Operngeschichte: Vor 150 Jahren wurde der Tenor und Komponist Julius Bochníček (Julius Laubner) geboren

Bühnenunfall mit einer Stecknadel 

– Der Tenor Julius Bochníček am königlichen Opernhaus in Budapest – 

von Klaus J. Loderer


Ein unangenehmes Zusammentreffen mit einer Stecknadel hatte der Tenor Julius Bochníček bei einer Aufführung am königlichen Opernhaus, der heutigen Staatsoper in Budapest. Am Donnerstag, den 19. März 1903 wurde Georges Bizets Oper „Carmen“ gegeben.


Das königliche Opernhaus in Budapest in einer historischen Fotografie

A Magyar Kiralyi Operahaz 1884-1909, Budapest 1909


Die deutschsprachige Tageszeitung Pester Lloyd berichtete unter der Überschrift „Der Bühnenunfall“: „Bei der heutigen Vorstellung von Bizet’s „Carmen“ im königlichen Opernhause wurde der Tenorist Herr Bochnicsek, der zum ersten Male den Don José sang, von einem eigenthümlichen Unfall betroffen. Zu Beginn des zweiten Aktes eilt Don José in der Schmugglerschänke entzückt auf die ihn erwartende Carmen zu. Bei der stürmischen Umarmung bohrte sich eine Stecknadel von Carmen’s Seidengewand in den Zeigefinger seiner rechten Hand und brach dort ab. Nach verschiedenen vergeblichen Versuchen gelang es endlich Herrn Bochnicsek, das Fragment mit den Zähnen aus dem blutenden Finger zu ziehen. Während dieser selbstbesorgten Operation sang er seinen Part mit viel Geistesgegenwart weiter, ja er hatte trotz der bedeutenden Schmerzen, die ihm die Wunde verursachte, gerade mit dem Liebesduo den größten Erfolg. Nach Fallen des Vorhanges stillte der Theaterarzt Dr. Irsai jun. die Blutung und legte an den verletzten Finger einen leichten Verband. Herr Bochnicsek sang dann ohne weitere Störung seine Rolle zu Ende.“ (Pester Lloyd 20. März 1903)


Die Aufführung erfolgte wie damals üblich in der Landessprache. In Budapest wurde „Carmen“ also ungarisch gesungen. Das Libretto hatte Emil Abrányi übersetzt. „Carmen“ lief seit 1884 in Budapest. Bis 1909 fanden 116 Vorstellungen statt. Julius Bochníček, der in Budapest Gyula Bochníček hieß, trat an diesem 19. März 1903 erstmals in Budapest als Don José auf. Die Rolle hatte er schon 1902 in Prag gesungen.


Ankündigung der Oper „Carmen“ im königlichen Opernhaus in Budapest

Pester Lloyd 19. März 1903


Erste Auftritte als Julius Laubner in Prag

Julius Bochníček wurde am 12. April 1871 in Prag geboren. Nach einer musikalischen Ausbildung bei E. Kroupy war er Sänger im Chor des Deutschen Landestheaters in Prag. Dieses am 5. Januar 1888 mit Wagners „Die Meistersinger von Nürnberg eröffnete Neue Deutsche Theater (später Smetanatheater, heute Staatsoper – Státni opera) spielte in deutscher Sprache und grenzte sich damit vom tschechischen Nationaltheater ab. Das deutsche Milieu dieses Theaters war wohl auch der Grund für Bochníček unter dem Künstlernamen Julius Laubner aufzutreten. Als Pianist begleitete er 1890 das Lustspiel „Die Goldfische“ von Gustav Kadelburg und Franz von Schönthan (Premiere am 20. Juni 1890) und spielte den Adhémar in der Premiere am 30. Januar 1890 und den anschließenden Vorstellungen des Lustspiels „Schwiegermama“ (Belle-Maman) von Raymond Delandes und Victorien Sardou. Parallel setzte Bochníček sein Musikstudium fort. Anschließend war er 1895/1896 Korrepetitor am Stadttheater in Stettin. Als Solokorrepetitor kehrte er an das Deutsche Theater in Prag zurück. 1897 hatte er dort sein Debüt in einer erste Solorolle und gehörte 1898 bis 1900 dem Ensemble an. In der Spielzeit 1900/1901 war er am Theater in Pilsen (Plzeň) und in der folgenden Spielzeit in Brünn (Brno). Der erste Auftritt am Nationaltheater in Prag scheint am 9. März 1902 als Don José gewesen zu sein. Dann unternahm er eine Tournée durch Ungarn. Dabei soll er in Preßburg (Bratislava) aufgetreten sein. Ab Juli war er wieder am tschechischen Nationaltheater Prag. Dort sang er am 4. September 1902 Paris bei der Premiere von Offenbachs „Krásná Helena“ (Die schöne Helena). Er wurde besonders in den lyrischen Tenorrollen im Repertoire der tschechischen Opern eingesetzt und sang Ovčák Jirka in Dvořáks „Die Teufelskäthe“ (Čert a Káča), Stáhlav in Smetanas „Libussa“, Viték in Smetanas „Dalibor“, Tomík in Smetanas „Zwei Witwen“ (Dvě vdovy), Hans in Smetanas „Die verkaufte Braut“ (Prodaná nevěstadie) und den Prinzen in Aschenputtel (Popelka) von Josef Richard Rozkošný. Der letzte Auftritt am Nationaltheater war am 24. September 1902 als Jeník in der Dernière von Dvořáks „Der Bauer ein Schelm“ (Šelma sedlák).

 

Julius Bochníček (1871-1951)

Der Hauptteil der sängerischen Karriere war in Budapest: Julius Bochníček war ab 1. Oktober 1902 im Ensemble des königlichen Opernhauses (heute Ungarische Staatsoper – Magyar Állami Opera Ház). Der Schwerpunkt der von Bochníček gesungenen Partien lag weiterhin im lyrischen Tenorfach, nun häufig in französischen Opern.  Dazu gehörten z.B. die Titelpartie in Gounods „Faust“, Don José in „Carmen“ und Wilhelm Meister in „Mignon“ von Ambroise Thomas.

Uraufführung der Oper „Götz von Berlichingen“

Aus Budapest sind auch Auftritte bei Uraufführungen überliefert. Er sang am 16. Dezember 1902 in der Uraufführung der Oper „Götz von Berlichingen“ – in der ungarischen Fassung Berlichingen Götz“ – des in Ungarn geborenen Komponisten Karl Goldmark nach Goethes Schauspiel. Die musikalische Leitung hatte Rezsö Mader. Die weiteren Rollen waren mit Mihály Takács (Götz), Terész Krammer (Adelheid), Ilonka Szoyer (Georg) und Vilmos Beck (Weislingen) besetzt. In der Kritik im Pester Llyod wurde Bochníček allerdings von August Beer nur kurz bedacht: „Tüchtig hielt sich Herr Bochnicsek als Franz.“ Beer würdigte Inhalt und Musik der Oper ausführlich über sechs Spalten und beschrieb auch die Stimmung der Uraufführung: „Die Oper fand eine sehr warme Aufnahme, ja der heutige Abend brachte dem anwesenden illustren Komponisten eine Reihe stürmischer Ovationen und herzlichster Sympathiekundgebungen. Schon nach dem prächtigen Orchester-Vorspiel erscholl minutenlanger Applaus, für den Goldmark aus der Direktionsloge dankte.“ (Pester Lloyd 17. Dezember 1902)


Ankündigung der Uraufführung der Oper „Götz von Berlichingen“ von Karl Goldmark im königlichen Opernhaus in Budapest

Pester Lloyd 16. Dezember 1902


Uraufführung der Oper „Der Nebelkönig“ (A ködkirály)

Bochníček sang auch in der Uraufführung der Oper „A ködkirály“ (Der Nebelkönig). Am 17. Oktober 1903 wurde die phantastische Oper in einem Akt des ungarischen Komponisten Emil Ábrányi zusammen mit Eduard (Ede) Poldinis Spieloper „A csavargó és a királyleány (Der Vagabund und die Prinzessin) und dem Ballett „Velenczei Karneval (Der Karneval von Venedig) uraufgeführt. Das auf einer Ballade Edgar Allan Poes basierende Libretto stammt von Árpád Pásztor. August Beer schrieb lobend im Pester Lloyd(18. Oktober 1903): „Sympathisch und mit einfachem, natürlichem Ausdruck sang Herr Bochnicsek den Harold.“ Das Fischermädchen sang Gräfin Italia Vasquez. Der Komponist dirigierte selbst.

 

Ankündigung der Uraufführung der Oper „A ködkirály“ (Der Nebelkönig) von Emil Ábrányi im königlichen Opernhaus in Budapest

Pester Lloyd 17. Oktober 1903


Das Ende von Bochníčeka Engagements wird oft mit 1909 angegeben. Allerdings vermerkt das Personalverzeichnis in A Magyar Kiralyi Operahaz 1884-1909 sein Ausscheiden mit dem 31. März 1907.

Ein Weihnachtsmärchen

In der Folgezeit arbeitete Bochníček als Dirigent. Außerdem komponierte er. Am Hoftheater (heute Nationaltheater) Weimar wurde am 16. Dezember 1911 sein Weihnachtsmärchen mit Gesang und Tanz „Wie Klein-Else das Christkind suchen ging“ mit einem Text von Therese Lehmann-Haupt aufgeführt. Das Stück erschien unter dem Namen Julius Laubner. Wieder nutzte er für den deutschsprachigen Bereich dieses Pseudonym. Das Werk hatte acht Aufführungen in der Spielzeit 1911/1912 und wurde bis 1928 gespielt. Ab der Premiere am 23. Dezember 1913 lief das Stück auch am Stadttheater Erfurt.

 

1909-1913, 1917-1920 und 1921-1923 dirigierte er am Varieté-Theater im Prager Stadtteil Karolinenthal (Karlín). Von 1922 bis 1939 war er zusammen mit Josef Gedenk in der Direktion des 1919 gegründeten tschechoslowakischen Schutzverbands der Schriftsteller und Verleger musikalischer Werke SOZA (Ochranné sdružení spisovatelů a nakladatelů hudebních děl). Julius Bochníček starb am 17. Juni 1951 in Prag.

 

Die Stimme ist auf verschiedenen Tonträgern überliefert. Schallplatten erschienen bei G & T (Budapest, 1903), HMV (Prag, 1904), Zonophone (1905-06). Er nahm z.B. Arien aus „Eugen Onegin“ und „Dalibor“ auf.

 

 

Literatur

Karl-Josef Kutsch, Leo Riemens: Großes Sängerlexikon, 4. Aufl. München 2003, Bd. 4 S. 460.

A Magyar Kiralyi Operahaz 1884-1909, Adatok a szinház huszonöt éves történetéhez. Budapest 1909.

 


Lesehinweis

Über die im Text erwähnte Sopranistin Gräfin Italia Vasquez gibt es einen eigenen Beitrag

https://opernloderer.blogspot.com/2021/07/operngeschichte-die-singende-grafin.html

 


 


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