Theatergeschichte: Wie aus dem Somossy-Orpheum das Budapester Operettentheater wurde

Unterhaltung im alten Budapest 

– Karl Somossy und sein Erstes hauptstädtisches Orpheum – 

von Klaus J. Loderer


Sylva Varescu tritt in der Operette »Die Csárdásfürstin« im Budapester Orpheum auf. Was ist eigentlich ein Orpheum? Der Begriff basiert natürlich auf dem Sänger Orpheus in der griechischen Mythologie. Das Fremdwörterbuch übersetzt Orpheum mit Tonhalle oder Vergnügungslokal. In der Operette ist, wie man schnell merkt, kein Konzertsaal gemeint sondern ein Etablissement, wie man früher so schön sagte. Denn Sylva Varescu ist keine Kammersängerin sondern eine »Tingeltangeleuse«, wie despektierlich über sie gesagt wird. Der deutsche Begriff für Orpheum war Rauchtheater, was schon darauf hinweist, dass man dort nicht wie im Bayreuther Festspielhaus gebannt auf die Bühne starrte oder wie im königlichen Hoftheater zu Budapest auf das Kleid in der Loge gegenüber, sondern man es sich gemütlich machte, rauchte, tafelte und sich nebenbei unterhalten ließ mit Musik und Show. Da wurde gelacht und »Oooooh« gemacht. Da ging es um Attraktionen, gewürzt mit Anzüglichkeiten. Bei einer Sängerin war ein hoher Ton nur dann interessant, wenn auch wirklich die Gläser zersprangen.


Dass Sylva Varescu in Emmerich Kálmáns Operette im Budapester Orpheum auftritt, hat in letzter Zeit dazu verleitet, die Handlung im Gebäude des Budapester Operettentheaters zu lokalisieren, dem früheren Somossy Orpheum. Ob man das so bestimmt sagen kann, sei einmal dahingestellt, denn es gab in Budapest noch andere vergleichbare, wenn auch wesentlich bescheidenere Lokale. Auch Herzmanns Orpheum in der Hajos u. 13 führte das besagte Wort im Titel, womit es in Pest schon zwei Lokale dieser Gattung gab. Jetzt könnte man einfügen, dass ein fürstlicher Spross natürlich in das bombastische Somossy-Orpheum ging, doch Herzmanns Orpheum war immerhin gegenüber der königlichen Oper, also auch nicht gerade in schlechter Lage. Dann gab es noch das I. Josephstädter Orpheum im Café Wertheimer in der Volkstheatergasse 28 (Népszínház u.) an der Ecke des Neuen Marktplatzes (heute II. János Pál pápa tér, vorher Köztársaság tér).


Das 1894 eröffnete Orpheum Somossy in Budapest

(Der Architekt, 1895, Tafel 36)


Das erste hauptstädtische Orpheum

Das Somossy-Orpheum war unter dem Namen seines Direktors Károly Somossy (eigentlich Karl Singer, 1837-1902) bekannt. Er stammte aus Györ, war in Prag beim Zirkus Dersin und ab 1870 beim Zirkus Renz. 1871 ließ er sich in Budapest nieder und arbeitete sich zum Theaterbetreiber hoch. Er eröffnete 1884 das »Erste hauptstädtische Orpheum« (Első Fővárosi Orfeum). Das Unterhaltungsprogramm war gemischt, Varieté mit Attraktionen und Kuriositäten, musikalische Programme und Operetten oder Pasticcios aus verschiedenen Operetten. Am 1. Dezember 1892 war die Premiere der Operette »Das Frauenbataillon«, einer Militärparodie, die 1892/93 als Erfolgsstück mit mehr als hundert Aufführungen lief. Kapellmeister und Komponist war Wilhelm Rosenzweig (1852-1899), der verschiedene Wiener Lieder komponierte. Die Konzeption entwarf Somossy selbst. Als besondere Attraktion wurde angekündigt: »Zum ersten Mal mit blendender Ausstattung an Kostümen, Uniformen und Ausrüstungsgegenständen« und »Fräulein Carola wird die große Revue zu Pferd abnehmen«. Die Hauptrollen hatten Cecilie Carola als Emilie Tarola, Primadonna einer Chantantbühne und Oberlieutenant bei den Dragonern; Edmund Werner als Moni Mandl, Habitué  und Ferdinand Rück  als Theaterdiener Wastl Fleck. Beim Rollennamen Emilie Tarola stutzt man – die Ähnlichkeit mit einem der großen Stars der Budapester Oper, Emma Turolla, war sicher gewollt.


Anzeige zur Premiere »Das Frauenbataillon«

(Pester Lloyd vom 1. Dezember 1892)


Das Theater schließt

Am 10. März 1893 kündigte Somossy in der deutschsprachigen Tageszeitung Pester Lloyd die  hundertste Vorstellung und gleichzeitig die Schließung des Theaters an: »Am 12. d. M. schließe ich mein Etablissement nach einer zehnjährigen Spielperiode, welche ich dank der unwandelbaren Gunst des Budapester Publikums, zu der glücklichsten meiner langjährigen Wirksamkeit als Etablissementsleiter zähle. Es ist mir nun ein dringendes Herzensbedürfnis, diesem Publikum meinen tiefempfundenen Dank auszusprechen. Es wäre ein geringes Entgelt für so viele Güte und Wohlwollen blos Worte des Dankes zu haben. Ich habe, um mich dieser Schuld zu entledigen, das Gebiet der Thaten betreten und mit der ganzen Anspannung meiner Vermögenskräfte den Bau eines Etablissements in Angriff genommen, welches der Hochherzigkeit des Budapester Publikums in Allem würdig sein soll. In diesem Lokale werde wieder vor das Publikum treten und unter Berufung auf die gewähltesten Darbietungen eines Varietäten-Theaters die hochgeschätzte Gunst meiner Gönner anrufen. Im Rahmen eines provisorischen Apparates werde ich wohl noch die Ehre genießen können, meine verehrten Gönner in meinen an anderer Stelle errichteten Räumen zu sehen, ich kann jedoch diese Stätte nicht verlassen, ohne mich des so glänzend geäußerten Wohlwollens dankerfüllten Herzens zu erinnern, das mir hier in so reichem Maße gespendet worden ist. Mit der frohen Aussicht auf ein glückliches Wiedersehen, sage ich meinen Gönnern ein herzliches Lebewohl und zeichne in hochachtungsvoller Verehrung Karl Somossy, Eigenthümer und Direktor des 1. Hauptstädtischen Orpheums.« Am 12. März 1893 schloss das alte Orpheum. 


Anzeige zur Eröffnung des Interims-Orpheus

(Pester Lloyd vom 27. April 1893)


Das Orpheum im Ausweichquartier

Das Interims-Orpheum war in der Nähe des Westbahnhofs, an der Ecke Podmaniczkygasse und Vörösmartygasse. Die Eröffnungsvorstellung war am 27. April 1893. Fast ein Jahr spielte Somossy in diesem Ausweichquartier. Zu Fasching 1894 fanden die letzten Vorstellungen statt. Es dürfte sich um ein eher provisorisches Gebäude gehandelt haben. Auf dem Grundstück wurde im Anschluss 1895 ein hohes Eckhaus gebaut, dessen auffällige Fassade  darauf hinwies, dass hier die Freimaurerloge ihren Sitz hatte. Heute ist in dem Gebäude das Mystery Hotel. 

Das neue Orpheum

Schon 1890 hatte Somossy die Wiener Architekten Fellner & Helmer mit der Neugestaltung seines Theaters in der Theresienstadt (Teréz város) beauftragt. Doch erst 1893/94 machte sich Somossy an die Ausführung. Durch die beengten Grundstücksverhältnisse ist das Theatergebäude als solches von der Straße aus nicht sichtbar. Allerdings sollte das Theater mit seiner Neorokoko-Ausstattung den repräsentativen Rahmen für den Besuch auch der eleganten Gesellschaft bieten. Die Lage war unweit der Oper nahe der eleganten Andrássy út.


Die in Wien erscheinende Zeitschrift »Der Architekt« stellte 1895 das neue Orpheum mit mehreren gezeichneten Abbildungen vor (I. Jg., 1895, S. 27). Den Begleittext übernahm »Der Architekt« aus der Zeitschrift des österreichischen Ingenieur- und Architekten-Vereines (47. Jg., 1895, S. 29). Er besprach einen Vortrag des Architekten Ferdinand Fellner und ging nach einer ausführlichen Einleitung zum Theater Rauchtheater mit Bewirtung im Saal auf das Theater ein, in dem heute das Budapester Operettentheater (Budapesti Operettszínház) spielt: »In seinem am 17. November 1894 im Österreichischen Ingenieur- und Architektenvereine gehaltenen Vortrage gab Herr Baurath Fellner zunächst  einen gedrängten geschichtlichen Überblick über den Bau moderner Specialitätenbühnen. Diese Bühnen sind allmählich aus den provisorischen Bühnen der Bänkelsänger und Gymnastiker entstanden, wie sie heute noch in den Vorstädten und Landgemeinden bestehen. In den großen Städten dagegen, wie Paris, London, Berlin und Wien, verfeinerte sich allgemach dieses Genre, und so wurden derlei Bühnen bald zum Versammlungsorte auch des feineren Publicums. Wir finden vorerst in Paris die Cafés chantants; London birgt heute an 20 derartigen Zwecken bestimmte große Häuser. In Frankreich, Belgien und Holland entstanden die sogenannten Edentheater mit ihrer typischen maurischen Architektur, während in Berlin lange Zeit das Orpheum, die Reichshallen, später der Wintergarten und die Concordia, in Wien jedoch bloß das Orpheum Stätten dieser Art waren. Erst Ronacher in Wien und später in Berlin schuf Gebäude eleganteren Stils, und vor wenigen Monaten erst wurde in Budapest ein gleiches Etablissement errichtet. Es entsteht nun die Frage: in welcher Beziehung unterscheiden sich diese Objecte von den übrigen Theatern? Während diese die Aufgabe zu erfüllen haben, die künstlerischen Darbietungen dem Publicum möglichst gut zu vermitteln, tritt bei den Rauchtheatern außerdem noch die Aufgabe hinzu, dem Publicum Speise und Trank in bequemer Weise darzubieten und ihm Räume zum freien Verkehr und zur Promenade zu schaffen. Dadurch werden solche Theater weitaus complicierter, indem der Architekt nicht nur den bequemen Verkehr des Publicums zu den Sitzen zu berücksichtigen und den Besucher so zu placieren hat, dass er gut sieht und hört, sondern auch lauschige Plätzchen für den geselligen Verkehr und eine zweckentsprechende Art, dem Publicum Speise und Trank zu übermitteln, im Auge behalten muss. Überdies ist in dieser Hinsicht den speciellen Landesbedürfnissen Rechnung zu tragen. Nachdem der Vortragende hierauf näher eingegangen war und die in Wien und Berlin diesen Zwecken gewidmeten Gebäude, die nach seinen und seines Collegen Plänen entstanden, geschildert hatte, wendete er sich zum Schluss dem neuen Somossy-Orpheum in Budapest zu. Das Gebäude ist, wie der Grundriss zeigt, vollkommen eingebaut und konnte daher von der Behörde bloß als »Versammlungsort«, nicht als Theater genehmigt werden. Nachdem das Grundstück in zwei Gassen reicht, schien es vortheilhaft, den Saal sammt der Bühne mit der Achse auf die Gassenfronten unter 45zu stellen, wodurch ein gleichwertiger, symmetrischer, 5, respective 6 m breiter Zugang von diesen Gassen ermöglicht wurde. Der Hauptzugang von der Feldgasse ist in seiner Länge von 35 m mit Schaukästen ausgestattet. Die Stiegenanlage ist keine centrale, sondern es führen an beiden Enden des Vestibuls dreiarmige Stiegen zu den beiden Rängen und zum Wintergarten. Die figürlichen Malerarbeiten stammen von Gastgeb, Gärtner und Peifuss, die figürlichen Bildhauerarbeiten von Vogel und Dürnbauer, die Stuck- und Bildhauerarbeiten von Strictius, die Maler- und Vergolderarbeiten von Kott, alle Sperrsitze und Theatermöbel von den Gebrüdern Thonet. Dem Balkon sind acht Einzelzimmer angefügt, von denen je zwei barock, japanisch, ungarisch und maurisch decoriert wurden. Im Parterre befindet sich ein Wintergarten und ein großes Kaffeehaus. Dieser Garten, mit Bildern von Engelhart geziert, wird stets nach Schluss des Theaters geöffnet, durch Schiebewände mit dem Café verbunden und bildet den Vereinigungsort aller Künstler Budapests«. Soweit der Text in der Zeitschrift »Der Architekt«.


Das 1894 eröffnete Orpheum Somossy in Budapest

(Der Architekt, 1895, Tafel 35)


Die Wiener Theaterarchitekten Fellner & Helmer

Die Wiener Architekten Fellner und Helmer sind durch ihre Theaterbauten bis heute bekannt. Beim Volkstheaters (Népszínház) in Budapest arbeiteten die beiden Architekten Ferdinand Fellner und Hermann Helmer erstmals gemeinsam. In Budapest planten sie noch zwei weitere Theater, das Lustspieltheater (Vígszínház) und das Orpheum. Die Architekten waren als Theaterbauspezialisten international anerkannt. Das lag vor allem daran, dass sie dafür bekannt waren, ihre Kostenvoranschläge einzuhalten und funktionierende Bauten zu planen. Außerdem war Ferdinand Fellner auch persönlich sehr am Theater interessiert, was sich in seinem besonderen Engagement für das Wiener Volkstheater zeigt. Dreißig Theatergebäude planten Fellner & Helmer allein in der Donaumonarchie. Dazu gehörten große Bauten wie das Neue Deutsche Theater (heute Staatsoper) in Prag, Stadttheater wie das Theater in Brünn, kleine Kurtheater wie das Theater in Karlsbad, Konzertsäle wie das Wiener Konzerthaus oder Varietés wie das Etablissement Ronacher. In der ungarischen Reichshälfte entstanden 13 Theater. Ferdinand Fellner wurde am 19. April 1847 als Sohn des gleichnamigen Architekten Ferdinand Fellner (* 1815 † 1871) geboren. Noch vor Abschluss seines Studiums an der Technischen Hochschule in Wien trat er 1866 in das väterliche Büro ein, um den herzleidenden Vater zu entlasten. Schon dieser hatte Aufträge für die Planung von Theatern angenommen. Die noch vom Vater begonnene Planung für das Stadttheater in Wien vollendete der Sohn nach dem Tod des Vaters 1871. Hermann Gottlieb Helmer entstammte einer Handwerkerfamilie aus Harburg (heute ein Stadtteil Hamburgs). Nach einer Mauerlehre besuchte er die Baugewerbeschule und später das Polytechnikum in Hannover. Ab 1868 arbeitete er im Büro Fellner als Zeichner und trat bald danach mit eigenen Entwürfen auf. 1870 gewann Helmer den Wettbewerb für das Theater- und Redoutengebäude in Warasdin (Varazdin). 1873 schlossen sich die beiden Architekten zum Atelier »Fellner und Helmer« zusammen. Später arbeitete auch noch Ferdinand Fellner III im Büro. Im ersten Jahrgang der Zeitschrift »Der Architekt« war das Orpheum nicht das erste Bauwerk von Fellner & Helmer. Sehr prominent wurde das Kaiserbad in Karlsbad vorgestellt (Der Architekt, 1.1895, S. 14, Tafeln 11, 12,13). Es wird oft übersehen, dass Fellner & Helmer nicht nur Theater bauten sondern auch Warenhäuser, Villen, Stadtpaläste etc.


Das Kaffeehaus im 1894 eröffneten Orpheum Somossy in Budapest

(Der Architekt, 1895, Tafel 37)


Die am Bau beteiligten Künstler

Die im Text erwähnten Künstler waren häufig auch bei anderen Bauprojekten für Fellner & Helmer tätig. Der Maler Karl Johann Peyfuß wirkte noch im Opernhaus Zürich, in der Tonhalle Zürich und im Theater Berndorf mit. Der Maler Josef Kott arbeitete auch im Konzerthaus Ravensburg. Der Bildhauer Franz Vogl lieferte Arbeiten für das Nationaltheater Agram (Zagreb), das Volkstheater Wien und das Opernhaus Zürich. Ludwig Strictius arbeitete auch im Theater unter den Linden (später Metropoltheater, heute Komische Oper) Berlin, im Theater Fürth, im Opernhaus Odessa, im Opernhaus Zürich, im Schlosstheater Totis (Tata) und im Theater in Jassy (Jasi)


Zwei Abbildungen beim Text dienen der Veranschaulichung, ein Grundriss und ein Blick in das Vestibül. Der Grundriss zeigt die Struktur des Gebäudes. Das eigentliche Theater befindet sich im Inneren eines Baublocks. Die Haupterschließung für das Publikum erfolgt von der großen Feldgasse (Nagymezsö u.) über eine lange Passage. Seitlich davon sind Kaffeehaus und Wintergarten angeordnet. Man gelangt in einen breiten Umgang, der auf drei Ebenen um den Zuschauerraum umgibt. Jeweils an den Enden des Umgangs führen Treppen nach oben. Der Umgang ist im Erdgeschoss in einzelne Bereiche aufgeteilt: die Besucher erreichen zuerst ein kleines Vestibül, von dem aus man links in das Garderobenfoyer gelangt und nach rechts zur Treppe in die Ränge. Wie im Vortrag beschrieben, ist  der Zuschauerraum ungewöhnlicherweise diagonal im Baublock angeordnet. Eher klein ist die Bühne. Die zweite Abbildung ist eine perspektivische Innenansicht des Vorraums der Treppe. Man erkennt die beiden nach oben führenden Treppenläufe, zwischen denen ein Brunnen mit einer Statue angeordnet ist. Das Bild ist auch mit Staffagefiguren versehen: eine dunkel gekleidete Frau durchschreitet das Vestibül, während zwei Herren in Frack und Zylinder über sie sprechend zu ihr blicken.


Drei Tafeln ergänzen den Bericht. Eine ganzseitige Abbildung zeigt eine gezeichnete perspektivische Außenansicht mit der Fassade an der großen Feldgasse (Tafel 35). Diese Fassade ist zwar schmal aber repräsentativ gestaltet. Hervorgehoben ist der Eingang in die Passage zum Theater  mit dem elegant geschwungenen Vordach. Auch dieses Bild ist mit Staffagefiguren belebt, einer fahrenden Kutsche, Passanten und Menschen im Eingangsbereich des Theaters. Tafel 36 zeigt einen Schnitt, der zur Veranschaulichung der räumlichen Struktur perspektivisch angelegt ist. Im Gegensatz zur heute im Zuschauerraum vorhandenen Bestuhlung mit  durchgehenden Sitzreihen ist das Parkett mit Tischen und Stühlen versehen. Man durfte im Theater rauchen und es wurde bewirtet. Das Volk, kleine Angestellte und das einfache Bürgertum saßen hier. Der erste Rang war für eleganteres Publikum gedacht, das sich das Programm von den Logen aus anschaut, sich zum Essen aber in eines der beigeordneten privaten Speisezimmer zurückzieht. Der zweite Rang hat eine Sperrsitzbestuhlung. Um ihn zieht sich eine Wandelhalle herum. Tafel 37 besteht aus zwei kleinen Abbildungen. Die obere zeigt die Passage zum Theater mit ihren Vitrinen, die unter das Kaffeehaus.


Die Passage im 1894 eröffneten Orpheum Somossy in Budapest

(Der Architekt, 1895, Tafel 37)


Ähnlichkeit mit der Komischen Oper Berlin

Die Planungen von Fellner & Helmer für das Theater unter den Linden (später Metropoltheater, heute Komische Oper) in Berlin und das Orpheum in Budapest liefen parallel. Man merkt dies an der großen Ähnlichkeit der beiden Zuschauerräume. Die Struktur mit dem niedrigen Logenrang und der mit großen Bogenöffnungen angegliederten breiten Wandelhalle ist fast identisch – eine Konzeption, die die Architekten von ihrem Entwurf für das Ronacher in Wien übernahmen. In Budapest war der zweite Rang von Anfang ein Sperrsitzrang, in Berlin war dieser ebenso mit Logen geplant. Die hauptsächlichen Unterschiede liegen in der großzügigeren Gesamtanlage in Berlin mit einer repräsentativen Raumflucht zur Behrensstraße. In Budapest erschließen zwei Treppen am Ende der Wandelhalle die oberen Geschosse, in Berlin führt das Vestibül direkt in ein zentrales Treppenhaus nach dem Vorbild der Pariser Oper. Letztlich war die Planung für Budapest etwas früher, wurde dann aber erst nach Berlin umgesetzt. Das Berliner Theater wurde schon 1892 eröffnet, das Budapest erst 1894.


Anzeige zur Eröffnung des neuen Orpheums

(Pester Lloyd vom 21. März 1894)


Etablissement Somossy Mulató

Die Eröffnung des neuen »Etablissements Somossy Mulató« erfolgte am 21. März 1894. Der Pester Lloyd kündigte an: »Heute große Vorstellung zu gewöhnlichen Preisen mit dem sensationellen Eröffnungs-Programm. Ungarische Fest-Ouvertüre von Rosenzweig und Festprolog mit Wandeldekorationen. 12 Attraktionen ersten Ranges. Kolossaler Succès: Anna Held! Mlle. Degaby! Karl Maxstadt! &c. &c. Nach der Vorstellung großes Rendevous im prachtvollen Café und im Wintergarten. – (Kasseeröffnung 7 Uhr, Anfang 8 Uhr).«  Mulató meint ein Vergnügungs- oder Nachtlokal – das Wort Mulatság (ungarisch Unterhaltung) ist über Operettenlibretti ja auch in Deutschland bekannt.


Mit der Eröffnung vor Ostern wollte Somossy natürlich eine Attraktion zum Ende der Fastenzeit bieten. Der 21. März 1894 stellte sich als ungeschickter Termin heraus, aber nicht weil es der Mittwoch der Karwoche war. Am 20. März war der populäre ungarische Nationalheld der Revolution 1848/49, Lajós Kossuth, gestorben und rabiate Demonstranten erzwangen durch massive Störung der Vorstellungen die Schließung der Budapester Theater ebenso wie die Trauerbeflaggung der Häuser. So dürfte die zweite Vorstellung am 22. März ausgefallen sein.  Am 23. März waren für den Karfreitag sowieso alle Theater geschlossen. Aber das Restaurant war geöffnet. Der Pester Lloyd kündigte an: »Die in kurzer Zeit zu großem Rufe gelangte ausgezeichnete Restauration bleibt jedoch in Aktion, indem im prachtvollen Wintergarten zum Abendessen gedeckt wird.« Ostersonntag und Ostermontag gab es sogar zwei Vorstellungen hintereinander. Von Freitag 30. März bis Montag 1. April waren wegen der nationalen Trauertage keine Theatervorstellungen. Diese wurden zu Ehren der Ankunft der aus Turin überführten Leiche Kossuths bis zur Beisetzung am 1. April angeordnet. Ab Mittwoch 4. April gab es wieder Programm. Außerdem wurde für Dienstag 10. April ein erster Operettenabend mit der Premiere der Operetten-Travestie »Das Weib des Pharao« angekündigt: »Mit der glanzvollen Ausstattung von Richard Gutperl aus Paris. Dekorationen von Hermann A. Spanraft. Erstes Auftreten der Operettensängerin Frl. Emmy Klinkhoff und des Komikers Hans Swoboda.« Am 11. April ließ Somossy im Pester Lloyd die Anzeige schalten: »Großer Succeß! Sehenswürdigkeit erster Ordnung! Mit großartiger Ausstattung, Tableaux, Gruppierungen und Tänzen: »Das Weib des Pharao«. Große Ausstattungs-Travestie von Karl Somossy, Musik von Wilhelm Rosenzweig. Frl. Emmy Klinhoff in der weiblichen Hauptpartie. Die Travestie wird von dem aus 60 Personen bestehenden Komödien-Ensemble dargestellt. Vor und nach der Komödien-Aufführung glänzendes Artisten-Programm mit Karl Maxstadt und dem engagirten Künstlerpersonal.« Das »Weib des Pharao« lief immerhin drei Wochen. Anfang Mai 1894 kam wieder ein Varietéprogramm, etwa mit Reitervorführungen der Baronin von Rahden.


Die Vorstellungen füllten den ganzen Abend aus. Beginn war 20 Uhr, Ende 24 Uhr. In der Ankündigung für den 7. November 1896 ist noch die Zeit vermerkt, zu der der Star auftrat. Das war an diesem Tag »La belle Otero«. In seinem Orpheum ließ Somossy viele internationale Berühmtheiten auftreten, darunter die spanische Sängerin und Tänzerin Carolina Otero genannt »La belle Otéro« (1868-1965), die heute noch durch ein Bild von Henri de Toulouse-Lautrec bekannte französische Sängerin Yvette Guibert (1865-1944), Paulus, Armond Ary, die aus Dänemark stammenden fünf Barrison Sisters. Im Kaffeehaus spielte die damals bekannte Zigeunerkapelle von Lajos Munczy.


»Das Frauenbatallion« stand 1896 wieder auf dem Programm. Der Operettenabend »Im Amazonenreich« versprach im Januar 1897 »Evolutionen und Waffentanz«. Ende Januar 1897 lief die einaktige Operette »Herr und Frau Denis« (Monsieur et Madame Denis) von Jacques Offenbach. Im März 1897 war die Posse »Frühere Verhältnisse« von Nestroy eingebaut.


Auch Bälle fanden im Orpheum statt. Ein Maskenball mit Wohltätigkeitskostümfest zugunsten des Budapester allgemeinen Poliklinik-Spitals mit drei Musikkapellen, der königlich ungarischen Honvéd-Kapelle, Zigeunerkapelle Lajos Munczy und Schönberg & Rott aus den Folien Caprice fand am Samstag 13. März 1897 statt. Im Wintergarten spielte die Zigeunerkapelle des Szabadkaer Primas Károly Pege. »Die elegantesten und schönsten Damen-Maske erhält eine Damenuhr« warb die Ankündigung im Pester Lloyd.

Der Vergnügungspark Konstantinopel in Budapest

Im Millenniumsjahr 1896 betrieb Somossy auf der Lagymányos-Seite der Donau im Süden von Buda den exotischen Unterhaltungspark »Konstantinápoly Budapesten« (Konstantinopel in Budapest), eine Art osmanisches Tivoli als Konkurrenz zu »Ös-Budavára« (Alte Burg Ofen) neben der Millenniumsausstellung. Allerdings muss auch Ös-Budavára sehr orientalisch angehaucht gewesen sein. Im Konstantinopel-Vergnügungspark gruppierten sich Bauten mit Motiven aus Konstantinopel um einen See mit einer kleinen Insel. Dieser Budapester Vergnügungspark war einer der ersten Themenparks der Welt. Das Riesenfeuerwerk mit italienischer Serenade auf dem Wasser am 31. Mai 1896 dürfte der Abschluss des Eröffnungstags gewesen sein. Für die Werbeanzeigen nutzte Somossy die türkische Flagge. Auch am 15. Mai 1897 öffnete der Park wieder. 


Es gab ein Vorbild in Wien. Das war der am 18. Mai 1895 von Gábor Steiner im Kaisergarten im Prater eröffnete Vergnügungspark »Venedig in Wien«, geplant vom Architekten Oskar Marmorek. Diese Anlage nach dem Vorbild »Venice in London« bestand etwa sechs Jahre. Der 1858 in Temeswar (Timisoara) geborene Theaterdirektor Gabór Steiner leitete 1897 Danzers Orpheum und 1909 das Etablissement Ronacher.

Aus dem Orpheum wird das Operettentheater

Somossy war als Dandy berühmt für die Eleganz seiner Anzüge und seine Champagner-Dinners, verewigt vom Schriftsteller Gyula Krúdy. Allerdings entwickelten sich die finanziellen Verhältnisse nicht so wie erhofft. Ab Herbst 1897 findet man keine Anzeigen mehr im Pester Lloyd. 1899 war Somossy pleite und starb 1902 völlig verarmt.


Das Theater gehörte nun der Conto Corent Bank. Károly Albrecht übernahm das Theater. Ab 1902 lief eine Varieté-Show im von Imre Waldmann betriebenen Főváros Orfeum. Ludwig von Donath und Franz Markl waren Kapellmeister. Das Orchester hatte 36 Mitglieder, der Chor bestand aus 24 Herren und 38 Damen. 1903 gastierte das Theater im Rembrandttheater in Amsterdam und 1904 in Bukarest. In der Spielzeit 1904/1905 liefen u.a. eine Tannhäuser-Parodie, »Dorothea«, »Ein peinlicher Zwischenfall«, »Nakiris Hochzeit« und »Die schöne Galathee«. 


Von 1919 bis 1920 hieß es kurze Zeit Fővárosi Kabaré (Hauptstädtisches Cabaret). 1922 ließ der amerikanische Theaterunternehmer Ben Blumenthal, der auch schon das Vígszínház betrieb, das Theater umbauen. Es eröffnete am 23. Dezember 1922 als Fővárosi Színház (Hauptstädtisches Theater) wieder. Das Theater  wechselte die nächsten Jahre mehrmals den Namen: ab 1923 Fővárosi Operettszínház (Hauptstädtisches Operettentheater), 1929 bis 1930 Fővárosi Művész Színház (Hauptstädtisches Künstlertheater), 1936-1938 Művész Színház (Künstlertheater), vor allem war es als Fővárosi Operettszínház (Hauptstädtisches Operettentheater) bekannt. 1966 und 1990 fanden größere Renovierungen statt. Bis heute hat das Operettentheater seinen Sitz in der Nagymező utca 17.

 

 

Literatur

Budapest Lexikon. Budapest 1993.

Déry, Attila: Terézváros – Erzsébetváros, VI.-VII. kerület. Budapest 2006 (Budapest építészeti topográfia; 3).

Dienes, Gerhard M. [Hrsg.]: Fellner & Helmer, die Architekten der Illusion, Theaterbau und Bühnenbild in Europa. Graz 1999.

Edvi Illés, Aladár: Budapest müszaki útmutatója. Budapest 1896.

Fellner, László [u.a.]: Fellner Ferdinand, az színházépitö a millenniumi Magyarországon. Budapest 2004.

Gluck, Mary: The Invisible Jewish Budapest, Metropolitan Culture at the Fin de Siècle. Madison 2016.

Hoffmann, Hans-Christoph: Die Theaterbauten von Fellner und Helmer. München 1966. (Studien zur Kunst des neunzehnten Jahrhunderts; 11).

Vari, Alexander: Die Nation im Schaukasten, Binnentourismus und Nationswerdung auf der Millenniums-Ausstellung 1896. In: Stachel, Peter [Hrsg.]: Zwischen Exotismus und Vertrautem, zum Tourismus in der Habsburgermonarchie und ihren Nachbarstaaten. Bielefeld 2014, S. 124-133.

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