Operngeschichte: Cyrill Kistlers Oper „Kunihild“ 1893 in Würzburg
„Zweifelst Du noch, verzagter Greis? So lausche dem Widerhall, ob ich erlöst?“
– Die Aufführung von Cyrill Kistlers Oper „Kunihild und der Brautritt auf Kynast“ in Würzburg 1893 im Spiegel der Presse –
von Klaus J. Loderer
In der Berliner Börsenzeitung erschien im Februar 1893 ein Bericht über die Aufführung der Oper „Kunihild“ am Stadttheater Würzburg: „Aus Würzburg, 25. Februar schreibt man uns: Wie Ihnen der Telegraph bereits mitgetheilt hat, ist gestern Abend Cyrill Kistlers Musikdrama „Kunihild und der Brautritt auf Kynast“ mit durchschlagendem Erfolge über die hiesige Bühne gegangen. Anfänglich verhielt sich das Publicum abwartend, aber sehr bald wurde es wärmer und schon am Schlussse des ersten Actes brach der Beifall unaufhaltsam hervor und wurde der Componist wieder und wieder mit lauter Begeisterung vor die Gardine gerufen. – Der Dichtung liegt die an die Burg Kynast sich knüpfende Sage zu Grunde, sie weist eine Diction auf, die bei aller Knappheit doch voll begeisterten Schwunges ist. Der Dichter sowohl als auch der Componist sind ganz und voll Wagnerianer, und wenn man von Manchem sagen könnte, daß er Wagner etwas abgeschrieben habe, aber in den Geist nicht eingedrungen sei, so ist dies bei Kistler gerade das Gegentheil. Er ist ein würdiger Schüler des großen Meisters, dabei aber vollkommen originell und reich an melodischer Erfindungskraft. Die Oper ist außerordentlich reich an melodisch schönen wie an dramatisch bewegten Stellen. So ist gleich am Anfang Kunihilds Traum-Lied von packender Wirkung, ebenso Juthas Lied „Der Singvögel Mai“, ferner das Zwiegespräch zwischen den beiden Freundinnen. So reiht sich Perle an Perle. Auch im zweiten Act, der dramatisch etwas ärmer als der erste ist, aber musikalisch beinahe höher steht, besonders in den letzten Scenen. Das Duo zwischen Jutta und Sieghardt und die Verstoßung Sieghardts enthalten eine Fülle blendender musikalischen Edelgesteins. Im dritten Act ragt besonders das Duett zwischen Kunihild und Jutha und noch mehr die Arie Kunihilds „O! Jauchzet Himmel“ hervor. Ihren Höhepunkt aber erreicht die Musik in der Kampfscene der Brüder und dem großartigen Geisterchor, nach welchem Kunihild im Wahnsinn des Schmerzes um den getödteten Geliebten sich von den Zinnen in den Abgrund stürzt und mit den Worten „Erlöst, Erlöst“ endet. Die Aufführung war eine des Werkes würdige. Herr Capellmeister Wolfheim leitete dieselbe mit Energie und eindringlichem Verständniß und von den Darstellern nahm sich jeder Einzelne seiner Aufgabe mit größtem Eifer an. Wie schon angedeutet, wurden denn auch sie wie der Componist mit einmüthigem Beifall bedacht; und der letzte wohl an die zehn Mal gerufen. Möchte der großartige Eindruck, der vollkommene Erfolg, den die Composition sich hier errungen, ihr recht bald den Weg zu anderen Bühnen erschließen. Sollten unsere großen Deutschen Opernbühnen nur Ausländern offen stehen und die Werke eines tüchtigen Deutschen Meisters ihnen keiner Prüfung, keines Versuches werth erscheinen?“ (Berliner Börsenzeitung 28.2.1893)
„Kunihild und der Brautritt auf Kynast“
Oper und Komponist sind heute längst vergessen. Das Libretto von „Kunihild und der Brautritt auf Kynast, Operndichtung in drei Aufzügen“ erschien im Verlag Chr. Werner in München. Daraus erfährt man die handelnden Personen und ihre Stimmlagen:
Kunihild, Herrin auf Kynast – hoher Sopran
Jutha, Tocher des Vogts – Mezzosopran
Sigun und Sieghardt, Zwillingsbrüder – hohe Baritonstimmen
Kunibert, ihr Bruder – Tenor
Ein Mönch – tiefer Bass
Der Vogt – hoher Bass
Ritter, Knappen, Frauen, Mädchen, Volk
Die Handlung ist zur Zeit der Kreuzzüge auf der Burg Kynast im Riesengebirge. Als Ruine ist die Kynastburg (Chojnek) in der Nähe von Hirschberg (Jenenia Góra) im heute polnischen Niederschlesien bis heute erhalten. Die Legende von Kunigunde, die forderte, dass ihr Bräutigam auf dem Pferde die auf schroffen Felsen gelegene Burg umrunden sollte war im 19. Jahrhundert weit verbreitet. Man findet sie u.a. Ludwig Bechsteins Deutschem Sagenbuch. Zu Balladen inspirierte die Geschichte Theodor Körner, Friedrich Rückert und Louise Otto-Peters.
Eine Erlösungsgeschichte
Kistler hat für sein Libretto aus der Sage eine Erlösungsgeschichte gewoben. Da in der obigen Besprechung nur einige Details der Handlung hervorgehoben wurden, sei hier eine kurze Inhaltsangabe eingefügt. Kunihilds Vater hatte für die Eroberung der Burg Kynast seine noch ungeborene Tochter als Preis ausgesetzt. Da die Hölle ihm zur Hilfe kam, verfiel die Tochter der Hölle. Im Laufe der ersten beiden Akte erfährt man nach und nach, welche Komponenten einer Weissagung zusammentreffen müssen, um Kunihild zu erlösen: ein Werber, der noch keinen anderen Frau Liebe geschworen hat, muss auf einem milchigweißen Roß die Burg umrunden und sich in Kunihild verlieben. Nun tauchen die Söhne des vertriebenen früheren Besitzers auf, um sich zu rächen. Einer, Sieghardt, verliebt sich in Kunihilds Vertraute Judith. Sein Zwilligsbruder Sigun ist nur eingefügt, um für Verwirrung zu sorgen. Sein Bruder Kunibert verliebt sich in Kunihild, ohne zu wissen, wer sie ist, erfüllt dann auch noch alle Kriterien der Weissagung. Allerdings verhindert Sieghardt ein Happy End indem er Kunibert tötet, weil dieser den Racheschwur nicht ausführen will. Judtih will Sieghardt dann auch nicht mehr und stirbt. Aus der Tiefe erklingt der Chor der Geister. Kunihild stützt sich von den Mauern in die Tiefe, indem sie singt: „Zweifelst Du noch, verzagter Greis? So lausche dem Widerhall, ob ich erlöst?“ Und das Eche erklingt: „Erlöst! Erlöst!“
Kistler überarbeitete die Oper immer wieder. So verschwanden schließlich die Geisterchöre. Davon erfährt man in einem Brief Kistlers vom 24. Oktober 1896 an den Stuttgarter Hoftheaterintendanten: „Kunihild habe ich ebenfalls vollständig nach den Stuttgarter u. Münchener Aufführungen umgearbeitet. Die Geisterchöre sind vollständig verschwunden, überhaupt das Werk total anders geworden.“ (Staatsarchiv Ludwigsburg, E 18 VIII Bü 730)
Schon die damaligen Zeitgenossen erkannten die Wagner-Tradition Kistlers. Die Textdichtung Kistlers klingt schon recht wagnerisch. Als Beispiel sei der Beginn der Oper, ein Monolog des Vogts, zitiert. Schon alleine bestimmte Begriffe erinnern an Wagner-Textbücher:
„Magdliches Amt,
unwerth des Mannes,
lüftend zu bleichen
das bräutliche Linnen!
Ein Brusttuch, ich breit es
Im Winde aus –
Dem Werber zum Winke,
der Liebsten zur Lust;
werde auf Kynast
noch Kuppler zuletzt!“
Es geht darum, dass der Vogt eine Flagge hisst, die werbenden Ritter anlocken soll. Der letzte Satzteil ist witzig gemeint. Der Monolog geht in dieser Art weiter. Hier noch ein Beispiel, das wie eine Kreuzung der Texte von „Holländer“ und „Meistersinger“ wirkt:
„Ho! He! Was gibt’s?
Ein Freier gar?
Nun gut, wer ist’s
Der Einlass heischt?“
Die Würzburger Aufführung 1893 war übrigens nicht die Uraufführung. Die erste Aufführung der Oper war am 20. März 1884 in Sondershausen. Damals gab es wenig Resonanz. Die Aufführung 1893 sorgte allerdings für eine gewisse Neubelebung der Oper.
Der Komponist Cyrill Kistler
Der Komponist Cyrill Kistler (1848-1907) wurde in Großaitingen in Schwaben geboren und besuchte 1865 bis 1867 das Lehrersiminar in Lauingen. Nach einer Tätigkeit als Lehrer studierte er in München Orgel und Komposition. Sein Vorbild Richard Wagner lernte er in Bayreuth auch persönlich kennen. 1880 gründete Kistler die Musikzeitschrift Aufsätze über musikalische Tagesfragen, die ab 1887 Musikalische Tagesfragen und später nur noch Tagesfragen hieß. 1883 trat er eine Stelle am fürstlichen Konservatorium in Sondershausen an. Dort wurde im folgenden Jahr seine Oper „Kunihild“ aufgeführt. Ab 1885 war er in Bad Kissingen tätig. Im nahen Würzburg wurde 1889 seine Oper „Eulenspiegel“ uraufgeführt. Er wurde auf dem Kapellfriedhof in Bad Kissingen beigesetzt. Mit seinen oft sehr nationalistisch deutschen Äußerungen eckte er schon damals an, hatte allerdings auch seine Anhängerschaft.
Vinzenz Reifner schrieb im Nachruf 1907: „Nun hat man ihn also doch sterben lassen, ohne ihm wenigstens seinen Lebensabend zu verschönen durch die Anerkennung dessen, was er war: einer der besten unserer deutschen Tondichter! Das war der erste Gedanke, der mich bei der Nachricht von dem Tode Cyrill Kistlers durchzuckte und mir die ganze ebenso furchtbare als erhabene Tragik eines solchen Künstlerlebens in grellster Schärfe vor die Seele rückte.“ Zu Kistlers Werken zählen „Baldurs Tod“, „Im Honigmond“, „Arm Elflein“, „Röslein im Hag“, „Der Vogt von Mühlstein“, „Faust“ und „Die Kleinstädter“. Seine Werke sind heute weitgehend vergessen. Einen gewissen Nachruhm hatte Kistler durch seine mehrbändige Kompositionslehre. Sein Geburtsort Großaitingen und Bad Kissingen würdigten ihn zum hundertsten Todesjahr 2007. Außerdem werden seine Kompostionen für Orgel gelegentlich gespielt.
Würzburger Bühnenfestspiele
Die Oper „Kunihild“ wurde im Sommer nochmals in einer eigenen Serie gespielt. Das Stadttheater Würzburg veranstaltete im Sommer 1893 Bühnenspiele. Die Berliner Börsenzeitung kündigte diese im Juni an: „In Würzburg wurde, wie seiner Zeit gemeldet, im Februar mit großem Erfolge das Musikdrama „Kunihild“ von Cyrill Kistler aufgeführt. Eine Reihe von Kunstfreunden hat sich nun zusammengethan, um im August anläßlich des dort stattfindenden Lehrertages eine Reihe von Kunihild-Vorstellungen zu ermöglichen. Die erste Vorstellung findet am 30. Juli statt.“ (Berliner Börsenzeitung 22.6.1893)
Einen Monat später kam noch eine ausführlichere Ankündigung, die nun auch über die beteiligten Künstler informierte: „Die Freunde von Bühnenfestspielen brauchen in diesem Jahre nicht über Mangel klagen, weil Bayreuth seine Pforten geschlossen hält. In München, in Gotha und nunmehr auch in Würzburg hiebt es außergewöhnliche Operndarstellungen. In Würzburg haben sich Künstler und Kunstfreunde zusammengethan, um in den Tagen vom 30. Juli bis 15. August das Musikdrama „Kunihild“ von Cyrill Kistler am dortigen Stadttheater zur Aufführung zu bringen. Die Regie und Oberleitung liegt in den Händen des Dichtercomponisten, des Directors Reimann und des Prof. H. Ritter, des bekannten Viola alta-Virtuosen und Schwiegersohnes Richard Wagners. Die musikalische Direction hat Herr Capellmeister Anton Turck aus Prag. Aufführungstage sind der 30. Juli, der 4., 6., 9., 11., 13. und 15. August. Die Preise der Plätze sind sehr mäßig gestellt. Voranmeldungen sind an das „Bureau er Würzburger Bühnenfestspiele, Theatercafé Würzburg“, zu richten und mit einer Vormerkungsgebühr von 20 Pfg. für jedes Billet franco einzusenden.“ (Berliner Börsenzeitung 21.7.1893)
Die Berliner Börsenzeitung berichtete dann auch noch über die Aufführung am 29. Juli 1893 in Würzburg: „In Würzburg haben am Sonnabend die schon mehrfach erwähnten Aufführungen der Oper „Kunihild“ von Cyrill Kistler begonnen. Ueber die erste Aufführung berichtet der dortige „General-Anz.“: Ein volles Haus, ein vortreffliche Aufführung, rauschender Applaus – möge dieser Anfang ein gutes Omen für das Ende sein. Die Solisten boten bedeutende Leistungen, besonders auch die fremden Gäste, der Chor klappte überall vortrefflich. Das Orchester löste seine schwierige Aufgabe ebenfalls in anzuerkennender Weise. Die neuen Decorationen, vor Allem die vom Monde beglänzte Kynast-Landschaft des zweiten Aktes, fanden allseitigen Beifall. Die Regie zeigte, daß das Werk mit Liebe zur Sache einstudirt war. Die Sänger, sowie der Componist wurden nach jedem Acte stürmisch gerufen. In der Hofloge wohnte der Generalintendant der Münchener Hofbühne, Herr Ernst Possart, der die „Kunihild“ bekanntlich nächstens in München zur Aufführung bringen will, der Aufführung bei.“ (Berliner Börsenzeitung 2.8.1893)
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Zuschauerraum des Stadttheaters Würzburg um 1940
Architekturmuseum der TU Berlin |
Das Stadttheater Würzburg
Die Aufführungen in Würzburg fanden natürlich noch nicht im heutigen Mainfrankentheater statt, das ja erst nach dem Zweiten Weltkrieg errichtet wurde. Vorher besaß Würzburg ein historisches Theater. Das Gebäude wurde Mitte des 18. Jahrhunderts nach Plänen von Balthasar Neumann errichtet. 1803/1804 wurde in die Kapelle des ehemaligen Damenstifts St. Anna nach Plänen des Architekten Andreas Gärtner ein Theater eingebaut. Der Zuschauerraum wurde 1836 umgebaut. Die Bühne erhielt 1846 eine neue Maschinerie. 1905/1906 wurden an der Rückseite Treppenhäuser angebaut. Der Zuschauerraum mit drei Rängen fasste nahezu 800 Zuschauer.
Weitere Aufführungen von „Kunihild“
Die Oper wurde dann auch noch in Halle an der Saale aufgeführt, wie man aus einer Ankündigung für ein Konzert in Meran erfährt: „Cyrill Kistler ist das bedeutendste und häusigste Talent der Wagner’schen Schule, das wohl die Principien des großen Bayreuther Meisters sich zu eigen gemacht hat, jedoch Selbstständigkeit, Erfindungsgabe und Phantasie genug besitzt, um wirklich Neues schaffen zu können. Die Aufführungen seines ersten dramatischen Werkes „Kunihild“ in Würzburg und Halle haben großes Aufsehen erregt und zahlreiche stets vollbesetzte Wiederholungen erlebt. Außer den genannten Werken hat der Tondichter eine Komödie „Eulenspiegel“ vollendet, und ist er jetzt in Ausführung eines neuen gewaltigen Werkes „Wieland der Schmied“ begriffen.“ (Meraner Zeitung 23.2.1894)
Man findet in der Berliner Börsenzeitung auch die Ankündigung einer Aufführung in München: „Das Musikdrama „Kunihild“ von Cyrill Kistler wurde, wie der „Münchener Gen.-Anz.“ meldet, an der dortigen Hofbühne zur Aufführung angenommen.“ (Berliner Börsenzeitung 8.4.1893)
Allerdings erfolgte die Aufführung in München erst einmal noch nicht, denn 1896 veröffentlichte die Berliner Börsenzeitung wieder eine entsprechende Ankündigung: „Cyrill Kistlers Oper „Kunihild“, die bereits im Stuttgarter Hoftheater mit größtem Erfolg in Scene gegangen ist, wird demnächst auch im Münchener Hoftheater zur Aufführung gelangen.“ (Berliner Börsenzeitung 23.2.1896)
Die Aufführung im Hof- und Nationaltheater fand im April 1896 statt. Hedwig Pringsheim notierte am 18. April 1896 in ihr Tagebuch: „ödeste Wagnerei, blödsinniges Buch“. Das Wiener Gesellschaftsblatt Der Humorist zerriss die Münchner Aufführung: „Für heute ist die Oper „Kunihild“ von Cyrill Kistler angesetzt. So viel wir in der Hauptorte davon hörten, dürfte das Musikdrama sehr schnell beerdigt werden. Kistler sprach sehr abfällig von den Werken Mascagni’s und Leoncavallo’s und componirte „Kunihild oder der Brautritt auf Kynast“. [...] Das Libretto ist in Form und Styl dem Nibelungenring nachgeahmt – nur viel schwulstiger. Die Musik ist gleichfalls dem älteren Wagner abgelauscht – wir begegnen darin aber auch dem Motiv – „Nur für Natur“ &c. &c. Alles in Allem suchte Kistler auf dem Weg zur Walhalla Wagnermusik auf, gerieth dabei in unbeschreibliche Verwirrung. Es wird noch Vielen so ergehen, die auch Wagner spielen wolle. Der Wille war bei der kistlerischen Holzmusik gut – jedoch das Fleisch recht schwach. Drei Stunden lang die Recitative eines Unbedeutenden zu hören, ist selbstverständlich kein Genuss. Das ganz Hoforchester war darüber einig, daß diese Musik gleich Null ist und doch die Plage damit!? Um den Durchfall zu erleichtern, legte man die Hauptpartie Kunihild in die Hände von Frau Schöller, welche die „Werber“ schon durch ihr Tremoliren vertreiben könnte. [...] Die Regie des Herrn Müller verdient alles Lob, der Componist unser innigstes Beileid.“ (Der Humorist, 1896, 12)
„Eulenspiegel“
Kistler beschäftigte sich in dieser Zeit auch wieder mit seiner Oper „Eulenspiegel“. Aus einem im Staatsarchiv Ludwigsburg verwahrten Brief vom 24. Oktober 1896 an den den Edlen zu Putlitz, Intendant des Stuttgarter Hoftheater, erfährt man: „Euer Exzellenz heile ich mit, daß ich heute die Komödie Eulenspiegel zur event. Aufführung einsandte. Erlaube mir Euer Hochgeboren einige Briefe [...] beizulegen. Das Werk wurde in München – wie mir scheint wegen Mangel an einem geeigneten Tenor zurückgelegt. Nun haben Euer Hochgeboren einen solchen in der Person des Hr. Müller, der sich ganz vorzüglich hiezu eignen würde. Der Orchesterpart ist sehr schwierig u. es wäre für das Stuttgarter wundervolle Orchester eine ganz großartige Aufgabe. Auf Veranlassung des Hr. Generaldirektors v. Levi habe ich das Stück in einen Einakter umgearbeitet. Das Stück wurde in Würzburg ganz unzulänglich aufgeführt u. erzielte die lustige Handlung demnach einen großen Erfolg. Erlaube mir einige Rezension beizulegen, die Privatbriefe aus München bitte ergebenst retour senden zu lassen.“ (Staatsarchiv Ludwigsburg, E 18 VIII Bü 730)
Ärger über Kritiken
Unter der Überschrift Nieder mit der Kritik findet man im Berliner Tageblatt eine interessante Begebenheit, in der sich die Zeitung über Kistler amüsiert, da dieser wohl in seiner eigenen Musikzeitschrift Tagesfragen wegen schlechter Kritiken seiner Oper „Kunihild“ aufgebracht war: „Herr Cyrill Kistler, der Komponist der in diesen Tagen auch in Frankfurt a. M. gegebenen Oper „Kunihild“, hält sich in Kissingen auch eine musikalische „Zeitschrift für Tagesfragen“, in der er jetzt die Kritiker seines Werkes grausam zusammenhaut. So heißt es von einem Referenten des Blattes über Land und Meer: „Ein liebenswürdiger Kritiker, dessen Land Mistbeet und dessen Meer Jauche zu sein scheint. Solchen Leuten sollten die Wege zur Presse verschlossen bleiben.“ … Vom „Beobachter“ wird erzählt: „Er nimmt redlichen Antheil an der Kunihild-Gänswürgerei und schlachte den monarchisch genannten Komponisten ab. Das war natürlich für die Demokratenpresse in Würzburg, die wie hungriges Vieh über das Schweinefutter herfiel und den demokratischen Spanferkeln vorsetzte.“ … Einen geradezu faschinghaften Bericht brachte die „Münchener Allgemeine“. Der Standpunkt, den dieses Blatt in unserer Kunst einnimmt, ist so komisch, daß selbst die Tagesblätter es zu dumm finden, mit der Redaktion zu rechten. Die Kunihild-Kritik war so lustig, daß dieselbe beim lauten Vorlesen an der Bahnhofsrestauration Stuttgart stellenweise durch laute Heiterkeitssalven unterbrochen wurde.“ … „ Die Belehrungen lesen sich ungefährt so, wie der Stubenarrest eines Schulbuben sich fühlt.“ … Hoffentlich schreibt der böse Cyrill besser Musik als Deutsch.“ (Berliner Tageblatt 24.4.1896)
Nachleben
Der Klavierauszug von „Kunihild“ wurde 1884 bei Fritzsch in Leipzig veröffentlicht. In den 1890er-Jahren kamen Textbuch und Klavierauszug nochmals und sogar in mehreren Auflagen heraus. Eine ausführliche Inhaltsangabe der Oper findet sich in dem 1894 erschienenen Opernführer von W. Lackowitz. Außerdem veröffentlichte die Neue Musikzeitung 1894 in der Nr. 18 den Klavierauszug des Vorspiels zum dritten Akt. Eine gewisse Popularität scheint die Oper gehabt zu haben, denn der Klavierauszug erschien in mehreren Auflagen. Außerdem übersetzte Ashton Ellis den Text ins Englische. Während in Deutschland die Oper längst vergessen ist, hat sich in Nordamerika zumindest das Vorspiel des dritten Akts als Konzertstück erhalten. So erschien vor einiger Zeit in einem kanadischen Notenverlag eine Bearbeitung für Blaskapelle von Robert M. Barr.
Literatur
Neue Deutsche Biographie, Bd. 11 (1977), S. 689-690.
Vinzenz Reifner: Zum Tode Cyrill Kistlers. In: Neue Musikzeitung, Jg. 28, 1907, Nr. 10, S. 212-213.
W. Lackowitz: Der Opernführer, Textbuch der Textbücher, Bd. 2, 2. verm. Aufl. Leipzig [1894], S. 144-147.
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