Buchbesprechung: Hans Ostwald – Berlin, Anfänge einer Großstadt
Von Varietés, Kaffeeklappen und Bouillonkellern
– Ein Lesebuch zum Berlin der Zeit nach 1900 mit Texten aus Hans Ostwalds Großstadt-Dokumenten, herausgegeben von Thomas Böhm –
von Klaus J. Loderer
Bei wogendem Nachtleben in der Friedrichstraße, Nachtlokalen, Varietés, Buchmachern, schwulen Bars, Prostituierten und Strichern in Berlin denkt man heute vorschnell an die 1920er-Jahre. Die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg wird oft als spießiges Kaiserreich abgetan. Doch genau in dieser Zeit bildete sich die Metropole heraus. Die Vielzahl an Cafés, Varietés, Theater und Lokalen hätte in der wirtschaftlich problematischen Zeit nach dem Ersten Weltkrieg gar nicht entstehen können. Das großstädtische Leben gab es in Berlin schon. Es war anders, aber es war schon vorhanden. Sicher war es durch die Moralvorstellungen in der Kaiserzeit eingeschränkter als die freieren 1920er-Jahre. Aber auch in der Kaiserzeit tat sich so einiges in Berlin, wenn gerade kein Polizist in der Nähe war. Da gab es viel, über das sich Moralapostel aufregen konnten. Aber es gab genügend Leute, die an die Grenzen und darüber hinaus gingen. Und auch im Kaiserreich waren Moral und Unmoral ziemlich dehnbare Dinge. Das macht auch für uns den Reiz dieser Zeit aus.
Was in Berlin im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts alles möglich war, das zeigt eine Textsammlung, die Thomas Böhm zusammengestellt hat. Die Texte entstammen der Buchreihe Großstadt-Dokumente. Die insgesamt fünfzig Bände erschienen zwischen 1904 und 1908 und bilden eine bemerkenswerte Bestandsaufnahme des Lebens in Berlin (und Wien). Es handelte sich um handliche kleine Bändchen, die sich großer Beliebtheit erfreuten. Der auf der Titelseite des Buchs genannte Hans Ostwald war der Autor des ersten Bands und Herausgeber der Buchreihe. So sind auch die Texte im Buch von vielen verschiedenen Autoren. Die Autoren lieferten keine heimatkundliche Beschreibung sondern widmeten sich Themen, über die man noch heute staunt, schwere Jungs, uneheliche Mütter, die verwahrloste Jugend, Spielertum, Mädchenhandel, Frauenbewegung etc. Einzig Magnus Hirschfelds Band „Das dritte Geschlecht“ über Homosexualität hat bis heute eine gewisse Bekanntheit. Wohlgemerkt: wir sprechen von der Zeit nach 1900 – da sieht man, wie alt die angeblich so modernen Themen schon sind. Der bekannteste Autor war sicherlich Felix Salten, der über den Wiener Adel schrieb. Die Reihe war thematisch sehr breit angelegt, vom Warenhaus, über Theater, Kaffeehäuser, Tanzlokale, Banken bis zur Arbeiterbewegung. Da nicht wenige Themen damals heikel waren (der Band 20 wurde sogar verboten und durch ein anderes Thema ersetzt), wurden manche Bände unter Pseudonymen veröffentlicht. Herausgeber Böhm stellt am Ende des Bands die Autoren vor und löst dabei auch einige Pseudonyme auf. Es sind aber bis heute nicht von allen Autoren die echten Namen bekannt.
Die Texte entstanden in einer Zeit, in der Berlin zur Metropole wurde. Die Stadt hatte Ende des 19. Jahrhunderts enormen Zulauf, die Einwohnerschaft vervielfachte sich, explodierte geradezu. Trotz des Immobilienbooms gab es massive Wohnungsprobleme. Die Wohndichte war unbeschreiblich. Auch das und die massiven Veränderungen der Stadt werden in den Texten angesprochen. Nach Westen wuchs Berlin um den Tiergarten herum. Die benachbarten Dörfer wurden selbst zu Großstädten.
Thomas Böhm hat aus den Berlin-Bänden der „Großstadt-Dokumente“ 49 Texte ausgewählt, mit denen er das Leben in Berlin vorstellt. Man findet darin nicht die üblichen bekannten Dinge, die man mit der Zeit des Kaiserreichs verbindet, wie Stadtschloss, Paraden und Kaiser-Wilhelms-Gedächtnis-Kirche. Vielmehr führt uns Böhm wie es schon Hans Ostwald, der übrigens mit einem Buch über Vagabunden bekannt wurde, zu Orten, die uns heute überraschen. Die Prachtstraße unter den Linden lernen wir als Bankenviertel kennen. Wir erfahren, dass in der Kaiserpassage zwischen den Linden und der Behrensstraße (da steht heute das Westin Grand Hotel) nicht nur die erste Berliner Bar war, sondern auch schwule Männer anbandelten. Wir lernen Gastronomieformen kennen, die es heute nicht mehr gibt, wie den Bouillonkeller, ein nur nachts geöffnetes Lokal ohne Alkoholkonzession, in dem man z.B. Suppe aß. Der Begriff Kaffeeklappe stand für eine einfache Form des Kaffeehauses, konnte aber auch ein schäbiges Kellerlokal sein. Richard Dietrich wundert sich über die Bier- und Weinstuben zum verborgenen Veilchen, in dem es Verdi-Concert und Bauchtanz gibt. Albert Weidner geht mit uns in ein sozialistisches Lokal, das als Dynamitkeller bekannt war. Schon die damaligen Leser waren wohl fasziniert von diesen fremden Welten außerhalb ihres braven bürgerlichen Milieuy mit Sozialisten, Strichern, Prostituierten, Zuhältern, Ganoven, Falschspielern etc., die sie nicht kannten. Von einer gewissen Sensationslust hat sich Thomas Böhm sicher auch verführen lassen, aber das ist verständlich, schließlich wollen wir ja spannende, ungewöhnliche Dinge erfahren und überrascht werden. Und von Halbweltgestalten lesen wir doch gerne. Da zwischen den Texten, die Orte oder Personen beschreiben, aber auch analytische Texte zu lesen sind, in denen man z.B. erfährt, wie damals ein Falschspieler gearbeitet hat, ist eine abwechslungsreiche Textfolge entstanden. Und es geht im Buch auch nicht nur um das Berlin im Untergrund, was sich sowohl auf die vielen im Buch vorkommenden Kellerlokale wie auf sozial niedrig stehenden Personen bezieht. Wir erfahren von Pferderennen und von eleganten Klubs. Dass die Verwaltung damals unter antiquierten Verhältnissen arbeitete, darüber schmunzelt man, das ist wohl ein immerwährendes Phänomen in diesem Land. An anderer Stelle lässt sich der Autor, von dem nur das Pseudonym bekannt ist, über die monströsen Namen von Behörden aus.
In der Reihe „Großstadt-Dokumente“ erschienen zwei Bände zu Theaterthemen. Aus Walter Turszinskys „Berliner Theater“ hat Böhm keinen Text übernommen. Da diese Texte eher etwas trocken sind, ist das verständlich. Aber man findet zwei Texte aus „Varieté und Tingeltangel in Berlin“ von Eberhard Buchner mit einer interessanten Beschreibung eines Programms in einem Familienvarieté und die Varietés wie Wintergarten, Passagetheater und Apollotheater, in denen international bekannte Künstler auftraten.
In fast zweihundert Fußnoten erläutert Herausgeber Böhm Orte, Personen und nicht mehr geläufige Begriffe. Dass man sich etwas zurechtfindet in der doch sehr veränderten Stadt, sind vorne und hinten im Buch Ausschnitte historischer Stadtpläne abgedruckt. Interessant sind auch die Biographien der Autoren am Ende des Bands. Den Herausgeber und Autor des ersten Bands, Hans Ostwald, stellt Böhm ausführlich im einführenden Text vor.
Ein spannendes und informatives Buch für alle, die authentische Texte zum Berlin der Zeit um 1900 lesen und sich mit Stimmungsbildern und Bestandsaufnahme auf einen Großstadtbummel durch die verschiedenen sozialen Schichten einlassen möchten. Mit der Neuveröffentlichung der Texte wird vergessenes Stadtleben wiederbelebt.
Hans Ostwald
Berlin
Anfänge einer Großstadt
Szene und Reportagen 1904-1908
Herausgegeben von Thomas Böhm
1. Aufl.
Galiani Verlag
Berlin
2020
ISBN 978-3-86971-193-5
405 S.
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