Ausstellung: Uta Zaumseil, Nachtflüge – Galerie der Stadt Backnang 2020/2021
Der fliegende Lesende
– Uta Zaumseil zeigt verwirrend-irritierende und surreale Bilder in der Ausstellung „Nachtflüge“ in der Galerie der Stadt Backnang –
von Klaus J. Loderer
Ein junger Mann liest ein Buch. Was er liest, wissen wir nicht. Aber wie er Zeit und Raum um sich herum vergisst, das kennt man aus eigener Lektüre. Auch dieser junge Mann scheint völlig im Buch versunken. Das Zimmer um ihn herum ist verschwunden. Er fliegt mit seiner Matratze über eine nächtliche Stadt. Zumindest erahnen wir aus den Andeutungen von Hochhäusern am unteren Ende des für die Ausstellung in der Galerie der Stadt Backnang titelgebenden Bildes „Nachtflug“ von Uta Zaumseil, dass wir auf eine nächtlich beleuchtete Stadt blicken. Weiter hinten sind es nur weiße Punkte auf dem tief-schwarzen Blatt, aus denen wir die Assoziation bilden. Der junge Mann könnte in seiner Imagination auch durch die Milchstraße fliegen. „Zwei Welten, die hier einander begegnen, eine innerliche und eine äußere, die eine ruhig die andere hektisch, ein Punkt in einem bewegten Ozean.“ – so schreibt Kai Uwe Schwierz im Katalog zur Ausstellung.
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Uta Zaumseil: „Nachtflug“, 2018, 100 x 140 cm, Linolschnitt |
„online“
Im Bild „online“ spielt Uta Zaumseil mit einem ganz ähnlichen Motiv. Da sitzt der junge Mann gebückt vor einem Computer. Die grell weiße Fläche des Bildschirms beleuchtet den jungen Mann so, daß wir nur seine Konturen sehen. Doch wo befindet er sich? Wir sehen Andeutungen von Möbeln und Fenstersprossen einer Glasfront. Man erkennt die Hochhausmotive aus „Nachtflug“ wieder, die hier oben am Blatt wie eine Spiegelung erscheinen. Vielleicht sind es auch keine Hochhäuser, sondern statistische Graphiken, über die der junge Mann gerade nachdenkt. Überhaupt scheint auch er über einer Großstadt zu schweben.
Uta Zaumseil zeigt Räume und verwischt sie wieder. Sie baut exakte Perspektiven auf und überlagert sie mit anderen Perspektiven. In „baby you can drive my car“ geht eine Gruppe junger Leute eine Treppe zur Berliner U-Bahn hinunter. Dynamik erhält das Bild durch den wehenden Mantel. Doch was hat es mit der roten und schräg verlaufenden Treppe auf sich, auf der ein Mann im kariertem Mantel hinabgeht?
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Uta Zaumseil: „baby you can drive my car”, 2018, Linolschnitt |
Spiel mit Perspektiven
In „Weißensee“ schaut man aus einem Fenster auf die Gehwegplatten und sieht Fahrräder an einem Fahrradständer. Die untere Hälfte des Bildes verwirrt. Es scheint das Motiv mit den Gehwegplatten auf dem Kopf zu stehen. Oder ist es doch ein anderes Motiv? Unser perspektivisches System bricht zusammen und lässt uns ratlos. Mit solchen Überraschungseffekten gibt Uta Zaumseil ihren Bildern einen surrealen Zug. Auf den ersten Blick scheint sie harmlose Geschichten und einfache Motive zu zeigen. Doch bringt sie uns immer wieder durcheinander. Sie sorgt für Irritationen.
Mit klassischer Technik zu einer bemerkenswerten Virtuosität
Dass es sich um großformatige Drucke handelt, sieht man nicht sofort. Mit einer klassischen Technik gelangt Uta Zaumseil zu einer bemerkenswerten Virtuosität. Linoldruck hat einen Anflug von Spießigkeit. Doch zeigt die Ausstellung in der Galerie der Stadt Backnang, dass dem nicht so sein muss. Die Bilder, zu deren Erarbeitung die Künstlerin mit Akribie die Druckplatten vorbereitet und bearbeitet sind in ihrer Komplexität und Farbenfreude so virtuos, dass man als Betrachter die Herstellungstechnik erst einmal nicht durchschaut. Und die Arbeiten Uta Zaumseils haben noch eine Besonderheit, die sie von üblichen Drucken unterscheidet. Es handelt sich um Unikate und nicht wie sonst um Einzelabzüge ganzer Serien. Schon die Größe der Blätter lässt erstaunen. Uta Zaumseil arbeitet für die Druckstöcke mit MDF-Platten. Diese haben den Vorteil, dass sie fein bearbeitet werden können und beim Druck nicht wie beim Holzschnitt die Maserung aufscheint. Doch geht es Uta Zaumseil gar nicht darum, eine besonders exakte Flächenhaftigkeit zu erreichen. Denn beim eigentlichen Druckvorgang sorgt sie selbst dafür, dass Farben verschwimmen oder dass durch unterschiedliche Druckstärke Farbnuancen entstehen. Deshalb macht sie lieber Handabzüge und arbeitet nicht mit einer Druckmaschine. Deren gleichmäßigen Druck und die entstehenden homogenen Farbflächen findet sie langweilig und drückt lieber mit den Schuhen das Papier auf die eingefärbten Druckstöcke. Das sorgt für eine gewisse Wolkigkeit und bewusste Verunklärung der sonst scharfkantigen Flächen.
Wiederkehrende Motive
Bestimmte Motive wiederholen sich auf vielen Bildern. Teile von Druckplatten verwendet sie durchaus wieder in anderen Bildern. Der junge Mann, der sich als Muse durch Zaumseils Werk zieht, das ist ihr Sohn Oskar. Dann flattern oder liegen auf vielen Bildern Folienstücke, die oft wie prunkvoll bestickte Schleier aussehen. Immer wieder findet man ein Reh. In „Innsbrucker Platz“ spaziert eine ganze Herde Rotwild an einem U-Bahneingang vorbei. So konkret die architektonische Situation mit dem Blick die U-Bahntreppe hinauf und dem sie verlassenden jungen Mann ist, so surreal ist die querende Herde. Geradezu gespenstisch wirkt die Situation in „Mehla Berlin“: ein Reh im Wald. Es scheint wie erstarrt im Scheinwerferlicht. Fast schwarz-weiß ist dieses Bild. Ein grell vom Blitzlicht überbelichteter Ast durchschneidet das Bild. Weiter rechts sehen wir zwei fotografierende Personen. Stammt von ihnen das Blitzlicht? Was fotografieren sie eigentlich? Dieses rechte Drittel des Bildes gehört schon alleine durch seine Farbigkeit einer völlig anderen Sphäre an. Wir versuchen die beiden Teile des Bildes zusammenzubringen, vielleicht weil das Reh in diesen Bereich hinüberzuschauen scheint. Die Künstlerin lässt uns im Stich. Wir dürfen unsere Geschichte alleine spinnen. „Man wandert suchend durch ein unwirkliches melancholisches Bild, das einen mit Unbehagen zurücklässt,“ beschreibt Martin Schick die unwirkliche Stimmung treffend im Begleitband zur Ausstellung.
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Uta Zaumseil: „ngoro, ngoro“, 2017, 53 x 86 cm, Linolschnitt |
Wohin geht der Blick?
Noch mysteriöser bleibt für den Bildbetrachter, was die zwei Frauen in „ngora, ngora“ betrachten. Zwei große Personen warten im Vordergrund warten. Geschickt lenkt Uta Zaumseil durch die von rechts nach links kleiner werdenden Personen unseren Blick zu den zwei vor der Wand stehenden Frauen. Sie beugen sich vor, als wollten sie etwas Winziges an der Wand anschauen. Doch mit ihnen geht gleichfalls eine Verwandlung vor sich. Ihre Köpfe scheinen sich geradezu aufzulösen und mit der milchig-hellen Wand zu verschmelzen, als würden sie von der Wand aufgenommen werden. Und wieder ist man fasziniert, wie es der Künstlerin gelingt, mit dem indirekten Medium des Druckverfahrens einen so malerischen Effekt zu erreichen. Auch dieses Bild stellt auf den ersten Blick wie harmlose Geschichte dar und wird kompliziert, wenn man es genauer betrachtet.
Gelegentlich arbeitet Uta Zaumseil mit Variationen eines Themas. Mit der die U-Bahn-Treppe hinuntergehenden Gruppe gibt es eine ganze Reihe von Bildern. Sie wechselt dabei gerne den Bildausschnitt und verschiebt die Schwerpunkte, sie überlagert die Motive mit Fotos oder sie verwendet sie für Collagen. Von einer Schneelandschaft, die ein Ausblick aus einem fahrenden Zug sein könnte, an dessen Scheiben Wassertropfen entlangschlieren, gibt es eine Variation, in der ein junger Mann, gerade in das Bild hineintritt. Die Künstlerin zeigt uns diesen Vorgang ganz bewusst, indem der linke Fuß noch außerhalb des Bildes ist. Den Hauptfarbakzent setzt die sich vor dem jungen Mann aufblähende und in Blautönen schillernde Folie. Immer wieder findet man eine in Landschaft stehende Treppe.
Der Waschbär
Zum unentwirrbaren grafischen Muster multipliziert sie Baugesrüste. Detailausschnitte vergrößert sie so stark, dass das eigentliche Motiv sich verliert – wie in einem Bild mit halb abgerupften Plakaten einer Litfaßsäule. Als Gag zieht sich eine Reihe von kleinformatigen Bildern mit einem Waschbären durch die Ausstellung.
Die Dauer der Ausstellung wurde bis Mai 2021 verlängert. Im Jahr 2022 soll die Ausstellung im Angermuseum in Erfurt gezeigt werden. Zur Ausstellung erschien im Kerber-Verlag ein Katalog mit Texten von Martin Schick und Kai Uwe Schierz.
Ausstellung
Uta Zaumseil – Nachtflüge
Galerie der Stadt Backnang
Turmschulhaus
Petrus-Jacobi-Weg 1
21. November 2020 – 24. Mai 2021
Öffnungszeiten: Di – Fr 17 – 19 Uhr, Sa & So 14 – 19 Uhr
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