaters 1914 ohne die seitlichen Logen

Adressbuch für Berlin 1914


Die Volksoperette


Ab der Spielzeit 1921/1922 leitete Edi Winterfeld die Volksoperette Walhalla-Theater. Er war auch Direktor des Sommertheaters im Schillertheater in Charlottenburg. Neben einem Orchester mit 32 Musikern gab es einen Chor mit zwölf Herren und zwölf Damen. Das Ensemble bestand aus zehn Solisten und neun Solistinnen. Der Dramaturg Hans Hellmuth Zerlett redigierte die hauseigene Zeitschrift „Die Volksoperette“. Im Herbst 1921 lief die Operette „Jung muss man sein“ von Jean Gilbert. Zumindest am 12. November 1921 dirigierte der Komponist selbst. Im Frühjahr 1922 liefen „Mondscheindame“ von Alfred Lorentz und „Scheidungsreise“ von Hugo Hirsch.


Das Adressbuch von 1923 nennt einen Direktor Berg. Eigentümer war nun wieder Emil Schippanowsky. Das Adressbuch von 1925 gibt als Eigentümer die Walhalla-Theater-Union AG mit Sitz in der Friedrichstr. 101/102 an. Das ist die Adresse des Admiralspalasts. Inzwischen war eine Ballung von Theatern und Kinos entstanden. Zum Walhallatheater (Weinbergsweg 18/19/20) gehörte der Walhallatunnel, eine Gaststätte und ein Park. Seit 1920 war im Gebäude auch das Skala-Kino.

 

„Königin der Nacht“ wurde im Februar 1926 als erstes Preisrätsel mit Gesang und Musik in sieben Bildern angekündigt. Als Sensationsstück wurde im März 1926 „Die kleinen Vagabunden“ angepriesen. Bei „Es war einmal in Heidelberg“ (1927) und „Eine Liebesnacht“ (1928) handelte es sich wohl um Revuen mit bekannten Schlagern. Im Dezember 1927 stand die Pfarschner-Operette „Wie Du küßt keine!“ auf dem Spielplan. 1929 findet man den Titel „Sonny Boy“. „Solange noch untern Linden“, „Das Mädchen ohne Ehre“ und „Verlorene Mädchen“ liefen im Frühjahr 1930. Im Herbst 1930 gab es ein Gastspiel der Rotterbühnen mit „Das Land des Lächelns“, dann lief die Operette „Berlin is richtig“.


Carows Lachbühne


1923 heiratete die Soubrette des Walhallatheaters, Luzie Blattner, den Komiker Erich Carow (1894-1956). 1927 eröffnete er Carows Lachbühne im Walhalla-Tunnel. Carow selbst war schon bald als „Chaplin vom Weinbergsweg“ bekannt. Der echte Charlie Chaplin trat am 9. März 1931 selbst dort auf. Auch der Komiker Fredy Sieg trat dort auf. Unter den Besuchern waren Kurt Tucholsky, Max Pallenberg und Henry Porten. Am 27. Februar 1933 feierte Carow sein zwanzigjähriges Bühnenjubiläum. Der Kabarettist Werner Finck soll gewitzelt haben, dass sogar der Reichstag Festbeleuchtung habe, darauf anspielend, dass dieser gerade brannte.

 

Das Deutsche Bühnenjahrbuch von 1936 vermerkt, dass das Theater geschlossen sei. 1943 wurde das Gebäude durch einen Luftangriff beschädigt. Danach verlaufen sich die Spuren.


Volkspark am Weinberg


Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Bebauung an der Nordseite des Weinbergwegs abgerissen. Nur die Häuser im Dreieck zwischen Weinbergsweg und Brunnenstraße blieben stehen. Zwischen Fehrbelliner Straße, Veteranenstraße, Brunnenstraße und Weinbergsweg wurde zwischen 1954 und 1954 nach den Plänen des Gartenarchitekten Helmut Kruse der Volkspark am Weinberg angelegt. Auf der Anhöhe entstand der geschwungene Bau des Cafés am Weinberg nach einem Entwurf der Architekten Hans Jährig und Max Kowohl.

 

Literatur

Fritz Brentano: Das Vorstädtische Theater. In: Theater-Kalender, 1913.

Hermann Kugler: Louis Gräberts Berliner Volkstheater. In: Jahrbuch für brandenburgische Landesgeschichte, 1952.

Petra Louis: Vom Elysium zum Prater, Berliner Vorstadtbühnen, der Beginn des privaten Theaterbetriebes im 19. Jahrhundert. In: Theater als Geschäft, Berlin und seine Privattheater um die Jahrhundertwende. Berlin 1995.

Sylvaine Hänsel, Angelik Schmitt (Hg.): Kinoarchitektur in Berlin 1895-1995. Berlin 1995.

Deutscher Bühnenalmanach, Neuer Theater-Almanach, Deutsches Bühnenjahrbuch.

Vossische Zeitung, Berliner Leben.


Andere Beiträge zur Berliner Musik- und Theatergeschichte

Die Geschichte der Komischen Oper in der Friedrichstraße in Berlin

https://opernloderer.blogspot.com/2020/12/eine-andere-komische-oper-1905.html 

Eröffnung der Komischen Oper in Berlin mit Jacques Offenbach und Jules Massenet im November 1905 

https://opernloderer.blogspot.com/2021/01/berliner-operngeschichte-hoffmanns.html 

Konservatorien in Berlin um 1900

https://opernloderer.blogspot.com/2021/02/musikgeschichte-konservatorien-in.html 

Die ersten Aufführungen von Edward Elgars Oratorium „Die Apostel“ (The Apostles) in Deutschland

https://opernloderer.blogspot.com/2020/12/die-ersten-auffuhrungen-von-edward.html 

Fanny Opfer

https://opernloderer.blogspot.com/2021/01/opfer-der-nazis-fanny-opfer.html 

Ottilie Metzger-Lattermann

https://opernloderer.blogspot.com/2017/11/ottilie-metzger-lattermann.html 


 


 


 


 


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