Vor 150 Jahren: Uraufführung der Operette „Indigo und die 40 Räuber“ von Johann Strauß

„Die Aufführung ging unter der persönlichen Leitung des Componisten auf das Glücklichste von Statten“ 

– Die Uraufführung im Theater an der Wien und die Berliner Erstaufführung im Victoria-Theater von Johann Strauß’ Operette „Indigo und die 40 Räuber“ – 

von Klaus J. Loderer

 

Für uns heute ist Johann Strauss einer der wichtigsten Operettenkomponisten, doch vor 1871 war er vor allem durch seine Tanzmusik ein berühmter Komponist und Kapellmeister. Der Operettenbereich wurde von den Werken Jacques Offenbachs beherrscht. 1871 kam erstmals eine Operette von Johann Strauss auf die Bühne. Das Erstlingswerk war die heute vergessene Operette „Indigo und die 40 Räuber“. Das Wiener Publikum wartete gespannt auf die Uraufführung, die am 10. Februar 1871 im Theater an der Wien erfolgte. Johann Strauss arbeitete in diesem Genre weiter. Es folgte 1873 „Carneval in Rom“ und dann 1874 „Die Fledermaus“, seine bis heute bekannteste Operette. 

Uraufführung im Theater an der Wien

Am 10. Februar 1871 war Wien im Faschingstreiben. An diesem Freitagabend fand in Schwenders Colosseum der vorletzte Bürgerball statt. Am Samstag und Sonntag der Elite-Maskenball, am Montag das erste Götter-Maskenfest und am Dienstag der Damen-Narrenabend. Im Sophiensaal war am Samstag der neunte Maskenball, bei dem Eduard Strauss, der jüngste Bruder des Indigo-Komponisten, die Ballmusik dirigierte. In den Redoutensälen stand der Juristenball bevor. Im Hofopernhaus kam am Freitagabend Meyerbeers Oper „Die Hugenotten“. Im Carltheater war die zweite Vorstellung von „Centifolie“, einem Lebensbild von Anton Langer mit Musik von Franz von Suppé.


Und das Theater an der Wien kündigte an: „Unter persönlicher Leitung des Compositeurs. Zum erstenmale: „Indigo und die vierzig Räuber“. Komische Operette in drei Acten (in vier Bildern) nach einem älteren Sujet, für die Bühne eingerichtet und scenirt von Director M. Steiner. Musik von Johann Strauß. Die Decorationen des 1. und 4. Bildes von Herrn A. Moser, des 2. und 3. Bildes von Herrn L. Grünfeld. […] Die Tänze vom Balletmeister G. Gollinelli. […].“ 


Die Besetzung der Uraufführung war:

Indigo, Beherrscher von Makasar – Herr Rott 

Romadour, Oberpriester – Hr. Fink

Behemio, Kriegsminister – Herr Romani

Schnederengo, Handelsminister – Herr Frinke

Etrillio, Polizeiminister – Herr Gärtner

Gironetto, Präsident der Volksvertretung – Herr Jäger

Janio, lustiger Rath – Herr Swoboda als Gast

Chimerico, Poet – Herr Rüden

Alibaba, Eseltreiber – Herr Szika

Comcambertio – Herr Bittner

Cresterio –  Herr Mayer

Toffana, seine Gattin – Fräulein Stauder

Fantasca – Fräulein Geistinger

Eine Musikbanda, Truppen aller Waffen des Indigo, Volk von Makasar, Sklaven und Sklavinnen, Mohren und Mulatten, Priester und Tempeldiener, Bajaderen, Serailwächter.


Der Handlungsort Makassar liegt in Indonesien an der Straße von Makassar. Die zwischenzeitlich auch Ujung Pandang heißende Hafenstadt hat heute 1,3 Millionen Einwohner. Zur Zeit der Entstehung der Operette war Makassar niederländische Kolonie.


Zuschauerraum des Theaters an der Wien um 1940

Foto: Architekturmuseum der Technischen Universität Berlin

„Der Componist wurde unzählige Male stürmisch gerufen“

In der Wiener Tageszeitung Die Presse erschien am nächsten Morgen nach der Uraufführung eine für eine Kurzkritik schon recht ausführliche Besprechung: „Die neue Operette „Indigo“ von Johann Strauß hatte im ersten Acte, der von einer Fülle bestrickter Melodien überquillt, einen Sensationserfolg. Der Componist wurde unzählige Male stürmisch gerufen, sowie er auch bei seinem Erscheinen am Dirigentenpulte vom Publicum mit minutenlangem Bravorufen und Händeklatschen empfangen worden war. Der zweite Act der mit seltenem Luxusausgestatteten Operette litt außerordentlich unter den Längen des mehr derben als amüsanten Textbuches; hier muß eine ganze Stunde Prosa gestrichen werden. Musikalische ist er gleichfalls reich genug bedacht. Der dritte Act ist rein im Genre des Ausstattungsstückes gehalten. Im Ganzen hat „Indigo“, von welchem unser Musikreferent noch sprechen wird, deutlich gezeigt, welch entschiedener Liebling der Wiener Strauß ist, seinen reizenden Melodien zu Liebe, in denen echt wienerische Frische und Heiterkeit lebt, wird die neue Operette noch oft gegeben werden. Die Darsteller, unter ihnen waren Geistinger und Swoboda, gingen mit hinreißendem Feuer für die Strauß’sche Operette ins Zeug und wurden mit dem Componisten wiederholt lebhaft ausgezeichnet.“ Der Erfolg der Operette lag wohl vor allem an der Popularität Johann Strauss’.


Anzeige der Uraufführung

Die Presse 10. Februar 1871

„Ja, es sind in der Partitur viel zu viel überflüssige Noten“

In der Sonntagsausgabe der Presse vom 12. Februar 1871 erschien die ausführliche Kritik. Die sehr ausführliche Besprechung begann prominent auf der ersten Seite und zog sich über mehrere Seiten hin. Der Kritiker E. Schelle stellte eine allgemeine Einleitung voran: „Gibt es einen Namen in Wien, der so zauberisch in die Ohren klänge, wie der Name Strauß? Schon seit Jahren umkleidet ihn ein Kranz von reizvollen, ewig frischen Melodieblüthen und noch heutigen Tages übt er in den Ballsälen der vornehmen wie der bürgerlichen Welt eine Macht aus, gleich Oberon’s Horn. Als in Schubert der letzte Classiker geschieden war und man nun vermeinte, der Baum der Tonkunst sei in unserer Musikstadt verdorrt, da trieb er auf einem Seitenast in Lanner und Strauß aufs Neue üppige und prachtvolle Blüthen, deren wunderbarer Farbenschmelz die Welt bestrickte; in der Familie Strauß aber hat sich der reiche Schatz von Tanzweisen unversehrt erhalten und ist vom Vater mit dem Vornamen auf Johann Strauß übergegangen. Mußte es nicht als ein Ereigniß von höchstem Interesse alle Kreise der Wiener Gesellschaft berühren, als Johann, der unumschränkte Herrscher im Ballsaale, abgehend von den Traditionen seiner Familie, gestern die Bühne bestieg und hier dem unumschränkten Herrscher dieser Stätte, dem französischen oder wenigsten französirten Jacques Offenbach den Fehdehandschuh hinwarf? Denn die komische Oper „Indigo und die vierzig Räuber“ will nur die Gattung vertreten, in welcher bis jetzt Maître Jacques noch keinen ebenbürtigen Nebenbuhler gefunden hat. Das überfüllte Haus, noch mehr der rauschende, nimmer endenwollende Beifall, mit welchem Strauß bei seinem Eintritt in das Orchester begrüßt wurde, bezeugen die allgemeine warme Theilnahme für den Wiener Kämpen, und den Wunsch, daß außer graziöser, von gesunder Sinnlichkeit sprudelnder Ländler oder Walzer den Sieg über den raffinirten Cancan davontragen, wenigstens ihm das Feld streitig machen möchte. Der Erfolg war unbedingt für Strauß, denn der erste Act schlug entschieden durch, die zwei anderen standen dagegen an Effect unverhältnißmäßig zurück, allein dieser Erfolg verbürgt noch keine Entscheidung, er bedeutet nur eine glückliche Schlacht, welche entscheidendere hoffen läßt. Strauß hat vorläufig auf dem Gebiete Offenbach’s Posto gefaßt; die Zukunft jedoch muß es erst lehren, ob er ihn daraus verdrängen wird. Der Schöpfer der „schönen Helena“ hat vor seinem Gegner die Meisterschaft in der Routine voraus und die Routine will in der musikalischen Farce – denn um diese Gattung der komischen Oper handelt es sich hier – weit mehr besagen als musikalische Erfindung.“ 


Dann kommt in der Kritik allerdings der erste Dämpfer und der bezieht sich auf das Libretto: „Nur ein vollkommener Neuling auf diesem Felde kann die Naivität haben, seine Kunst an einem so geist- und witzlosen, so roh gearbeiteten Text zu versuchen, wie ihn dieser „Indigo“ sammt seinen vierzig Räubern uns vorführt. Die elendesten französischen Faiseurs sind noch wahre Poeten gegen unsere deutschen Operetten-Fabrikanten von dieser Sorte, sie haben wenigsten einen Schatten von Geschmack, fassen gewisse Situation vorsichtig mit den Fingern an, während diese überall mit plumpen bäuerischen Fäusten dreinschlagen. […] Die eigentliche Pointe der Handlung besteht nämlich darin, daß wol viel Witze und meist schlechte gemacht, alte abgestandene wiederum aufgewärmt werden, daß viel getanzt wird, sonst aber fast nichts geschieht. Indigo, der Beherrscher von Macassar, liebt gut zu speisen, hat bereits die Steuern seiner Unterthanen für die zwei folgenden Jahre gemüthlich aufgezehrt und besitzt keinen Kreuzer, unterhält aber einen großen Harem, dessen Zierde Fantasca bildet. Fantasca ist an den Ufern „der blauen Donau“ geboren, mit ihrem Geliebten durchgegangen und auf der Flucht an die Küste dieses Landes verschlagen. Indigo hat sich beeilt, sie zu seiner Favoritin zu erheben und als Entschädigung ihren Liebhaber Janio zu dem Ehrenposten eines lustigen Raths zu befördern.“ Janio hat die Idee zur Verbesserung der Staatsfinanzen eine Steuer auf die Schönheit der Frauen zu erheben. Im zweiten Akt kommt dann der Bezug auf die Ali-Baba-Geschichte. Es ist allerdings Fantasca, die hier den Zugang zur Höhle mit den Schätzen hat. Die vierzig Räuber sind die verkleideten Haremsdamen. „Die einzige That, die in diesem Act vor sich geht, beschränkt sich darauf, daß der eifersüchtig Janio, der von dem Stelldichein des Eseltreibers Witterung erhalten, dem trunkenen Ali Baba bei dessen Wiederkunft das Gewand auszieht, sich damit bekleidet und nun den Gang der Dinge abwartet.“ Am Ende reisen Fantasca und Janio mit den Haremsdamen und Ali Baba in einem Schiff ab. 


E. Schelle weiter: „Es liegt am Tage, daß ein solcher Text wie mit Bleigewicht auf die Phantasie des Musikers niederdrücken mußte; die Situationen, die zum Theil wenigstens der musikalischen Conception Vorschub leisten konnten, sind alle so breit ausgetreten, daß die ohnehin geringe Spannung glänzlich vernichtet wird.“ 


Der Kritiker zählt dann einige Dinge auf, die er für Anfängerfehler hält. „Ja, es sind in der Partitur viel zu viel überflüssige Noten; die Sätze sind meist viel zu weit ausgespannt, mit den Effecten ist zu wenig Haus gehalten. Das große Duett im zweiten Act wird, mindestens um ein Drittel verkürzt, eine weit größere Wirkung erzielen, und so auch das Finale des ersten Aufzugs, nicht zu gedenken so vieler anderer Partien, die an Weitschweifigkeit und Ueberladung lahmen. Nicht die Fülle der Blumen macht die Schönheit eines Bouquets aus, und das Uebermaß von Effecten erzeugt statt der gewünschten Steigerung nur das Gegentheil. Ueberhaupt vermißt man an der Musik noch häufig jenen leichten Wurf, den das Genre verlangt, sie verräth stellenweise zu ersichtlich die Arbeit und den Ernst, mit welchem der Componist zu Werke gegangen. Die Instrumentirung ist elegant und glatt, häufig indeß zu rauschend und mehr als zuträglich für den leichten Styl einer Farce an ie große Effect-Oper erinnernd, doch wünschen wir dem Künstler vor Allem einen geeigneten Text, er wird dann, wird sind davon versichert, uns der Mühe entheben, ihm ein Tugendregister vorzuhalten.“


Lobend erwähnt Schelle Bühnenbilder und Kostüme, fand aber die Aufführung viel zu lang: „Die Direction hat keine Kosten in der Ausstattung des Werkes gescheut, die Inscenesetzung, Costume, Decorationen zeugten von großen pecuniären Auslagen und zugleich von vielem Geschmack. Schon eine solche Ausrüstung dürfte dem Stück eine längere Anziehungskraft gewähren, wofern große Kürzungen vorgenommen werden.; die erste Vorstellung währte vier volle Stunden und das mußte ein Publicum ermüden, selbst wenn der Inhalt des Buches weniger langweilig gewesen wäre, als er es ist.“


Erst am Ende der Kritik geht Schelle kurz auf die Sänger ein, die er aber nur kurz auflistet: „Die Aufführung ging unter der persönlichen Leitung des Componisten auf das Glücklichste von Statten, die Mitwirkenden, wir heben aus ihnen nur die Damen Geistinger und Stauber, die Herren Swoboda, Friese, Szika und Rott hervor, waren vom besten Eifer beseelt und leisteten zum Theil Ausgezeichnetes, durchgängig aber Treffliches; die Chöre klangen frisch, das Orchester that sich vortheilhaft hervor; und schließlich dürfen wir auch den geschmackvollen Tänzen des Balletmeisters Golinelli unsre volle Anerkennung nicht versagen. Der Componist, die Damen Geistinger, Stauber, die Herren Swoboda, Friese und Szika wurden unzähligemale stürmisch gerufen; möge Johann Strauß recht bald einen anderen ebenso brillanten Erfolg auf der Bühne an diesen seinen ersten reihen.“ Das Stück lief bis Mitte März 1871 im Theater an der Wien. 

Giovanni Golinelli

Die Tänze der Produktion wurden von Giovanni Golinelli (1809-1884) choreographiert. In Bologna geboren war er von 1836 bis 1859 als Tänzer an der Wiener Hofoper, ab 1855 auch als Choreograph. Er war dann Ballettmeister in Hamburg, 1861 bis 1863 am Theater an der Wien und danach in München. Die Ballettnummern in „Indigo“ waren im ersten Akt der Bajaderentanz und im dritten Akt  ein Ensemble, der Mohrentanz, der Mulattentanz und das Finale.

Marie Geistinger, Karl Mathias Rott und Jani Szika

Besetzt war die Uraufführung von „Indigo“ zu einem großen Teil mit damals dem Wiener Publikum gut bekannten Sängern. Bis auf Albin Swoboda waren sie im Ensemble des Theaters an der Wien. 


Marie Geistinger (1836-1903), damals der weibliche Operettenstar des Theaters an der Wien, sang Fantasca. Sie debütierte bereits als Kind in Graz. Sie spielte in München, Wien, Berlin, Hamburg und Riga. 1865 kam sie an das Theater an der Wien, das sie 1869 bis 1875 zusammen mit Maximilian Steiner leitete. Erfolg hatte sie in den Operetten von Jacques Offenbach, Johann Strauß, Karl Millöcker und Franz von Suppè. Als Helena sorgte sie mit ihrem geschlitzten Kleid für einen Skandal. In der Uraufführung der „Fledermaus“ sang sie Rosalinde. Später ging sie nach Leipzig und absolvierte mehrere Tourneen durch die USA. Später war sie am Carltheater in Wien und trat im Wintergarten in Berlin auf. Dann zog sie sich nach Klagenfurt zurück.


Der als Gesangskomödiant und Schauspieler bekannte Karl Mathias Rott (1807-1876), der Darsteller der Titelpartie, sang schon als Knabe am Wiener Hofopernhaus. 1824 ging er als Cellist an das Theater Pressburg (heute Bratislava) und 1927 nach Graz. Für Nestroys Stück „Die Verbannung aus dem Kaiserreiche“ komponierte er die Musik. Ab 1832 trat er als Schauspieler im Josephstädter Theater in Wien auf und ab 1836 in Pest. Ab 1847 war er am Theater an der Wien. Nach einem Bühnenunfall 1874 zog er sich von der Bühne zurück.


Der Darsteller des Ali Baba, Jani Szika (1844-1916), wurde in Pest (heute Budapest) geboren. Er debütierte am Deutschen Theater in Pest. Ab 1866 spielte er am Theater an der Wien. Seit seinem Erfolg als Fritz in Offenbachs „Die Großherzogin von Gerolstein“ trat er nun auch als Sänger in Operetten auf. Er sang in mehreren Uraufführungen, darunter in mehreren Operetten von Johann Strauss, etwa 1873 Benvenuto Rafaeli in Strauss’ „Karneval in Rom“, 1874 Eisenstein in „Die Fledermaus“ und 1875 Fodor in „Cagliostro in Wien“. 1874). 1878 wirkte er in der Uraufführung von Millöckers Operette „Das verwunschene Schloß“ mit. Später verlegte Szika seinen Schwerpunkt wieder auf das Schauspiel. 1890 bis 1912 war er in Frankfurt am Main engagiert. 


Zuschauerraum des Victoriatheaters in Berlin

Berliner Adressbuch 1885

Die Erstaufführung in Berlin

Im Spätsommer kam „Indigo“ nach Berlin und wurde vom Victoria-Theater herausgebracht. Die Berliner Erstaufführung von „Indigo“ stand in direkter Konkurrenz zu Offenbach. Denn im Friedrich-Wilhelmstädtischen Theater (dem heutigen Deutschen Theater) liefen sehr erfolgreich dessen Operetten – im September 1871 etwa „Blaubart“. 


Für die Berliner Aufführung scheint man auf die Kritik am Libretto reagiert zu haben. E. Dohm überarbeitete den Text. Auch in Berlin dirigierte Johann Strauss zumindest die erste Aufführung am 1. September 1871. Die Vossische Zeitungbrachte zwei Tage später, in der Sonntagsausgabe vom 3. September 1871, eine Besprechung, in der es zuerst um das Victoria-Theater im Scheunenviertel, das die Besonderheit hatte, aus einem Sommer- und einem Wintertheater zu bestehen. Es wurde allerdings schon 1891 abgerissen. „Die prachtvollen Räume des Victoria-Theaters, an welches sich einst weitreichende Hoffnungen geknüpft hatten, sind Freitag den 1. September dem Publikum wieder erschlossen. Werden die Erwartungen diesmal in Erfüllungen gehen? Der Direktion des Herrn Heinrich Behr geht der Ruf des redlichsten Willens und, was wir bei einem solchen Unternehmen mindestens ebenso hoch schätzen müssen, eines wahrhaft künstlerischen Verständnisses voraus; das Publikum trägt dem neu erwachten und gründlich regenerirten Kunst-Institut ein volles Vertrauen entgegen, und so dürfen wir denn erwarten, daß aus dem Zusammenwirken dieser beiden Faktoren ein für beide Theile ersprießliches Resultat erwachsen wird. Schon der Abend der Eröffnung legte von dem neuen Geiste, der das Theater beseelt, ein günstiges Zeugniß ab. Es fehlte nicht an Pracht und Glanz, aber mit ästhetischem Sinne war ein strenges Maß eingehalten, und was geboten wurde, entsprach den Forderungen der Schönheit; die sorgsame Hand, die geordnet, abgerundet und harmonisch gestaltet hatte, war über all zu verspüren und drückte den verschiedenartigsten Leistungen ein einheitliches Gepräge auf. Das Publikum ging nicht irre, wenn es die glücklichen Anordnungen, das vortreffliche Zusammenspiel, den künstlerischen Hauch, der sich über die ganze Vorstellung verbreitete, der Sorgfalt des Herrn Behr zuschrieb und ihm nach dem ersten Akt, sowie nach dem Schlusse des Stückes durch Hervorruf seinen Dank aussprach.“


Dann erst ging der nicht namentlich genannte Kritiker auf die neue Operette ein und bemängelte das Libretto: „Wie oft auch die Kritik gegen Ausstattungsstücke und Feerien ihre Stimmen erhoben hat, so ist es doch immer mehr ihre Absicht gewesen, ein geistloses und sinnenbestrickendes Außenwerk zu verurtheilen; sie hat der Gattung selbst nie ihre Anerkennung versagt, wenn es der Poesie nur einigermaßen gelungen war, ihren Purpur über die Schultern des gering geachteten Aschenbrödel zu werfen und dasselbe zu einer echten Prinzessin zu erheben. Es wäre Vermessenheit zu behaupten, daß die Poesie bei dem vorliegenden Werke auch nur den geringsten Anlauf genommen hätte, einem solchen Ziele nachzustreben; es ist dürre Prosa, die nur durch ein paar der bunten Märchenwelt entlehnte Erinnerungen vergeistigt, aber in gleichem Maße durch eine schwächliche Verschwommenheit, wie wir sie in Wienerischen Produkten wohl gewohnt sind, noch mehr entstellt wird, und der auch die witzige Ader unseres Dohm, der offenbar wenig Luft gehabt hat, sich mit dem fremden Machwerke abzugeben, nur ein spärliches Leben hat einflößen können.“


Auch diese Kritik geht einen Vergleich mit Offenbach ein: „Die Aufgabe, aus dem spröden und scheinbar todten Stoffe Blüthen hervorzuzaubern, war diesmal der Musik zugefallen. Der Name des Componisten Johann Strauß, der uns mit unzähligen Tanzmelodien beschenkt und, gestehen wir es ein, bezaubert hat, dürfte allein genügen, das Publikum zu elektrisiren und seine Erwartung auf das höchste zu spannen. Es ist schwer, über bestimmte Grenzen, die eine lange ausgeübte künstlerische Thätigkeit, eine lange gehegte Anschauungsweise allmälig nach allen Seiten zieht, hinauszugehen; es ist unmöglich, über seinen Schatten zu springen. Der Schöpfer reizender und entzückender Tanzmelodien konnte das Talent, mit dem er die civilisirte Welt beherrschaft hat, allerdings nicht verleugnen, hier seht er als fast unumschränkter Gebieter auf dem Boden des selbsteigenen Reiches; verläßt er indessen diese Grenzen, so schwindet seine magische Gewalt, und wir begegnen entweder einem Nachahmer Offenbach’s, der uns wie Alle seinesgleichen nur eine Verwässerung eines nicht gerade nachahmungswerthen Vorbildes darbietet, oder es schlagen doch nur vereinzelte Silberklänge einer edleren Richtung an unser ängstlich lauschendes Ohr. Aber gerade dann fühlt sich dasselbe erfrischt und erquickt, dann thut sich, wie in dem Finale des zweiten Aktes, sowie in der Ballade Fantaska’s, eine reich und phantastisch geschmückte Geisteswelt vor uns auf. Der gefeierte Komponist, der schon, als er den Taktstock ergriff, freundlich begrüßt worden war, erntete reichen Beifall und erfreute sich wiederholten Hervorrufs.“


Dann geht die Kritik auf die Inszenierung ein: „Den gewählten Geschmack der äußeren Ausstattung und die Präcision des Zusammenspiels haben wir schon oben rühmend erwähnt. Die Dekorationen der Herren Bergmann und Romêr versetzen uns vollkommen in die Zauberwelt des Orients; einen frischen, lebensvollen Eindruck erweckt der Marktplatz am Hafen, und der majestätische deutsche Dampfer, in dessen Raaen Matrosen und Schiffsjungen sich eingenistet haben, der mit seinem Bug auf uns zusteuert, nach einer Wendung uns seine rechte Breitseite zeigt und die deutsche Kriegsflagge aufhißt, wurde mit rauschendem Beifall begrüßt.“ Das zeigt die patriotische Stimmung im neu gegründeten deutschen Kaiserreich. Die  Aufführung fand zudem einen Tag vor dem Sedantag statt, an dem der ein Jahr zuvor im deutsch-französischen Krieg erfolgte Sieg der deutschen Truppen in der Schlacht von Sedan gefeiert wurde, in dessen Folge der französische Kaiser Napoleon III. gestürzt wurde. 


Die Premierenkritik lobte auch das Ballett und die Sänger: „Ebenso geschmackvoll und charakteristisch sind die Tänze gehalten, die sich durchaus richtig nie zur Hauptsache aufdrängen, sondern nur zum Schmuck der Scene dienen wollen. Unter den darstellenden Künstlern nimmt, was wir den Berlinern kaum zu sagen brauchen, Frl. Lina Mayr den ersten Rang ein. Sie überschüttete uns, durch unveränderte Liebenswürdigkeit reizend ausgezeichnet, wie früher mit den reichsten Perlen ihrer sprudelnden Laune und sah als Fantaska nicht nur den König Indigo, sondern auch das Publikum Berlins zu Füßen; die prickelnde Weise ihrer Worte: „Wir sind nicht mehr schwache Weiber!“ ist geradezu unnachahmlich. Herr Swoboda, der den lustigen Rath Janio, zugleich den Gelibten Fantaska’s spielte, trägt als Mitgabe zwar nicht eine ganz unversehrte Stimme, aber er weiß die Reste derselben geschickt zu verwerthen und durch ein gewandtes Spiel trefflich zu unterstützen. Die bewährte komische Kraft des Herrn Mathias (Ali Baba, Eseltreiber) übte die beste Wirkung und fand auch in seinem allerliebst dressirten Begleiter einen unfehlbaren Beistand. Die Herren Höfel und Schirmer, sowie Frl. Löffler füllten ihre Rollen angemessen aus. Die Operette, mit er die neue Direktion recht glücklich begonnen hat, wird sich voraussichtlich lange in der Gunst des Publikums halten.“ Soweit die Kritik in der Vossischen Zeitung vom 3. September 1871.


Ankündigung der 50. Vorstellung

Vossische Zeitung 28. Oktober 1871

Albin Swoboda und Lina Mayr

Den in der Berliner Kritik erwähnten Sänger Swoboda kennen wir schon aus der Wiener Uraufführung. Albin Swoboda (1836-1901) war der Sohn eines Sängerehepaars und machte in Wien Karriere in komischen Tenorrollen. Johann Nestroy holte ihn 1857 an das Carltheater. Ab 1859 trat er im Theater an der Wien auf und später im Deutschen Theater in Budapest. 1881 war er Schauspieler am Hoftheater in Dresden. Er war der Vater des Bassbaritons Albin Swoboda und der Schauspielerin Margareta Swoboda.


Die Sängerin Lina Mayr (eigentlich Caroline Aloysia Schimper) entwickelte sich nach einem Debüt in Linz 1861 zu einer bekannten Offenbach-Sängerin. In Berlin trat sie am Friedrich-Wilhelmstädtischen Theater etwa als Boulotte in „Blaubart“, als Helena in „Die schöne Helena“ und als Handschuhmacherin Gabrielle in „Pariser Leben“ auf. Der Auftritt in „Indigo“ erfolgte allerdings im Konkurrenztheater. Sie zog sich nach der Heirat mit dem Dresdener Weinhändler Johann Bötger von der Bühne zurück.

Umarbeitungen

Die Operette hielt sich tatsächlich einige Zeit im Programm des Victoria-Theaters. Am 28. Oktober 1871 war die fünfzigste Vorstellung. Insgesamt lief die Operette bis Ende November mehr als siebzig Mal im Victoria-Theater. In Reaktion auf die schlechten Kritiken wurde das Libretto noch mehrmals umgearbeitet. In Paris lief die Operette unter dem Titel „La reine Indigo“. Sie wurde 1877 unter dem Titel „Die Königin Indigo“ wieder im Theater an der Wien gespielt. Johann Strauss verwertete einige Musiknummern zu eigenen Stücke, die im Werkverzeichnis als Opus 343 bis 351 vorkommen, etwa den Walzer „Tausend und eine Nacht“, die Polka „Die Bajadere“ und die Schnellpolka „Im Sturmschritt“. Eine ganz neue Textfassung erarbeitete Ernst Reiterer 1906. Nun hieß die Operette „Tausend und eine Nacht“. 1952 entstand eine Schallplattenaufnahme mit Anneliese Rothenberger und Rita Streich.

 

 


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