Zum Tode der Sopranistin Rachel Gettler

Singen als „Therapie von der Therapie“ – oder eine Stimme wie Samt und Seide

– Zum Tode der Sopranistin Rachel Gettler – 

von Matthias Woehl

Rosenkavalier, 3. Akt: Der Wirt singt „Ihre hochfürstliche Gnaden, die Frau Fürstin Feldmarschall“ – die Orchesterwogen schwingen auf, Rachel Gettler betritt die Bühne, oder besser: sie schreitet, damenhaft in großer Robe und einem Hut mit einem Schleier vor dem Gesicht, das man nicht sehen kann. Eine Gettler brauchte nicht mal ein Gesicht, um die ganze Bandbreite von Gefühlen darzustellen, die die Marschallin im letzten Akt durchlebt. Das Senken ihres Kopfes alleine, eine Geste mit den eleganten behandschuhten Händen – dazu diese samtene, ausdrucksstarke Stimme – ich war gebannt, gefangengenommen, berührt. 

Rachel Gettler bei einer Premierenfeier im Staatstheater Darmstadt
Foto: Matthias Woehl

Diese Szene aus dem Rosenkavalier am Staatstheater Darmstadt im Jahre 1997 wird mir immer im Gedächtnis bleiben – und an sie denke ich, wenn ich an Rachel Gettler denke, für mich der Inbegriff einer großen Sängerdarstellerin, mit einer der schönsten Stimmen, die ich je live erleben durfte. 


Hörbeispiel

Rachel Gettler als Marschallin in Der Rosenkavalier


Sie wurde in Paris geboren, wuchs im australischen Melbourne auf, wo sie die Schule besuchte und studierte. Sie verließ die Universität mit einem Abschluss in Psychologie und zog nach London, um beim Westminster City Council eine Stelle als Familientherapeutin anzutreten. Als „Therapie von der Therapie“ fing sie an zu singen. Als sie ein Musikkritiker und ein Gesangslehrer einmal hörten, ermutigten diese sie, ihre Stimme doch ausbilden zu lassen. Sie studierte Gesang an der London Guildhall School of Music und später am Royal Northern College of Music. Schon im ersten Jahr ihres Studiums sang sie in einer Hochschulaufführung von Giuseppe Verdis „Aida“ die Amneris, und in einem Konzert Gustav Mahlers „Das Lied von der Erde“. 

Ihren ersten Solo-Vertrag unterschrieb sie beim renommierten Glyndebourne Festival, wo sie als Meg Page in Verdis „Falstaff“ und als Clairon in „Capriccio“ von Richard Strauss debütierte. Um sich ein Repertoire aufzubauen und weitere Erfahrungen zu sammeln, ging sie ins Fest-Engagement am Stadttheater in Heidelberg und später ans Nationaltheater in Mannheim. Dort sang sie unter anderem den Komponisten in „Ariadne auf Naxos“ von Strauss, Waltraute in Wagners „Götterdämmerung“, Suzuki in Puccinis „Madama Butterfly“, Frugola in Puccinis „Il Tabarro“, Charlotte in Massenets „Werther“, Dorabella in Mozarts „Cosi fan tutte“, diverse Barockpartien und schließlich ihre erste Carmen, die sie im Laufe ihrer Karriere über zweihundert Mal an unzähligen Häusern singen sollte. Nach ihren Lehrjahren ging sie zurück nach New York und wurde von Columbia Artists Management unter Vertrag genommen, und sie arbeitete in den nächsten Jahren frei. In Sydney sang sie 1983 die Adalgisa an der Seite von Rita Hunter als Norma in Bellinis gleichnamiger Oper, in San Francisco den Smeton in Donizettis „Anna Bolena“ an der Seite von Joan Sutherland unter der Leitung von Richard Bonynge, am Kennedy Center in Washington ein Konzert an der Seite von Placido Domingo, die Eboli in Verdis „Don Carlo“ in Sydney, in der Londoner Wigmore-Hall Wagners „Wesendonck-Lieder“ unter der Leitung von Geoffrey Parsons. In ihrer Zeit als Mezzosopran sang Rachel Gettler insgesamt über vierzig Partien ihres Fachs. 

Rachel Gettler

Schon während des Studiums waren sich ihre Professoren nicht einig, in welches Stimmfach sie einzuordnen sei, und mit der Zeit wurde immer klarer, dass sie sich in Richtung Sopran weiterentwickelte. Ihre erste Sopran-Partie sang sie in Stuttgart, die Iphigenie in Achim Freiers Inszenierung von Glucks „Iphigenie in Aulis“. In San Francisco interpretierte sie Donna Elvira in Mozarts „Don Giovanni“ und 1984 an der Oper Frankfurt am Main die Dido in der vielbeachteten Berghaus-Inszenierung von Berlioz‘ „Les Troyens“ an der Seite von Anja Silja unter der Leitung von Michael Gielen. Da hörte ich sie zum ersten Mal live. Sie ging auch wieder ins feste Engagement, zuerst ans Badische Staatstheater in Karlsruhe, ans Theater Dortmund und zuletzt ins Ensemble am Staatstheater Darmstadt. Sie sang in dieser Zeit Tosca, Elsa in Wagners „Lohengrin“, Tatjana in Tschaikowskis „Eugen Onegin“, Amelia in Verdis „Un Ballo in Maschera“, Senta in Wagners „Der Fliegenden Holländer“, eine atemberaubende Sieglinde in der „Walküre“ und eine grandiose Marschallin im „Rosenkavalier“ von Strauss. In Karlsruhe sang sie auch ihre erste Leonore in Beethovens „Fidelio“, die für sie zu einer Art „Schicksalspartie“ wurde. 

1990 unterschrieb Rachel Gettler einen Vertrag für die Fidelio-Leonore bei den Salzburger Festspielen, für die aber auch Edda Moser vorgesungen hatte. In ihrem Buch „Ersungenes Glück“ kann man lesen, dass Edda Moser vom Dirigenten Kurt Masur nach dem Vorsingen eine mündliche Zusage bekam und man mit einem Glas Champagner darauf angestoßen habe. Als aber der schriftliche Vertrag ausblieb, fragte sie telefonisch bei den Salzburger Festspielen an und erfuhr, dass die Rolle schon längst mit einer „gänzlich unbekannten Sängerin“ besetzt sei. Das sei der Moment gewesen, in dem sie sich das Leben nehmen wollte. Rachel Gettler wusste von all dem nichts, trat die Proben an, wurde aber von Masur schlecht behandelt und regelmäßig beschimpft und erniedrigt, so dass sie, sensibel wie sie war, große Angst vor den Aufführungen hatte. Die Premiere wurde im Radio übertragen, und durch die Aufnahme wissen wir, dass sie einfach traumhaft schön sang. Nur der letzte Ton der großen Arie „misslang“, und unter Masurs Druck geschah dies leider auch bei den folgenden Aufführungen. Nach zwei weiteren Leonoren wurde sie durch Luana de Vol ersetzt. Das blieb für sie bis zuletzt ein Trauma. 


Hörbeispiel

Rachel Gettler als Komponist in Ariadne auf Naxos


Während ihres letzten Engagements am Staatstheater Darmstadt sang sie wieder die Leonore in „Fidelio“ sowie Tosca, Ariadne, Senta, die Wozzek-Marie als auch die zu Beginn beschriebene Marschallin im Rosenkavalier – Abende, zu denen ich regelrecht pilgerte, mitfieberte und die ich lautstark bejubelte. In dieser Zeit durfte ich Rachel Gettler endlich auch persönlich kennenlernen. Mit hochrotem Kopf stand ich vor meiner so verehrten Diva, zitternd, unfähig etwas zu sagen. Doch sie „taute mich auf“, war unglaublich freundlich, gar nicht divenhaft, warmherzig und ausgesprochen humorvoll. 

Aber: Zum baldigen Ende ihrer Karriere trugen weitere Schicksalsschläge bei. Bei einem Wohnungsbrand verlor sie ihre gesamte Habe, musste mit ihrem damaligen Lebenspartner und späteren Ehemann völlig neu beginnen. Weitere Engagements brachten Hoffnung auf ein Fortführen der Karriere, sie sang Elsa im „Lohengrin“ am Nationaltheater Weimar und schließlich die letzte Partie, in der ich sie live auf der Bühne erlebte, die Fata Morgana in Prokofieffs „Die Liebe zu den drei Orangen“ an der Komischen Oper in Berlin. Sie unterschrieb dann einen Vertrag mit der Oper Bonn, wo sie Senta in „Der fliegende Holländer“ und Ariadne in „Ariadne auf Naxos“ singen sollte. Sie absolvierte die Proben, doch kurz vor der Premiere erlitt sie bei einem Autounfall eine Kieferverletzung, die ihr das Singen für längere Zeit unmöglich machte. Sie entschied sich leider dafür, ihre Gesangskarriere zu beenden.

Rachel Gettler

Wie schreibt man einen Nachruf auf eine geliebte Freundin und verehrte Sängerin? Was kann man eigentlich berichten, was ist zu privat, was beschreibt sie, was wird ihr gerecht? Rachel war eine zauberhafte Frau, sehr sensibel, vielleicht ein bisschen zu sensibel für diesen harten Sängerberuf. Ihr Anspruch war nicht nur das „schöne Singen“, sie wollte, dass man den Text versteht, dass man in der Farbe der Stimme auch Gefühlsregungen erkennen kann. Sie wollte ihre Partien durchdringen und erfühlen und vor allem für das Publikum greifbar und nachvollziehbar machen. Doch oft plagten sie Selbstzweifel. Sie hatte stets die Befürchtung, „nicht zu genügen“, und arbeitete immer und immer wieder akribisch an ihren Partien. Sie hasste es, sich selbst zu hören. Wann immer ich einen neuen Mitschnitt von ihr entdeckte und ihr als CD überreichte, wusste sie schon den Grund, warum sie an „diesem Tag“ überhaupt nicht gut gewesen sein konnte. Hörte sie jene Aufnahme aber nach Monaten einmal an, bekam man sofort einen Anruf: „Matthias, hast Du das Terzett gehört? Im Terzett singe ich ein ‚a‘“. Und sie war, so glaube ich, dann doch glücklich darüber, ihre Aufnahmen zu besitzen. 

Die letzten Jahre war sie gesundheitlich angeschlagen und beeinträchtigt, aber vor ein paar Wochen wurde die Situation kritisch. Am 26. Mai 2022 um 20 Uhr und 45 Minuten – ihr Ehemann Daniel hielt ihre Hand – tat sie ihren letzten Atemzug. 

Liebe Rachel, wo immer Du bist, Danke für alles. Danke für Deine Rolleninterpretationen, die in mir so verhaftet sind, dass ich manche Partien an Dir messe, danke für Deine wunderschöne Stimme, die mich durch Freud‘ und Leid begleitet und getragen hat, danke, dass ich Dich kennen durfte, Danke für Deinen Humor und Deine Liebe. 


Weitere Hörbeispiele

Weitere Hörbeispiele von Rachel Gettler finden Sie als Playlist auf dem Kanal Callas&Co.

https://www.youtube.com/watch?v=UizVVZwbxrM&list=PL2GYrX7imnYG4pJq_ZkIXC4IP53VS4pJo

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