Opernkritik: Glucks „Orfeo ed Euridice“ (Orpheus und Eurydike) – Staatstheater Augsburg – 2020

Verloren in Bildwelten 

– Regisseur André Bücker spielt in Christoph Willibald Glucks Oper „Orefo ed Euridice“ am Staatstheater Augsburg mit virtuellen und anderen Welten – 

von Klaus J. Loderer


Was ist hier Schein, was ist echt? In virtuelle Welten entführt die Neuproduktion von „Orfeo ed Euridice“ des Staatstheaters Augsburg im Martinipark. Überhaupt spielt Regisseur und Intendant André Bücker mit Bildwelten, etwa mit gemalten oder mit imaginierten Welten, mit Kunstwelten und Realitäten. Dazu hat Bühnenbildner Jan Steigert ein Museum entworfen, einen stark fluchtenden Ausstellungsraum. Wie um dieses Bühnenbild aus der Realität zu entrücken, erhielt es einen Bilderrahmen. Das Licht Andreas Rehfelds sorgt für weitere Verfremdung. Mit einer eher skurrilen personellen Bestückung nimmt dieses Museum geradezu surreale Züge an. Da sind noch die Handwerker und die Putzfrauen zugange, gleichzeitig widmen sich schon Besucher, der Kunstbetrachtung. Zwei Nonnen und allerhand schräge Vögel treffen da in Lili Wanners fantasievollen Kostümen zusammen. Man erahnt Jonathan Meese und Marina Abramovic. In der Antike spielt diese Geschichte nicht, nein im Hier und Jetzt einer technisch aufgerüsteten Gegenwart. 


„Orfeo ed Euridice“ am Staatstheater Augsburg

Foto: Jan-Pieter Fuhr


Orpheus sitzt verträumt im Zentrum einer Ausstellung mit Bildern von Caravaggio. Da ist nun der Antikenbezug, denn ganz logisch hängt „Amor als Sieger“ an der Wand. Das Bild blinkt mystisch, wenn Amor auftritt, eine Frau in schwarzem Abendkleid. Ein Bild verändert sich im Laufe der Oper. Es ist ist „Maddalena in estasi“, die hier als Sinnbild für Eurydike steht. Einmal hebt sie den Arm und eine Schlange windet sich herab – ein Hinweis auf die Todesursache Euridices. Die Frau verschwindet, wenn Orpheus sich verbotenerweise nach ihr umgedreht hat, langsam aus dem Gemälde. Zurück bleibt nur das rote Tuch. Als echte Eurydike entpuppt sich schließlich eine jener augentäuschenden Skulpturen der Pop-Art, die hinter einer Absperrung steht. Das Spiel mit den Bildwelten wird in der Augsburger Inszenierung aber noch durch virtuelle Welten erweitert. Da die eigentliche Handlung von Glucks Oper ja ziemlich überschaubar ist, überzeugt die Idee, die Orchester- und Chorpassagen auf eine (noch) ungewöhnliche Art und Weise zu bebildern.


Jihyun Cecilia Lee (Euridice) in „Orfeo ed Euridice“ am Staatstheater Augsburg

Foto: Jan-Pieter Fuhr


Gesanglich erfreut eine geglückte Besetzung. Es handelt sich übrigens um die sog. Wiener Fassung in italienischer Sprache, in die allerdings eine italienische Übersetzung der Euridice-Arie aus der französischen Pariser Fassung aufgenommen wurde. Als Eurydike ist die koreanische Sängerin Jihyun Cecilia Lee mit verspieltem und hellem Sopran zu hören. Klar leuchten ihre Töne. Fein sind ihre Spitzen. Einen deutlichen Kontrast in der Höhe bildet die irische Sängerin Kate Allen mit warmem Mezzosopran als Orpheus (in der Premiere Natalya Boeva). Seien es die flehentlichen oder die beschwörenden Töne, detailliert verfeinert sie ihren Gesang mit vielen Verzierungen ohne die großen Melodiebögen zu vergessen. Als quirliger Hansdampf-Amor wirbelt die aus Rumänien stammende Sopranistin Olena Sloia durch ihre Partie.

Brille auf – ab in die virtuelle Welt

Vor Beginn der Oper erfolgt die technische Einführung. Unter jedem Sitz befindet sich eine Virual-Realitiy-Brille. Diese erklärt sich eigentlich von alleine. Man setzt sie auf und erlebt einen neuen Raum. Aber vorsichtshalber tritt Schauspielerin Marie Ulbricht als VR-Guide auf und instruiert uns. Beim Probegucken sehe ich, wie sie sich mal rechts und mal links von mir als Madame Flamingo räkelt. Unendliche Sitzreihen sehe ich linkerhand, die es dort eigentlich gar nicht gibt. Aber die Bühne ist genau dort, wo sie ist. Der rosa Farbton ist ihr Kennzeichen in wechselnden Kostümen während der Aufführung. Wenn sie weit ausholend mit dem Arm nach unten greift, sollen wir die VR-Brille hervorholen und beim Fingerzeichnen auf 3 aufsetzen.

Arkadien mit Vaginalbrunnen

Keine Sorge, man schaut nicht die ganze Oper in der VR-Brille an. Die Brille kommt an drei Stellen zum Einsatz, um die Ortswechsel der Handlung zu beschreiben. Das summiert sich dann auf insgesamt 25 Minuten. Die Ortswechsel gibt es hier nicht auf der Bühne, denn Orpheus bleibt die ganze Zeit im Ausstellungsraum. Aber er erhält von Amore eine VR-Brille, die ihm räumliche Wechsel vortäuscht. Der Betrachter sieht, was Orpheus zu sehen scheint. Statt in den Hades wandert Orpheus durch eine nächtliche chinesische Großstadt mit grellen Leuchtreklamen und kommt schließlich zu einem großen Platz mit unendlich vielen dunklen Gestalten vor einem riesigen Gebäude. Über ihm recken sich bedrohlich riesige chinesischen Drachen – mit Medusenhäuptern als Reminiszenz an die Antike. Die zweite Sequenz führt Orpheus in das paradiesische Elysium. Er (und damit jeder Opernbesucher) wandert durch eine arkadische Landschaft, die grellbunt und bewusst verkitscht ist. Völlig überzogen grün ist der Rasen, üppig dekoriert mit Marmorstatuen. Allerhand weibliche Figuren sprudeln Wasser aus allen möglichen Körperöffnungen. Man geht durch eine Folge von Tempeln aus weißem Marmor hindurch. Die Kuppel des römischen Pantheons erkennt man ebenso wie die Laokoon-Gruppe. Riesige Insekten krabbeln und fliegen herum. Seltsam unbestimmt bleibende Wesen wabern da herum. Diese 3D-Welt haben Christian Schläffer und Christian Felder zusammen mit Heimspiel GmbH so konsequent gestaltet, dass man sich auch nach rechts und links drehen und sich sogar umwenden kann und immer noch logische Raumfolgen sieht. Alleine diese Bildfolge besteht aus 23000 Einzelbildern, erfährt man aus dem Programmheft. 


Im paradiesischen Elysium – Virtual Reality Simulation in „Orfeo ed Euridice“ am Staatstheater Augsburg

© Christian Schläffer


Zuletzt zeigt Amore dem Paar ein neues Leben. Der Betrachter schlüpft nun in die Rolle Amors und sieht die folgende Sequenz aus seinem Blickwinkel, genauer gesagt gestaltet der Betrachter nun selbst die folgende Welt. Zuerst wird Arkadien nach und nach in der Mülltonne entsorgt. Dann scheint man als Designer einen neuen Raum zu gestalten. Es wird ein modernes Spießerheim wie aus dem Ikea-Katalog, das sich da aufbaut. Die Wirklichkeit des Museums sieht inzwischen anders aus: geplündert, heruntergekommen, besetzt. Die eckigen Bewegungen der Figuren der virtuellen Welt greifen schließlich auf die echten Orpheus und Eurydike auf der Bühne über, die sich nur noch ungelenkt zappelnd bewegen können. Wurden sie zu Avataren ihrer selbst? Schein und Wirklichkeit sind nicht mehr auseinanderzuhalten.

Barockspezialist hat die Leitung

Ganz live und doch irgendwie virtuell ist die musikalische Seite. Orchester und Bühne sind vollständig getrennt. Die Augsburger Philharmoniker sind unsichtbar und spielen (bedingt durch die nach den Corona-Vorschriften erforderlichen Abstände zwischen den Musikern) unter der Leitung von Wolfgang Katschner in einem Nachbarraum und werden übertragen, was auch eine Verstärkung der Sänger notwendig macht. Viel Hall wird unterlegt, um einen synchronen Gesamtklang zu erzeugen. Das klingt warm und volltönend, nimmt aber der Musik Glucks etwas an Durchsichtigkeit. Man merkt wie Barockspezialist Wolfgang Katschner trotzdem versucht die Feinheiten und ein differenziertes Klangbild herauszuarbeiten. Auf Transparenz legte auch Carl Philipp Fromherz bei der Einstudierung des Chors Wert.

 

Wer ganze Theaterstücke in Virtual Reality anschauen möchte, für den bietet das Staatstheater Augsburg übrigens einen besonderen Service. Digitale Theaterwelten sind die neue fünfte Sparte. Das Theater liefert die VR-Brille für daheim. 

 


Besuchte Vorstellung: 17. Oktober 2020

(Premiere 10. Oktober 2020)

Staatstheater Augsburg, Martini-Park

 




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