Berliner Operngeschichte: „Hoffmanns Erzählungen“ und „Der Gaukler unserer lieben Frau“ (Le jongleur de Notre-Dame) in der Komischen Oper 1905

„Nach dem zweiten Akte wurde Herr Gregor stürmisch gefeiert“ 

– Eröffnung der Komischen Oper in Berlin mit Jacques Offenbach und Jules Massenet im November 1905 – 

von Klaus J. Loderer


Sehr unterschiedlich waren die Kritiken über die beiden ersten Premieren an der neu eröffneten Komischen Oper in Berlin 1905. Offenbachs „Hoffmanns Erzählungen“ wurde gefeiert. Hans F. Schaub berichtete knapp in der Neuen Zeitschrift für Musik (72. Jg, Bd. 101, Heft 49, 29. November 1905, S. 999): „Mit „Hoffmanns Erzählungen“ von Jacques Offenbach öffnete die neuerbaute „Komische Oper“ am Weidendamm am 17. Nov. der Öffentlichkeit ihre Pforten. Der Erfolg war ein glänzender. Bertram überragte alle seine Partner, aber auch Frau Hedwig Kaufmann, Frl. Belmée und Herr Nadolowitsch zeigten, dass ihr Können und Wollen ein derartiges ist, dass wir uns für die Zukunft der Komischen Oper das Beste zu versprechen berechtigt sind. Chor, Orchester, Inszenierung – alles war entschieden auf der Höhe. Herr Kapellmeister Franz Rumpel leitete mit fester Hand die Aufführung.“ Nicht so begeistert war er Kritiker der Vossischen Zeitung von Massenets „Der Gaukler unserer lieben Frau“.


Giulietta-Akt – Hoffmanns Erzählungen an der Komischen Oper Berlin 1905
Berliner Leben 1905, 12


Ein neues Opernhaus: die Komische Oper in der Friedrichstraße

Die Komische Oper, um die es hier geht, ist nicht zu verwechseln mit der nach dem Zweiten Weltkrieg eröffneten Komischen Oper in der Behrensstraße. Es gab schon ab 1905 eine gleichnamige Oper. 


Das Berliner Opernpublikum erwartete im November 1905 neugierig die Eröffnung der Komischen Oper in der Friedrichstraße. Im Zentrum der Hauptstadt war in nur elf Monaten Bauzeiten ein neues Opernhaus errichtet worden als Privatprojekt von Hans Gregor, der an den Theatern Görlitz und Barmen-Elberfeld schon Erfahrung als Theaterdirektor gesammelt hatte. Für den Samstag 18. November 1905 wurde die Eröffnungsvorstellung angekündigt.


Die 1905 eröffnete Komische Oper an der Friedrichstraße in Berlin
(Berliner Architekturwelt 1906)

La belle Otéro und Gemma Bellincioni gastieren in Berlin

An der Königlichen Oper lief in dieser Woche Aubers „Der schwarze Domino“ mit Richard Strauss als Dirigent. Am 22. November war davon immerhin die 100. Vorstellung. Außerdem gab es „Fest auf Solhaug“ von Wilhelm Stenhammar nach Ibsen. Am 20. November 1905 wurde ein besonderes Jubiläum gefeiert. In Erinnerung an die Uraufführung von Beethovens „Leonore“, der ersten Fassung von „Fidelio“, hundert Jahre zuvor, dirigierte Richard Strauss die Premiere des Werks. In der folgenden Woche war die 250. Vorstellung von Wagners „Tannhäuser“. Im Theater des Westens gab es „Die lustigen Weiber von Windsor“ und es gastierte dort gerade die italienische Opernsängerin Gemma Bellincioni, bekannt durch die Uraufführung von Pietro Mascagnis „Cavalleria Rusticana“ und Umberto Giordanos „Fedora“. In den anderen Theatern liefen zum Beispiel Shakespeare-Stücke wie „Ein Sommernachtstraum“ (Neues Theater) und „Der Kaufmann von Venedig“ (Deutsches Theater), andere Klassiker wie Schillers „Die Jungfrau von Orleans“ (Berliner Theater) und Grillparzers „Sappho“ im als Kroll geläufigen Neuen Königlichen Operntheater und eine Brandbreite an Stücken wie „Der Prinzgemahl“ (Residenz-Theater), „Der letzte Troubadour“ (Trianon-Theater), „Stein unter Steinen“ (Lessing-Theater), „Charley’s Tante“ (Thalia-Theater). Das Schauspielhaus am Gendarmenmarkt gab Lustspiele von Oskar Blumenthal. Für Unterhaltung sorgte im Metropol-Theater (dem vormaligen Lindentheater, in dem die nach dem Zweiten Weltkrieg gegründete Komische Oper ihren Sitz hat) die große Jahresrevue „Auf, in’s Metropol!“ mit Musik von Victor Hollaender. Im „Wintergarten“ gastierte gerade ein großer Star der Jahrhundertwende, die als La belle Otéro berühmte Tänzerin und Sängerin Carolina Otero, berüchtigt durch ihre angeblichen Affären mit Kaisern, Zaren, Königen und Fürsten. Bozena Bradsky trat im Passage-Theater mit einer Parodie auf Isadora Duncan auf. Die Konzertfreunde hatten am Freitag 17. November 1905 die Auswahl zwischen der Pianistin Clotilde Kleeberg im Beethovensaal, dem Bassbariton Arthur van Eweyk im Bechstein-Saal, dem Pianisten Géza Nagy im Oberlichtsaal der Philharmonie und dem II. Elite-Konzert in der Philharmonie mit der Violinistin Wilhelmine Norman-Neruda, der Sopranistin Franceschina Prevosti, die Koloratursopranistin Hermine Bosetti und dem Bariton Karl Scheidemantel.

Die politischen Schlagzeilen der Woche wurden bestimmt durch die Unruhen in Russland. Das Kaiserpaar war gerade nicht in Berlin. Es befand sich auf einer Reise in Nürnberg.

 

Vossische Zeitung vom 17. November 1905

Die erste Premiere: „Hoffmanns Erzählungen“

Die Eröffnungspremiere der neuen Komischen Oper war „Hoffmanns Erzählungen“. Vor der ersten öffentlichen Vorstellung am Samstagabend fand am Freitagabend eine Generalprobe von „Hoffmanns Erzählungen“ vor geladenen Gästen statt. Mit dabei war der Opernkritiker der Vossischen Zeitung. M.M. berichtete schon in der Morgenausgabe des 18. November begeister: „Als ich zehn Minuten nach Mitternacht die Komische Oper verließ, hatte die Generalprobe zu Jacques Offenbachs phantastischer Oper „Hoffmanns Erzählungen“ noch nicht ihr Ende erreicht. Ich muß mich deshalb darauf beschränken, zu berichten, daß die Sache des Herrn Direktor Gregor einen glänzenden Sieg davongetragen hat: Berlin wird also endlich, wofern die guten Absichten nicht schlechteren weichen, die Kräfte nicht erlahmen werden, eine zweite der Reichshauptstadt würdige Oper haben. Die prächtigen Dekorationen, die überaus geschmackvollen Kostüme, ein Ensemble von zum Teil hervorragenden Kräften, ein Orchester, das höheren Anforderungen genügt, eine feinsinnige, lebendige Inszenierung – das alles wurde von einem interessanten und interessierten geladenen Publikum dankbar anerkannt. Nach dem zweiten Akte wurde Herr Gregor stürmisch gefeiert. Ich werde noch Weiteres über den Abend berichten.“

 

Noch in der Abendausgabe kam eine ausführliche Rezension, die sowohl auf die privaten Opernhausversuche in Berlin um 1900 einging wie auf die Rezeptionsgeschichte von „Hoffmanns Erzählungen“ in Berlin. Diese 1881 in der Pariser Opéra-Comique uraufgeführte Oper verschwand nach dem Brand des Wiener Ringtheaters sofort wieder von den Spielplänen. Allerdings währte die Lücke nicht bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts, wie immer wieder behauptet wird. Bereits um 1900 wurde die Oper mehrfach gespielt – nur eben nicht am königlichen Opernhaus Berlin. Die erste Berliner Aufführung war wohl jene 1899 am Theater des Westens. Außerdem gastierte das königliche Hoftheater Stuttgart 1902 mit dieser Oper im Kroll. Da Offenbach die Oper vor seinem Tod nicht fertiggestellt hatte, ist die Fassungsgeschichte bis heute kompliziert. Die Uraufführung erfolgte etwa ohne den Giulietta-Akt. Gustav Mahler strich in Wien die Rahmenhandlung. Auch in der nachfolgenden Besprechung erkennt man, dass sich die Aufführung in Berlin 1905 von den späteren Fassungen unterschied. So wurde der Giulietta-Akt zwischen dem Olympia-Akt und dem Antonia-Akt gespielt, während heute die Reihenfolge üblicherweise Olympia, Antonia, Giulietta ist. Ob die 1904 in Monte Carlo erstmals eingebaute Diamantenarie und das Septett in Berlin enthalten waren, lässt sich aus dem Text nicht erkennen. Theaterdirektor Gregor und Oberregisseur Maximilian Moris versuchten die Oper auf den Kern der Offenbachschen Musik zurückzuführen und erarbeiteten eine eigene Fassung. Durch ihre Recherchen kam die „Brillen-Arie“ in den Olympia-Akt.


Bühnenbildumbau in der Komischen Oper bei Hoffmanns Erzählungen
Berliner Leben, 1906, 2


Die Vossische Zeitung vom 18. November 1905

„Von den mannigfaltigen Versuchen, in Berlin eine zweite Oper von höherer Bedeutung zu begründen, ist bisher noch keiner gelungen. Das Theater des Westens setzte unter Max Hofpauer mit Tschaikowskys „Eugen Onegin“ sehr respektabel ein, wurde dann allmählich schlechter und schlechter, bis es fast ein ausgesprochenes Operetten-Theater wurde. Auch der Direktor Alois Prasch hat es nicht verstanden, dem Theater eine künstlerische Physiognomie zu geben, die ihm ein höheres Interesse sicherte. Mit großen Worten und Gebärden wurde die Nationaloper ins Leben gerufen, um nach kurzer Zeit ihres Bestehens in dem unmöglichen Hause am Weinbergsweg ihr Dasein zu beschließen, und kläglichen Schiffbruch erlitt die Oper, mit der Ernst v. Wolzogen einem dringenden Bedürfnis abzuhelfen versprochen hatte. Niemals ist die Sache einer zweiten Berliner Oper so beim rechten Ende angefaßt worden, wie es jetzt Herr Direktor Gregor tut. Er hat sich in einer sehr günstigen Gegend ein eigenes, modernen Ansprüchen genügendes Haus gebaut, über dessen konstruktive Anlage und architektonischen Details hier bereits eingehend berichtet worden ist. Es bleibt mir nur zu bemerken, daß die Akustik nicht zu wünschen übrig läßt. Wenigstens hörte ich von dem Platz aus, den ich in der Mitte des Parketts inne hatte, alles in vollkommener Klarheit und Plastik.

Der Gedanke, mit Jacques Offenbachs phantastischer Oper „Hoffmanns Erzählungen“ anzufangen, muß sehr glücklich genannt werden. Dieses posthume Werk des genialen Satirikers, über dessen „kunstverderbliche Tendenzen“ man heute noch gelegentlich zetert, verdient es schon, öfter in dem Spielplan eines unserer Opernhäuser zu erscheinen. Merkwürdigerweise ist das königl. Opernhaus an ihm vorübergegangen und hat damit einen sicheren Erfolg aus der Hand gegeben.; das ist um so merkwürdiger, als die Aufführungen von „Hoffmanns Erzählungen“ am Hof-Operntheater in Wien den Beweis geliefert hatte, daß auch ein Hof-Theaterpublikum seine große und dauernde Freude an den eigentümlichen Reizen der Oper haben kann. Vor Jahren erschienen „Hoffmanns Erzählungen“ in einer sehr guten Aufführung im Theater des Westens; ich erinnere nur an die hervorragende Leistung des Herrn Steffens, der jetzt in Frankfurt a. M. wirkt, und des Fräuleins Sophie Heymann, die eine entzückende „Olympia“ war. Dann brachte uns das Werk noch in einer sehr fein abgestimmten Aufführung die Stuttgarter Hofoper, als sie nach dem Brande ihrer heimatlichen Wirkungsstätte im Neuen Königlichen Operntheater gastierte. In der Tat – das Werk verdient die Vernachlässigung, die es in Berlin erfahren hat, nicht. Das hat Herr Gregor mit sicherem Blick erkannt, und der starke Erfolg, den es in der Generalprobe davongetragen hat, der ihm allem Anschein nach für eine große Reihe von Aufführungen treubleiben wird, wird dem jungen, von so erfreulich künstlerischen Tendenzen geleiteten Unternehmen die willkommene materielle und ideelle Stütze sein. Das Buch von „Hoffmanns Erzählungen“ mit seinen wechselnden Milieus, gehört zu den besten Opernbüchern, und die Musik zeigt die reiche Erfindungsgabe und die technische Meisterschaft Offenbachs, der seine Kräfte schließlich leider an Operetten verzettelt hat, in hellstem Lichte; es ist bedauerlich, daß er sie nicht öfter einem ernsthaften Genre gewidmet hat, daß er nicht die Spieloper mehr kultivierte, die durch ihn eine wesentliche Bereicherung hätte erfahren können. Wie schön und wirkungsvoll sind viele Partien dieser mit so leichter Hand hingeworfenen Musik, deren Melodien süß und ohrenfällig sind, ohne banal zu werden; wie entzückend ist die bekannte „Barcarole“ des zweiten Aktes, wie frisch wirken die Studentenchöre, welch’ eine Zierlichkeit ist der Puppe Olympia-Walzer, welch’ anmutigen Schwung hat Antonias Lied, wie charakteristisch ist die Totentanz-Musik des dritten Aktes, wie fest und feingefügt sind die Ensemblesätze!

Das Orchester wurde seiner Aufgabe in schöner Weise gereicht, der ihm überstellte Dirigent Herr Franz Rumpel ist offenbar ein sehr tüchtiger Musiker, der seinen Leuten nicht nur Korrektheit beizubringen, sondern sie auch zu verständigen und empfindungsvollem Vortrag anzuhalten versteht. Für die neue Einrichtung und Inszenierung zeichnete Herr Oberregisseur Maximilian Moris verantwortlich. Es ist ihm in schönster Weise gelungen, mit der alten Opernschablone zu brechen. Es gab überaus lebendige Bühnenbilder; besonders zeigte sich der Chor in einer Weise diszipliniert, wie wir es nicht oft erleben. Unter den Darstellern ragte der unserem königlichen Opernhause abhanden gekommene Herr Theodor Bertram als Coppelius, Dachertutte und Mirakel durch die Fülle seines sonoren Baritons, durch die Eindringlichkeit seiner Deklamation und die Schärfe seiner Charakteristik hervor. Auch Frau Hedwig Kauffmann-Franzillo hat dem königlichen Opernhause angehört. Hier steht sie besser im Ensemble; ihre Olympia, Giulitta und Antonia waren Leistungen, die ihr wohlverdienten, lebhaften Beifall eintrugen. Herr Jean Nadolowitsch (Hoffmann) ist ein Spieltenor von sehr angenehmen Qualitäten. Seine Stimme ist nicht groß, aber sehr sympathisch und wohlgeschult, seine Vortragsmanieren sind fein und sein Spiel ist gewandt. Sonst tat sich noch Harriet Behnée hervor als Niklaus, ferner Herr Stefan Delwary als Diener; er scheint eine sehr verwendbare komische Kraft zu sein. Die anderen werden wohl bei späterer Gelegenheit noch ausgiebigere Proben ihres Könnens ablegen und dann auf eingehendere Berücksichtigung rechnen können. 

Die von Walser entworfenen, von Georg Hartwig u. Co. ausgeführten Dekorationen zeugten von einem sehr feinen Sinn für das moderne Bühnenbild. Besonders eigenartig wirkte die Dekoration des ersten Aktes: Ein schmaler Saal mit hohen Säulen im Hintergrunde, in dem die Puppe Olympia sich produziert. Ein wunderbar prächtiges Bild bot das venezianische Milieu des zweiten Aktes. Die von der Firma Alexander Blaschke u. Co in Wien ebenfalls nach Walserschen Skizzen hergestellten Kostüme müssen ob ihrer geschmackvollen Formen und Farben, ob der bewunderungswürdigen Echtheit ihres Aussehens auf das höchste gelobt werden.“


Besetzung der Eröffnungsvorstellung der Komischen Oper 1905
(Neuer Theater-Almanach 1907)

Maximilian Moris und Karl Walser

Oberregisseur Maximilian Moris (1864-1946) inszenierte. Er war nach Regietätigkeiten in Glogau, Lübeck, Nürnberg, Trier, Chemnitz, Basel, Brünn und Linz an der Hofoper Dresden, wo er die Uraufführung von Richard Strauss’ „Feuersnot“ und die deutsche Erstaufführung von Puccinis „Tosca“ inszenierte. Der Ritter des  preußischen Kronordens IV. Klasse wurde 1911 Direktor der Kurfürstenoper in Berlin, wo er Ermanno Wolf-Ferraris „Schmuck der Madonna“ uraufführte, 1913 Oberregisseur der Neuen Oper (später Volksoper) Hamburg, deren Direktion er 1914 übernahm. Im Ersten Weltkrieg machte er ein deutsches Fronttheater in Belgien. 1923-1928 war er Oberspielleiter am Deutschen Nationaltheater in Weimar. 1930 leitete er das Sternsche Konservatorium in Berlin.

 

Bühnenbild und Kostüme entwarf Karl Walser (1877-1943), der ältere Bruder des Schriftstellers Robert Walser. Er war 1905 neben Prof. R. Leffler und Arthur Biberfeld, der als Architekt die Fassade des Opernhauses entworfen hatte, Bühnen- und Kostümbildner an der Komischen Oper. Karl Walser ging nach einer Lehre als Dekorationsmaler in Stuttgart und dem Besuch der Kunstgewerbeschule Straßburg und einer Tätigkeit in München schließlich nach Berlin, wo er sich als Künstler etablierte und Mitglied der Berliner Secession wurde. 1903 arbeitete er am Neuen Theater am Schiffbauerdamm für Max Reinhardt als Bühnenbildner, 1905 holte ihn Hans Gregor an die neue Komische Oper. Neben Buchgestaltungen und -illustrationen schuf er zahlreiche Wandgemälde. Ab 1925 lebte er am Bielersee.


Die musikalische Leitung der Produktion, die schließlich auf fast 600 Vorstellungen kommen sollte, hatte Franz Rumpel, neben Fritz Cassirer und Egisto Tango einer von drei Kapellmeistern der neuen Komischen Oper.


Hans Gregor und der Leitungsstab der Komischen Oper 1905
Berliner Leben, 1905, 9


Ein junger rumänischer Tenor: Jean Nadolowitsch

Der rumänische Tenor Jean Nadolowitsch (1875-1966), der eine bemerkenswerte, aber durch die politischen Umstände kurze Karriere machte, sang den Hoffmann. Er war damals ein aufgehender Stern am Opernhimmel, der schließlich in einem ganz anderen Bereich für den Gesang wichtig wurde. Nach einem Studium von Medizin und Musik konzentrierte er sich in Wien schließlich auf den Gesang. 1905 machte er seine Abschlussprüfung am Konservatorium. Bei seinen Auftritten in Graz überschlugen sich die Kritiken. Gregor verpflichtete den Absolventen an die Komische Oper, wo er in Rollen wie Cavaradossi, Pelléas, Rodolfo und Marcello in Leoncavallos „Bohème“ brillierte. Schnell entwickelte er sich zum gefragten Sänger. Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs waren für den rumänischen Sänger in Deutschland keine Auftritte mehr möglich. 1915 promovierte er an der Universität Berlin und widmete sich als Arzt der Behandlung von Kriegsinvaliden, die er mit „morphokinetischer Diagnose und antagonistisch synergetischen Prinzipien“ behandelte. 1917 gründete er das Internationale Institut für angewandte Physiologie und Gesangspädagogik in Berlin und befasste sich intensiv mit Stimmbildung. Schwierig wurde es für ihn im Dritten Reich. 1944 wurde er in das Konzentrationslager Theresienstadt verschleppt. Nach dem Zweiten Weltkrieg führte er sein Institut weiter.

 

Die Sopranistin Hedwig Kauffmann-Franzillo (Olympia, Giulietta, Antonia, Stella) ist heute als Hedwig Francillo-Kauffmann (1878-1948) bekannt. Der Name entstand als Künstlername aus Franzl (die Mutter) und Kaufmann (der Vater). Nach Studien in Wien, Dresden und Mailand gab sie ihr Debüt in Stettin. Sie war an den Hoftheatern in Wiesbaden und München und von 1903 bis 1908 an der Hofoper Berlin. Ab 1905 sang sie auch an der Komischen Oper. Es folgten Engagements an der Hofoper Wien, wo sie zur Kammersängerin ernannt wurde, und am Stadttheater Hamburg. Nach der Eheschließung mit einem brasilianischen Diplomaten zog sie sich von der Opernbühne zurück. Sie unterrichtete in Berlin und am Mozarteum Salzburg. 1947 emigrierte sie nach Brasilien, starb aber kurz darauf in Rio de Janeiro.

 

Ebenfalls zuvor am königlichen Opernhaus beschäftigt war der Kammersänger Theodor Bertram (1869-1907), der Lindorf, Coppelius, Dapertutto und Mirakel sang. Der in Stuttgart geborene Bariton debütierte nach Unterricht bei seinem Vater, dem Opernsänger Heinrich Bertram, am Stadttheater Ulm. Seine Auftritte führten ihn u.a. nach New York, München, Wien, Stockholm, Prag, London, Hamburg, Zürich. Sein Leben endete tragisch durch Selbstmord in Bayreuth.


Der amerikanische Tenor Stefan Delwary, auch bekannt als Stefan Borodin-Delwary (geboren 1873), sang Andreas, Cochenille, Pitichinaccio und Franz. Er trat in Lübeck, Ulm und Köln auf. Zwischen 1907 und 1909 sang er an der Metropolitan Opera in New York in „Die Meistersinger von Nürnberg“ und „Manon Lescaut“.

 

Die amerikanische Altistin Harriet Behnée (1874-1963) sang Niklaus. Hedwig Weingarten sang die Stimme der Mutter. Sie sang 1901 bei der Uraufführung von „Gugeline“ von Ludwig Thuille in Bremen. 1908 sang sie in Düsseldorf in „Tannhäuser“. In weiteren Rollen waren Ludwig Mantler (Luther), Gustav Fünfgeld (Nathanael), Richard Wissiak (Hermann), Peter Kreuder (Spalanzani), Hans Thomaschek (Crespel) und Willi Brose (Schlemihl) zu sehen.


Hedwig Kauffmann-Franzillo
Berliner Leben, 1906, 6

Die zweite Premiere: „Der Gaukler unserer lieben Frau“

Die nächste Premiere folgte am Donnerstag 23. November 1905. Die Vossische Zeitung brachte in der Morgenausgabe vom 24. November 1905 eine Kurzkritik, die mit den Initialen M.M. unterzeichnet ist: „Die „Komische Oper“, die sich mit „Hoffmanns Erzählungen“ so vielverheißend auftrat, hat mit Jules Massenets Mirakel „Der Gaukler unserer lieben Frau“, das gestern seine erste Aufführung erlebte, leider keinen Erfolg gehabt. Das Buch von Maurice Léna, dem eine alte Legende zu Grunde liegt, ist nicht eben ein schlechtes Buch, aber es ist so handlungsarm, daß man es eher als die Unterlage für ein Oratorium ansehen könnte. Immerhin, wie Franz Liszts „Heilige Elisabeth“ von der Bühne herab ihre Wirkung ausübt, könnte auch dieses Werk ein Opernpublikum interessieren, wenn die Musik nur einigermaßen lebensfähig wäre. Das kann von Massenets nicht behauptet werden; sie ist vielmehr so fade und quälend langweilig, daß alle bescheidenen Vorzüge des Buches verhüllt werden, daß alle Künste der Aufführung – wie schön war das Marienbild im letzten Akt! – nichts fruchteten. Das Werk, über das ich noch einiges zu sagen haben werde, wurde sehr lau aufgenommen, so lau wie man sonst Opern in Berlin nicht aufzunehmen pflegt.“

 

Vossische Zeitung vom 22. November 1905


Die Oper wurde nicht überall so harsch kritisiert. Zur Aufführung in Düsseldorf 1905 findet man in der Neuen Zeitschrift für Musik (1905, S. 1101, Heft 52) den knappen Hinweis: Von interessanten Neueinstudierungen sind neben […] vor allem „Der Gaukler unserer lieben Frau“ […] zu erwähnen.“ Heute ist die Oper nur noch unter ihrem französischen Titel bekannt: „Le jongleur de Notre-Dame“. Massenets Oper – oder genauer das Mirakel in drei Akten – basiert auf der gleichnamigen Erzählung von Anatole France aus der 1892 erschienenen Sammlung „L’Étui de nacre“. Die Uraufführung fand am 18. Februar 1902 in Monte Carlo statt. Die Opéra-Comique in Paris brachte die Oper am 10. Mai 1904 heraus. Dass 300 Aufführungen folgten, zeigt wie populär das Stück in Paris war. In den USA wurde die Tenor-Hauptrolle in den Sopran übertragen. Dass Jean in deutschen Texten neuerdings als Jongleur bezeichnet wird, passt nicht so richtig. Es handelt sich um einen Straßensänger. Insofern ist der wenn auch antiquierte Begriff Gaukler durchaus passender. Die Oper gehört zu jener Gruppe von Werken, in denen harte Entscheidungen geistlicher Obrigkeit von höherer Macht korrigiert werden – vergleichbar Wagners „Tannhäuser“ und Puccinis „Suor Angelica“.

Ein Verriss

Am 25. November 1905 kam in der Morgenausgabe der Vossischen Zeitung eine ausführliche Rezension: „Viel ist über das Mirakel von Jules Massenet nicht zu sagen; sein Wert rechtfertigt kein längeres Verweilen. Und zwar ist es, wie ich bereits gesagt habe, lediglich die Musik, die seine Lebensader unterbindet. Der alte, mehrfach verwendete Legendenstoff ist hier also zugeschnitten: in eine fröhliches Markttagstreiben auf dem Platze vor der Abtei Cluny gerät Jean, der Gaukler; er versucht mit allen Künsten, deren er sich rühmt, die Menge zu unterhalten, aber man verlacht ihn, bis man ihm endlich Gehör schenkt. Er singt ein lästerliches Halleluja vom Wein. Da erscheint der Prior an der Klosterpforte, die Menge zerstreut sich, nur Jean allein bleibt zurück und läßt die schweren Vorwürfe ob seines frechen vor der Statue der Mutter Gottes gesungenen Liedes über sich ergehen. Dem Zerknirschten kündet der Prior, daß die Jungfrau ihm verzeihen würde, wenn er noch heut der Welt entsagte und in das Kloster einträte. Jean kämpft einen schweren Kampf, aber endlich, als man ihm betont, daß er im Kloster nicht nur seiner Seele, sondern auch seines Leibes Heil finden würde, als liebliche Küchendüfte ihm die Nase kitzeln, entschließt er sich, das freie Gauklerleben gegen das gebundene Klosterleben einzutauschen. Das ist der erste Akt. Der zweite Akt zeigt Jean im Kreise der Klosterbrüder, unzufrieden mit seinem Schicksal, denn in diesem Hause, in dem jeder beflissen ist, der Jungfrau Maria zu dienen, fühlt er sich zu garnichts gut und er bittet den Prior, ihn wieder hinauszujagen in die Freiheit. Nun entspinnt sich ein höchst alberner ästhetischer Diskurs über den Wert und die Stellung der Künste zwischen den Mönchen; der Maler, der Musiker, der Dichter, der Bildhauer, alle sagen sie: meine Kunst, das ist die wahre Kunst, und schließlich liegen sie sich derartig in den Haaren, daß der Prior Frieden schaffen muß. Sie entfernen sich mit dem eben fertiggestellten Standbild der Mutter Gottes, und allein zurück bleiben Jean und Bonifazius, der Küchenmeister, ein rundlicher, jovialer Herr, der den armen Jean tröstet, indem er behauptet, daß die Jungfrau Maria garnicht anspruchsvoll sei, daß sie sich zufrieden gebe mit jeder Art der Huldigung, und Jean, der Gaukler, beschließt, ihr auf seine Art zu huldigen. Der dritte Akt führt uns in die Kapelle, wo eben das Standbild der Jungfrau Maria aufgestellt worden ist. DA schleicht sich Jean herein; seine Leier und sein Gauklergerät führt er mit sich. Er wirft die Kutte ab und steht nun in seinem alten zerschlissenen Gauklerkleide vor der Jungfrau Maria, macht ihr seine Referenz und beginnt ihr „auf seine Art“ zu dienen, indem er ihr seine Künste vormacht, indem er singt, marschiert und tanzt ganz wie er es als Gaukler gewöhnt war; schließlich stürzt er erschöpft zu Füßen der Jungfrau nieder, und die Mönche, die ihn beobachtet haben, dringen zornig auf ihn ein und beschuldigen ihn der Kirchenschändung. Da begibt sich ein Mirakel: das Standbild der Jungfrau belebt sich und breitet segnend und schützend die Hände über Jean aus. Engelschöre ertönen, Jean stirbt, der Prior singt: „Selig sind die Einfältigen, denn sie werden Gott schauen“, und die Engel und die Mönche singen „Amen“. Dieser dritte Akt erinnert stark an den zweiten Akt von Maeterlincks „Schwester Beatrix“: dort gibt es zornige Nonnen; die Jungfrau steigt von ihrem Platz und es vollzieht sich auch ein Mirakel: das Rosenwunder.

Diese Legende ist an sich sehr schön, und wie gesagt an dem Maurice Lénaschen Buch (Deutsch von Henriette Marion) liegt es nicht, daß der Bühnenerfolg ausbleibt; es ist Massenets Musik allein dafür verantwortlich zu machen. Gleich der Anfang des ersten Aktes zeigt ein bunt bewegtes Bühnenbild, und Herr Direktor Gregor hatte hier alle Künste des modernen Regisseurs springen lassen. Ja, es war ein prächtiges Bild, und das Auge konnte sich sattsam weiden an den malerischen Dekorationen und den auch hier wieder so erfreulich echt wirkenden Kostümen, an der freien und doch so wohldisziplinierten Bewegung der Masse des Chores; und doch hatte ich ein Gefühl der Unbefriedigung, dessen Grund ich nicht sofort erkennen konnte: es war schon hier, wie mir später ganz klar wurde, die Musik, die allen Zauber der Szene zu nichte machte. Diese Musik ist überhaupt keine Musik; sie ist nur ein sehr minderwertiges Surrogat. Es gibt schlechte und schlecht gearbeitete Musik, die immer noch erträglich ist, die zweckentsprechend ist und den Gesamteindruck eines Bühnenwerkes nicht wesentlich gefährdet, aber das, was Massenet als Musik ausgibt, wirkt in seiner Sterilität, in seiner Seichtheit und Humorlosigkeit so peinvoll, daß der Hörer schließlich aufatmet, wenn die lyrische Schönheit des Schlußbildes mehr das Auge als das Ohr beschäftigt, und wenn schließlich der letzte Ton verklungen ist.

Die Aufführung – Herr Fritz Cassirer leitete mit Umsicht und Empfindung das Orchester – zeigte die löblichen Tendenzen des Theaters wieder in hellstem Lichte. Es tat uns not, daß wir einmal auch auf die Opernbühne die Errungenschaften moderner Ausstattungskunst und Regieführung übertragen sahen. Die Partie des Jean war dem bekannten Operettentenor Herrn Julius Spielmann zuerteilt. Er fand sich gesanglich und schauspielerisch nach Maßgabe seiner Kräfte, die ihn auf ein anderes Gebiet weisen, sehr beachtenswert ab. Der uns als Konzertsänger vorteilhaft bekannte Herr Franz Egénieff hatte die Rolle des Priors übernommen; seine weiche, edle Baßstimme kam vorteilhaft zur Geltung; auch schauspielerisch zeigte er eine nicht gewöhnliche Veranlagung. Sonst gab es sogenannte tüchtige Leistungen; nicht ganz glücklich traf Herr Ludwig Mantler den Küchenmeisterton.“


Max Marschalk, Musikkritiker der Vossischen Zeitung
Berliner Leben 1905, 10

Der Kritiker Max Marschalk

Wer war der Kritiker, der „Le jongleur de Notre-Dame“ so harsch kritisierte? Hinter dem Kürzel M.M. verbarg sich der Name Max Marschalk (1863-1940), der von 1895 bis 1933 Musikkritiker der Vossischen Zeitung war. Zusammen mit seiner Schwester Elisabeth führte Max Marschalk das elterliche Fotoatelier in der Friedrichstraße weiter. Außerdem war er Gesangslehrer und Leiter des Musikverlags Dreililien. Er komponierte Orchesterwerke, Lieder und Opern wie „Das Wichtelchen“. Die Kompositionen „Hannele“, „Die versunkene Glocke“ und „Und Pippa tanzt!“ entstanden zu Werken seines Schwagers Gerhart Hauptmanns, der mit seiner Schwester Margarethe verheiratet war.



Zur Geschichte der Komischen Oper Berlin in der Friedrichstraße:

https://opernloderer.blogspot.com/2020/12/eine-andere-komische-oper-1905.html


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