Filmkritik: Annie Ernaux – die Super-8-Jahre

Eine Familie im Urlaub 

– Die Super-8-Jahre – ein Film über die Familie der französischen Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux – 

von Klaus J. Loderer

Die Familie packt unter dem Weihnachtsbaum Geschenke aus. Ein Junge bläst die Kerzen auf seinem Geburtstagskuchen aus. Kinder im Garten. Vielfach existieren solche Filmszenen aus dem Familienleben, gedreht mit einer Super-8-Kamera. Die Kameraführung ist unruhig, das Bild hüpft, schwenkt eifrig durch den Raum. Solche Filme werden im Familienkreis betrachtet, die Familienmitglieder erinnern sich und kommentieren oder korrigieren. Eventuell werden solche Filmsequenzen als Stilmittel für Rückblicke in Kinofilme eingebaut. Sie sind oft nachgestellt, gelegentlich authentisch. Üblicherweise kommen solche Filme aber nicht über den Familien- und Freundeskreis hinaus.


In diesem Fall ist ein einstündiger Kinofilm ausschließlich aus Super-8-Filmen zusammengesetzt, die in den 1970er-Jahren im Laufe von fast zehn Jahren entstanden sind. Teilweise sind die Filme in die Jahre gekommen, sind verfärbt, haben Beschädigungen.


1972 erwarb Philippe Ernaux, der gerade eine Stelle in Annecy in den französischen Alpen angetreten hatte und zusammen mit seiner an einer Schule unterrichtenden Frau Annie nun ein gutbürgerliches Leben führte, eine Filmkamera und filmte ab da die Familie. In den Filmen sieht man vor allem seine Frau und die beiden Söhne, am Anfang acht und sechs Jahre alt. Er selbst ist recht selten zu sehen. Er dokumentiert die Wohnung mit ihren barockisierenden Tapeten, Familienfeste und vor allem die Reisen. 1982 entstanden die letzten Aufnahmen, damals lebte die Familie schon in Cergy bei Paris. Die Filmschnipsel sind chronologisch aneinandergesetzt. Sie wären an sich banal, würde nicht der unterlegte gesprochene Text die Familiengeschichte erzählen und kommentieren. So erfahren wir vom allmählichen Zerfall einer Ehe. 


Die Sprecherin ist Annie Ernaux, Literaturnobelpreisträgerin des Jahres 2022, die die Bilder sowohl mit ihrem Werdegang als Schriftstellerin wie mit politischen Ereignissen verknüpft. Zu Zeiten der ersten Filmaufnahmen begann sie insgeheim mit dem Schreiben ihres ersten Buchs. 1974 erschien ihr autobiografischer Roman „les armoires vides“. Die politischen Kontakte ihres Ehemanns ermöglichten Reisen in kommunistische Staaten wie Chile, Albanien und die Sowjetunion. Selbstkritisch blickt sie auf eine Reise nach Marokko zurück, bei der sich das politisch so aktive Paar wenig für die einheimische Bevölkerung interessierte und das Leben am Touristenstrand genoss. Annie Ernaux ordnet ihr Leben zwischen Bürgerlichkeit und Herkunft aus dem Arbeitermilieu ein. Trotz der durchaus alternativ eingefärbten politischen Ambitionen in der Familie ihres Mannes, blieb dort das Frauenbild bei der klassischen Hausfrau, was ihrem schriftstellerischen Werdegang eher widersprach. Das reflektiert Annie Ernaux ebenso wie das Verhältnis zu ihrer Mutter.


Nach der Trennung des Paars nahm der Mann die Kamera mit, während die Frau die Filme und den Projektor behielt. So schlummerten die Filme, bis Sohn David Ernaux-Briot sie wiederentdeckte und zusammen mit seiner Mutter zu einer filmischen Chronik zusammenfügte. Dass Annie Ernaux ein Filmprojekt autobiografisch angeht, ist nicht sonderlich erstaunlich, sind doch einige ihrer Bücher autobiografisch geprägt. Der Filmtitel spielt auf ihren Buchtitel „Les années“ von 2008 an.

 


Die Super-8-Jahre

Originaltitel: Les années super 8

Film

von Annie Ernaux und David Ernaux-Briot
Frankreich 2022

61 Minuten
OmU und DF

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