Ausstellung „Bewegungsmuster“ mit Bildern von Anna Ingerfurth, Galerie der Stadt Backnang, 2020

Von Schlaufen in Raum und Zeit 

– Surreale Welten zeigen die Bilder von Anna Ingerfurth in der Ausstellung „Bewegungsmuster“  in der Galerie der Stadt Backnang – 

von Klaus J. Loderer

Es sind Tafelbilder im wörtlichen Sinn, die gerade in der Galerie der Stadt Backnang zu sehen sind. Anna Ingerfurth hat die dicken MDF-Platten am Rand abgerundet, wodurch sie etwas an Kissen erinnern. Das daraufgemalte Bild kann man unmöglich komplett mit einem Blick erfassen, denn Anna Ingerfurth hat über die Rundung gemalt. Betrachtet man das Bild von vorn, fehlen die vier Seiten, betrachtet man es von rechts, verschwindet links umso mehr. Das irritiert. Noch mehr irritiert aber, was auf die Platten gemalt ist. Man muss teilweise nahe herantreten, denn die Formate sind klein, teilweise sehr klein. Es offenbart sich eine Welt vielfältiger architektonischer Räume, in der etwas verloren Personen stehen oder gehen. 

25.5.14 – 26.5.19, Gemälde von Anna Ingerfurth 2019, Acryl auf MDF
Foto: kjl
Doch was sind das für eigenartige Räume, die wir da sehen? Zwei Frauen gehen in ein Labyrinth hinein. Doch führt der mit dicken Punkten eingezeichnete Lösungsweg gerade nicht durch das Labyrinth sondern schlängelt sich außenrum. Und so realistisch alles gemalt scheint, die Wände des Labyrinths werfen keinen Schatten – im Gegensatz zu den Frauen. Die Gänge des Labyrinths könnten auch große Stufen im Raum sein, gehen doch die Oberseiten der Zwischenwände direkt in den Fußboden über. Die nüchternen Räume entpuppen sich auf vielen Bildern Anna Ingerfurths als Rätselspiel. So fehlt die vermeintliche Rolltreppe in „Eine kleine Verbindung 4“. Wie in einigen Bildern tut sich ein düsterer Abgrund auf. Auf einem Grat über einem dunklen Abgrund geht eine Frau im Bild „Doro“ von 2019. Oder ist das eigentlich eine Wand zwischen zwei Fenstern. Und wenn das Fenster in einer Dachschräge sind, in welche Richtung ist dann eigentlich die Wand gekippt. Der Bildtitel „Eingespielte Sicherheit vermitteln“ konterkariert geradezu das Dargestellte, wenn die Fußbodenplatten auch Vertiefungen sein könnten. Statt perspektivischer Verkürzung wählt Ingerfurth manchmal auch die Isometrie, was zusätzlich irritiert.

Doro, Gemälde von Anna Ingerfurth 2019, Acryl auf MDF
Foto: kjl
Diese vermeintlich echten Räume stellen sich als surreale Welten heraus. Im Bildchen „Konstruktiv und um Einigung bemüht“ aus dem Jahr 2012 schaut man auf ein Röhrensystem und bemerkt gar nicht so schnell, dass die dunklen Öffnungen tatsächlich in das Bild gebohrte Löcher sind. Hier treibt sie den Gag auf die Spitze. 

Sind die Bilder heute? Eher scheinen sie mit den pastelligen Farben an die Zeit um 1960 zu erinnern. Daran erinnern auch manche der modernistischen Architekturen. Nur Staffage sind die in manche Bilder wie Puppen eingesetzten Figuren. Auch sie erinnern an Zeitschriften einer vergangenen Zeit.

Ein häufiges Motiv in Ingerfurths Bildern ist das Band. Im Bild „Möglicherweise ja, vielleicht aber auch nein“ ist ein weiß-rot-weißes Band zwischen den Personen gespannt. So harmlos ist das Bild natürlich nicht. Die Größen der Personen wählte Ingerfurth so, dass sie eben nicht in das vordergründige perspektivische System passen. Eine gekurvte Straße verläuft durch das Bild „Der sachliche Geist unserer Zeit“ von 2019. Doch halt. Am unteren Rand sitzt ein Mann, der die Straße hält wie eine Zeitung. Am oberen Ende sitzt eine Frau. Den Bilduntergrund bilden riesige Pflanzen, die in keiner Beziehung zur anderen Szene stehen. Die Bänder durchziehen manche Bilder in unendlichen Schlingen, sie können aber auch spitz gezackt sein.

Heimatkunde der besonderen Art liefert eine Reihe großformatiger Zeichnungen, die teilweise auf den ersten Blick wie Collagen aussehen. Zumindest könnte man ein Bild mit Federn dafür halten. Allerdings zeigt sich bei genauer Betrachtung, dass es sich nicht um echte sondern um fein säuberlich gezeichnete Federn handelt. Das Feder-Bild gehört zu einer Serie über Stuttgarter Stadtbezirke. In die Kontur des Stadtbezirks sind markante Elemente eingezeichnet. In einer Zeichnung findet man zwischen Baumsymbolen zigfach vervielfältigt den Kopf des Fernsehturms als markante Chiffre. Auch Backnang gibt es da. Was zuerst wie ein zerknülltes Stück Papier aussieht, ist doch die Kontur der Gemarkung von Backnang, durch das sich als zentrale Line die Murr schlängelt. Ein anderes Bild ist noch abstrakter. Die senkrechten Farbstreifen stellen die Statistik der unterschiedlichen Nutzungen der Flächen in der Stadt dar. Leichter zu deuten sind auf der Zeichnung eines Mantels die Knöpfe mit dem Stadtwappen. 

Fiktive Landkarten, Zeichnungen von Anna Ingerfurth
Foto: kjl
Eine Reihe von Fotos ist Stuttgart gewidmet, einem Stuttgart, das schöner nicht sein könnte. Wer Stuttgart nicht kennt, der könnte glatt denken, dass man in der Schulstraße tatsächlich in einem Bassin schwimmen kann und dass vor dem Opernhaus ein wunderbarer Seerosenteich mit geschnittenen Eiben ist. Da hat die gebürtige Stuttgarterin Anna Ingerfurth skrupellos zwei Fotos zusammengemixt, das Opernhaus und die Wilhelma. Überhaupt hat es ihr das Opernhaus angetan. Auf einem anderen Bild kann man davor Bootchen fahren. Und schließlich taucht es sogar im Volksfest als Festzelt auf. Auch zu Backnang gibt es ein solches Doppelbild. Manche Menschen träumen gerade davon, dass man die Murr als Schwimmbad nutzen könnte wie es das Bild für das Kalte Wasser zeigt. Andere Menschen werden sich bei dem Bild an das letzte Hochwasser erinnert fühlen, als das Flussbett tatsächlich wie auf der Fotomontage angefüllt war.

Geboren wurde Anna Ingerfurth 1969 in Stuttgart. Sie studierte 1989 bis 1998 an der staatlichen Akademie der bildenden Künste in Stuttgart u.a. bei den Professoren Gross und Chevalier. 2019/2020 hatte sie dort selbst einen Lehrauftrag in der Klasse für Malerei. Stipendien ermöglichten ihr Aufenthalte in Barcelona und Amsterdam. Für die Universitätsklinik Heidelberg, das Robert-Bosch-Krankenhaus und die JVA Stammheim hatte sie Aufträge für Kunst am Bau. Ihre Arbeiten wurden seit 1996 in zahlreichen Ausstellungen gezeigt. In Backnang war sie 2013 an der Ausstellung „Wagenhallen außer Haus“ beteiligt. Über 17 Jahre fertigte Anna Ingerfurth täglich eine Zeichnung an. Ein kleiner Ausschnitt dieser Tageszeichnungen ist in der Ausstellung zu sehen, ebenso wie einige der Wochenzeichnungen. Dieser Arbeitszyklus zog sich insgesamt über vier Jahre.

Anna Ingerfurth in der Galerie der Stadt Backnang
Foto: kjl
Die Ausstellung endet mit der größten Arbeit der Ausstellung, einem fiktiven Stammbaum der Tiere. Man könnte auch sagen, Anna Ingerfurth hat eine Reihe fein gezeichneter Blätter mit fiktiven Tieren in ein größeres System gebracht. Da scheint es eine Entwicklung zu geben mit vielen Verästelungen. Unterschiedliche Farben weisen auf verschiedene Arten und Unterarten hin. Doch ist das alles nur fiktiv. Die Künstlerin narrt uns mal wieder und wir dürfen schmunzeln, wie sie uns wieder auf das Glatteis geführt hat.

Zur Ausstellung ist ein Katalog erschienen. Einen digitalen Rundgang durch die Ausstellung mit Kulturamts- und Galerieleiter Martin Schick finden Sie hier:


Ausstellung
Anna Ingerfurth
Bewegungsmuster

Bis 9. September 2020
Galerie der Stadt Backnang
Turmschulhaus
Backnang



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