Konzert „Shtetl-Shtot“ des Jewish Chamber Orchestra Munich im Schauspielhaus München

„Ich wandre durch Theresienstadt“ 

– Daniel Grossmann erinnert mit dem Jewish Chamber Orchestra Munich beim Konzert „Shtetl-Shtot“ im Rahmen des Festivals „Erinnerung als Arbeit an der Gegenwart“ der Münchner Kammerspiele an Mieczysław Weinberg, Joel Engel und Ilse Weber – 

von Klaus J. Loderer


Ilse Webers Lieder sind von betörender Schönheit. Die schlichten Melodien gehen zu Herzen. Wie sie in einem Lied den älteren Sohn vermisst, in einem anderen Lied den kleinen Sohn tröstet, hat ebenso autobiographische Bezüge wie „Ich wandre durch Theresienstadt, das Herz so schwer wie Blei“. Die abschließende Frage des zu Herzen gehenden Lieds „Wann wohl das Leid ein Ende hat, wann sind wir wieder frei?“ sollte für sie keine positive Antwort finden. Sie wurde in Auschwitz ermordet. Geboren wurde Ilse Weber 1903 als Ilse Herlinger in Witrowitz (heute Vítkovice) bei Mährisch Ostrau. 1942 wurde die Familie Werner aus Prag ins Ghetto Theresienstadt deportiert, wo Ilse Werner als Krankenschwester in der Kinderkrankenstube tätig war. Dort entstanden von ihr auch vertonte Gedichte, die sie mit den Kindern sang. Sie meldete sich freiwillig, um kranke Kinder nach Auschwitz zu begleiten, wo sie mit ihrem jüngeren Sohn Tomáš ermordet wurde. Ihr Mann überlebte, kehrte nach Theresienstadt zurück, um die eingemauerten Werke seiner Frau zu holen und traf dann mit dem älteren Sohn Hanuš zusammen, den das Paar 1939 im Rahmen eines Kindertransports nach England in Sicherheit geschickt hatte.


Diesem Erbe sieht sich Daniel Grossmann mit dem von ihm 2005 gegründeten Jewish Chamber Orchestra Munich (JCOM) verpflichtet. Es soll vor dem Vergessen bewahrt werden. Nun erklangen einige von Ilse Webers Lieder, von Josef Piras für Kammerorchester bearbeitet, beim Konzert „Shtetl-Shtot – Texte und Musik aus einer vergangenen Welt“ des jüdichen Kammerorchesters München, das im Rahmen des Festivals „Erinnerung als Arbeit an der Gegenwart“ der Münchner Kammerspiele im Schauspielhaus stattfand. Der Schwerpunkt lag auf von Shachar Lavi vom Nationaltheater Mannheim vorgetragenen deutschen und jiddischen Liedern. Werke dreier jüdischer Komponisten hatte Daniel Grossmann ins Programm aufgenommen: Mieczysław Weinberg, Joel Engel und Ilse Weber. 


Shachar Lavi und Daniel Grossmann mit dem Jewish Chambers Orchestra Munich
Foto: kjl

Lieder von Mieczysław Weinberg

Von diesen ist Mieczysław Weinberg, 1996 in Moskau verstorben, sicherlich der bekannteste. Seine in den 1960er-Jahren entstandene Oper „Die Passagierin“ ist seit der szenischen Uraufführung 2010 bei den Bregenzer Festspielen viel beachtet worden. Der 1919 in Warschau als Sohn eines Geigers geborene Komponist hat in seinen Werken immer wieder Motive der jüdischen Musiktradition eingebaut. Die das Konzert einleitenden „Jüdischen Lieder“ (op. 13) entstanden 1943 in Taschkent. In München war der erste Zyklus nach Gedichten von Itzhok L. Peretz in einer Bearbeitung von Weniamin Basner zu hören. Shachar Lavi gab den Liedern mit dem sensiblen Eingehen auf die Stimmungslagen Charakter.

Lieder von Joel Engel

Daniel Grossmann stellte zwischen den Musikstücken die Komponisten vor. Außerdem erläuterte er den Unterschied zwischen „Shtetl“ und „Shtot“, also den dörflichen jüdischen Siedlungen in Osteuropa, aus denen im späten 19. Jahrhundert viele Juden in die aufblühenden Städte zogen, um dort, in der „Shtot“, Karriere- und Bildungsmöglichkeiten zu nutzen. Als Beispiele nannte Grossmann Czernowitz und Lemberg als wichtige städtische Zentren jüdischer Kultur. 


Aus der umfangreichen Liedsammlung Joel Engels erklangen einige jüdische Lieder. Engels (Юлий Дмитриевич Энгель) wurde 1867 in Berdjansk in Russland geboren. Nach dem Musikstudium in Moskau war er Musikkritiker für die Moskauer Nachrichten (Московские Ведомости). Ab 1900 sammelte er in den Dörfern Galiziens jüdische Volkslieder und gründete 1908 die Gesellschaft für jüdische Volksmusik. Er gehört zu den Gründern der „neuen jüdischen Schule“ mit der Idee einer jüdischen Nationalmusik. 1922 zog er nach Berlin, 1924 wanderte er nach Palästina aus. Er starb 1927 in Tel Aviv.

Engels hatte die von ihm gesammelten jiddischen Lieder für Konzertaufführungen bearbeitet. Shachar Lavi trug vier Lieder vor. Wieder war der Orchesterpart von Josef Piras bearbeitet.

Weinbergers Kammersinfonie Nr. 4

Den Abschluss bildete Weinbergs Anfang der 1990er-Jahre entstandene Kammersinfonie Nr. 4 op. 153. Deren fast reine Streicherbesetzung wird ergänzt durch Klarinette und Triangel. Auf einen langsamen Anfang folgt ein hektisch drängender Teil, in dem die Klarinette eine wichtige, teilweise solistische Rolle einnimmt (Virtuos an der Klarinette Sofia Astakov). Schon die Kombination von Streichern und Klarinette erinnert an die jüdische Musiktradition. Den nächsten Teil prägt eine suchende Sehnsucht.

 

6. Dezember 2022

Schauspielhaus München

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