Die ersten Aufführungen von Edward Elgars Oratorium „Die Apostel“ (The Apostles) in Deutschland

„Die den Gesängen der Maria Magdalena und sonstigen Altsoli durch sinngemässe Auffassung und edlen Ton zu schöner Wirkung verhalf“ 

– Die Altistin Ottilie Metzger sang in der deutschen Erstaufführung von Sir Edward Elgars Oratorium „Die Apostel“ in Köln – 

von Klaus J. Loderer


Das nicht zuletzt durch die „Last Night of the Proms“ in der Londoner Albert Hall populärste Werk des englischen Komponisten Sir Edwar Elgar (1857-1934) ist sicherlich „Pomp and Circumstance March No 1". Auch die „Enigma Variations“ erfreuen sich großer Beliebtheit. In England werden auch die zahlreichen geistlichen Werke, zu denen eine Reihe von Oratorien gehören, häufig gespielt. Ein in Deutschland fast unbekanntes Werk ist das Oratorium „Die Apostel“ (The Apostles), dem 1904 die Erhebung in den Adelsstand folgt.


1902/1903 arbeitete der englische Komponist Edward Elgar  – unter dem Einfluss seines Besuchs der Bayreuther Festspiele an einem Auftragswerk für das Birmingham Triannal Festival. Er träumte von einer Trilogie, kämpfte mit Texten und schuf letztlich ein zweiteiliges Werk, das am 14. Oktober 1903 in der Birmingham Townhall uraufgeführt wurde. „Die Apostel (The Apostles wurde schon bald auch in London, Leeds, Manchester und New York aufgeführt. Für eine Aufführung in Deutschland übersetzte der Elgar-Kenner, Dirigent und Komponist Julius Buths (1851-1920), der seit 1890 Musikdirektor in Düsseldorf war, das Werk. 

Köln 1904

Bei Recherchen zu einer angeblichen deutschen Erstaufführung von Elgars Oratorium im Jahr 1905 mit der Sopranistin Fanny Opfer in Berlin habe ich die Kritiken der ersten Aufführungen in Deutschland herausgesucht. Die deutsche Erstaufführung der „Apostel“ fand am 22. Mai 1904 in Köln im Rahmen des 81. Niederrheinischen Musikfests unter der Leitung von Fritz Steinbach statt. Dabei sang Ottilie Metzger die Alt-Partie der Maria Magdalena. Cäcilie Rüsche-Endorf hatte die Sopranpartien der heiligen Jungfrau und des Erzengels Gabriel. Der Bass Felix von Kraus sang Jesus, der Tenor Heinrich Knote Johannes. In einer weiteren Basspartie war Theodor Bertram zu hören (vermutlich als Petrus).


Paul Hiller besprach das Konzert ausführlich in der Neuen Zeitschrift für Musik (71. Jg. 1904, S. 453): „Man weiß, dass Elgar durchaus moderner Musiker ist. In diesem Sinne sind auch seine Ausdrucksmittel gewählt. Ein mehr weltlich-üppiger Farbenreichtum, zu dem eine glanzvolle Instrumentierung nicht wenig beiträgt, zeigt, in wie ausgedehntem Masse der Komponist über die Mittel der heutigen orchestralen Sprache verfügt. Die Erfindung, zumal was das Melodische betrifft, tritt gegen das Technische einigermassen zurück. So erklärt sich eine zeitweise zu beobachtende Eintönigkeit, während das Fehlen bedeutsamer oder auch packender Steigerungen mehr auf eine gewisse stilistische Absicht zurückzuführen sein dürfte. Solostimmen und Chöre stellen Elgars Kunst der Stimmenführung ein rühmliches Zeugnis aus. Ungemein gewinnt das ganze Apostelwerk durch die ihm innewohnende erhebende Stimmung, welche beweist, dass Elgar die feinen religiösen Motive des Stoffes in seine Musik zu übertragen wusste; einigen Hauptmomenten verleiht der überzeugende Ausdruck frommer Weihe eine strahlende künstlerische Gloriole. Der einheimische Dirigent der Konzerte, Fritz Steinbach, hatte sich die Mühe nicht verdriessen lassen, die Aufführung der „Apostel“ zu einer würdigen zu gestalten; das ist ihm hinsichtlich der Chöre und des 141 Musiker aufweisenden Orchesters durchaus gelungen. Hervorragendes leisteten von den Solisten Dr. Felix v. Kraus, ein fein empfindender, hoheitsvoller Jesus, und Frau Ottilie Metzger-Froitzheim vom Hamburger Stadttheater, die den Gesängen der Maria Magdalena und sonstigen Altsoli durch sinngemässe Auffassung und edlen Ton zu schöner Wirkung verhalf. Weiter bewährten sich der Münchener Tenorist Heinrich Knote und Theodor Bertram aufs beste. Neben Frau Rüsche-Endorf vom Elberfelder Stadttheater wirkte auch Herr Orelio von Amsterdam, dessen Gesangstechnik zwar nicht überall einwandfrei ist, verdienstlich mit.“


Ottilie Metzger-Froitsheim (1878-1943) war auch als Ottilie Metzger-Lattermann bekannt, je nachdem mit wem sie gerade verheiratet war. Die Altistin hatte ihr Debüt 1898 in Halle, 1903-1915 war sie in Hamburg. Mehrmals trat sie bei den Bayreuther Festspielen auf. Ab 1927 war sie nur noch als Gesangslehrerin tätig. Sie wurde in der Reihe Opfer der Nazis an dieser Stelle schon biographisch gewürdigt (siehe Link am Ende).


Cäcilie Rüsche-Endorf (1873-1939) hatte nach Studien in Köln und Mailand ihr Debüt 1894 in Zürich als Agathe in „Der Freischütz“. 1896 bis 1902 war sie an der Oper Köln, anschließend in Elberfeld, Hannover und Leipzig. Neben Aufritten in Berlin, Bayreuth und München hatte sie internationale Engagements in Amsterdam, Rotterdam, London, Prag und Brüssel. 

Berlin 1906

Fast zwei Jahre Jahr später kamen „Die Apostel“ in Berlin nicht sonderlich gut bei der Kritik an. Nach dem Konzert der Singakademie unter der Leitung von Georg Schumann am 23. Februar 1906 schrieb die Neue Zeitung für Musik (73. Jg. 1906, S. 225-226): „Der Eindruck war nicht so stark, wie ich nach meiner Kenntnis Elgarscher Werke erwartet hatte. Es fehlt zunächst der Eindruck eines Ganzen. Viele Episoden sind aneinander gefügt, ohne dass sie sich überzeugend zu einem künstlerischen Ganzen verdichten. Dies fällt schon beim Lesen des Textes auf, und auch die Musik vermag diesem Mangel nicht abzuhelfen, trotz der Leitmotive, die in beträchtlicher Zahl das ganze Werk durchziehen. Sie sind nicht von stärkster Ausdruckskraft,  nicht ein Extrakt konzentrierter Empfindung im höchsten Sinne, zeigen aber doch ein eigenes Gepräge und Charakter. Der virtuosen Orchesterbehandlung haben die meisten der eindrucksvollen Stellen viel zu danken. Es sind anderen allerdings nicht sehr viele für ein so ausgedehntes Werk. So manche Viertelstunde vergeht, während derer die Musik sich ziemlich träge vorwärtsschiebt, ohne dass irgend welche besonderen Züge die Aufmerksamkeit auf sich lenken.“ Nach dem ausführlichen Verriss von Elgars Musik war H. Leichtentritt immerhin gnädig mit den Mitwirkenden, die er am Ende kurz erwähnte: „Die Aufführung war ziemlich gut. Man kann das Werk aber wohl noch besser darstellen. Die Soli waren im allgemeinen gut besetzt durch Frl. Clara Erler, Frau Walter Choinanus, die Herren Senius, von Milde, Heinemann, Günther.“


Die Singakademie in Berlin - heute Maxim-Gorki-Theater
Foto: Klaus J. Loderer

Gemeint waren die Sopranistin Clara Erler und die Altistin Iduna Walter-Choinanus. Clara-Senius Erler war eine bekannte Liedsängerin und später am Konservatorium in Liepzig tätig. Der erwähnte Tenor war vermutlich ihr Mann Felix Senius (1868-1913). Iduna Walter-Choinanus war damals eine bekannte Konzertaltistin. Georg Schumann (18666-1952), der die Leitung hatte, war nach Tätigkeiten als Dirigent und Chorleiter in Danzig und Bremen seit 1900 Direktor der Singakademie in Berlin. Er war ab 1918 Vizepräsident und ab 1934 Präsident der Preußischen Akademie der Künste. Er gehörte zu den Gründern der Genossenschaft deutscher Tonsetzer, der heutigen GEMA. Er hatte prägenden Einfluss auf das Berliner Musikleben und war auch als Komponist tätig.


Auch in der Vossischen Zeitung (Sonntagmorgenausgabe vom 25. Februar 1906) findet man eine Kritik. F. v. H. blieb eher kühl: „Der Komponist, ein Engländer, steht jetzt im 49. Lebensjahre, ist aber in Berlin bisher wenig beachtet worden. Weingartner nahm sich hier zuerst seiner Orchestervariationen an und brachte im vergangenen Winter eine Ouverture von ihm. Beide Werke hatten nicht mehr als Achtungserfolge. Auswärts hatte Elgar mehr Glück, und sein Oratorium „Gerontius“ hinterließ in Düsseldorf 1902 wenn auch keinen tiefen, so doch günstigen Eindruck.“ Der Kritiker gab sich überheblich: „Die umfassende Gestaltungskraft, welche der deutsche Komponist in der Verwendung seiner Leitmotive beweist, in dem er diese je nach der Situation verschieden färbt und nicht nur rein äußerlich zitiert, sondern stets dem Ganzen als organischen Teil verschmilzt, geht dem Engländer ab. Die Wiederholungen der Leitmotive Elgars fallen einem schließlich auf die Nerven und stören oft grell die allgemeine Abtönung einer Stelle. […] Die eigentlich melodische Erfindung ist überhaupt nicht Elgars starke Seite, er erscheint oft trocken und, wenn das nicht der Fall ist, vielfach recht gesucht.“


Den Opernfreund wird interessieren, dass wenige Zeilen später eine kleine Notiz zu finden ist: „Diesen Mittwoch findet die erste Aufführung von Richard Strauß’ „Salome“ am Breslauer Stadttheater statt. Es ist dies die erste Aufführung nach der Dresdener Uraufführung.“ Der Strauss-Freund wird die Nase rümpfen, wie man den Meister damals in der Zeitung geschrieben hat. Richard Strauss begleitete übrigens die schon erwähnte Ottilie Metzger bei Auftritten am Klavier.

Berlin 1908

Doch zurück zu „Die Apostel“. Zwei Jahre später, am 14. Februar 1908,  gab es eine weitere Aufführung mit der Singakademie in Berlin. Wieder hatte Georg Schumann die Leitung. Nun sang auch die schon erwähnte Sopranistin Fanny Opfer (1870-1944), die vor allem als Lied- und Oratoriensängerin tätig war. Die Altpartie wurde wieder von Iduna Walter-Choinanus gesungen. Die männlichen Rollen waren besetzt mit George A. Walter, Hermann Weißenborn, Anton Sistermann und Felix Lederer-Prina. Die Orgel spielte Hermann Kawerau (1852-1909), der 1879-1901 Organist an der Matthäuskirche und 1891-1909 Vizedirektor der Singakademie war. 


Adolf Schultze schrieb im Musikalischen Wochenblatt (39.1908, 9, 27. Februar 1908. 225) über das Konzert: „Die Sing-Akademie brachte in ihrem vierten dieswinterlichen Konzert (Singakademie – 14. Februar) unter Leitung ihres Direktors Georg Schumann das Oratorium „Die Apostel“ von Edward Elgar zur erneuten Aufführung. Wie gelegentlich seiner Erstaufführung an dieser Stelle vor etwa zwei Jahren hinterliess das Werk, das, obschon nicht frei von Mängeln, zweifellos zu den wertvolleren Erzeugnissen der heutigen Oratorien-Literatur zählt, in einzelnen Teilen wieder ein grosse Wirkung. Stimmung und Phantasie spricht aus dieser Musik; seinen guten Geschmack und seine gewandte Technik erweist der Komponist auch in diesem Werk. Abgesehen von einigen Banalitäten im Melodischen und Harmonischen drückt er sich gebildet aus, klar hat er gestaltet, mit Wohlklang den Chor und das Orchester, das Hauptträger der musikalischen Grundgedanken ist, erfüllt. Und wenn unserem, an die reiche Polyphonie Joh. Seb. Bachs gewöhnten Chor der Chorsatz auch reichlich homophon gehalten scheint, so wird man damit durch den Wohlklang, die edle Melodik und vielfach auch durch die Kraft dieser Chöre schnell versöhnt. Zu den stimmungsvollsten und wirksamsten Episoden des zweiteiligen Werkes zählen der Prolog, die beiden Abschnitte „Die Berufung der Apostel“ (auf dem Berge, Nach, Morgen, Dämmerung, Morgen-Psalm) und „Am Wege“ (Seligpreisungen) im ersten Hauptteil, ferner die Abschnitte „Der Verrat“ (Gethsemane, Im Palast des Hohenpriesters, Im Tempel) „Golgatha“, „Am Grabe“ mit dem reizvollen Engelchor „Was sucht ihr den Lebend’gen unter den Toten“ und „Himmelfahrt“ im zweiten Teil. Recht matt in Ausdruck und Farbe, ermüdend in seiner allzu langen Ausdehnung ist der Abschnitt „Am Galiläischen Meer“, zweifellos der schwächste Teil des Werkes. Die Aufführung, in allen Teilen. Sorgsam vorbereitet, wurde dem anspruchsvollen Werke vollauf gerecht. Mit vollendeter Klangschönheit verbanden der Chor und das Philharmonische Orchester höchste technische Sauberkeit, in der Kraft wie Zartheit des Vortags folgten sie schmiegsam der Auffassung ihres Leiters Herrn Prof. Schumann. Die Solopartien werden durch die Damen Fanny Opfer (Die heilige Jungfrau, Der Engel) und Fr. Walter-Choinanus (Maria Magdalena), sowie durch die Herrn George Walther (Johannes), Herm. Weissenborn (Petrus), Anton Sistermans (Judas) und Fel. Lederer-Prina (Jesus) angemessen vertreten. Den Orgelpart führte Hr. Prof. Kawerau mit Sicherheit und Sachkenntnis aus.“


Mit George A. Walter und Anton Sistermans hatte Schumann eine Starbesetzung zusammengestellt. George A. Walter (1875-1952) war ein amerikanischer Tenor, Gesangslehrer und Komponist. Das Zentrum seiner Gesangskarriere war allerdings Deutschland. Nach 1900 trat er als Konzertsänger auf und wurde durch seine Aufführungen von Werken von Johann Sebastian Bach und Georg Friedrich Händel bekannt. Verschiedentlich trat er bei den Händelfestspielen in Göttingen auf. Er war später Gesangslehrer an den Musikhochschulen in Stuttgart und Berlin. Dietrich Fischer-Dieskau war einer seiner Schüler. Der Bassbariton Hermann Weißenborn (1876-1959), ein Schüler von Raimund von Zur Mühlen, hatte eine kurze Karriere als Konzert- und Oratoriensänger und wurde dann als Gesangslehrer bekannt. Der niederländische Bariton Anton Sistermans (1865-1926) war um 1900 ein berühmter Sänger und sang 1896 die Uraufführung der Orchesterfassung von Mahlers „Lieder eines fahrenden Gesellen“ in Berlin. Mehrere Komponisten widmeten ihm Werke.

 

Elgars Werk konnte sich nie im deutschen Konzertleben etablieren. Zu den wenigen Aufführungen gehören jene im Magdeburger und Halberstädter Dom 2017 unter der Leitung von Barry Jordan.


Der Ort der beiden Berliner Aufführung war die Singakademie. Dieser Konzertsaal wurde 1825-1827 errichtet und im Zweiten Weltkrieg zerstört. Im Gebäude befindet sich heute das Maxim-Gorki-Theater. 

 


Biographische Hinweise und Hörproben zu Ottilie Metzger findet man hier:

https://opernloderer.blogspot.com/2017/11/ottilie-metzger-lattermann.html


Biographische Hinweise zu Fanny Opfer und Hörproben findet man hier:

https://opernloderer.blogspot.com/2021/01/opfer-der-nazis-fanny-opfer.html

 

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