Buchbesprechung: „Theater auf Sizilien“

Teatro all’Italiana – von der Bellezza des Logentheaters 

– Ein neues Buch stellt historische Theater auf Sizilien vor – 

von Klaus J. Loderer

Einen weiten Bogen spannen Susanne Grötz, Ursula Quecke und Siegfried Albrecht mit ihrem reich bebilderten Buch „Theater auf Sizilien“: ausgehend von antiken Theatern, über räumliche Inszenierungen der Barockzeit, volkstümlichen Festen und Puppentheater bis zu den repräsentativen Theaterbauten mit prachtvollen Logentheatern des 19. Jahrhunderts. Berühmt ist ja das Teatro Massimo in Palermo, eines der bombastischsten Opernhäuser überhaupt. Das gerade im Jonasverlag erschienene Buch erschließt erstmals die Theaterlandschaft Sizilien mit einer deutschsprachigen Übersicht. Zwar hat Antonella Mazzamuto 1989 mit dem Buch „Teatri di Sicilia“ einen Katalog der vor 1914 gebauten sizilianischen Theatergebäude vorgelegt und „Teatri tra ’800 ’900 als Heft 55 der Reihe „Kalós – luoghi di Sicilia“ gibt eine gute Übersicht – aber diese Publikationen sind eben nur in italienischer Sprache erschienen (letzteres immerhin mit englischem und französischen Text). Insofern ist das neue Buch für Freunde historischer Theatergebäude eine gute Empfehlung, zumal man gerade ja noch nicht einmal hinreisen könnte. Die schönen Innenansichten machen das Buch auch zu einem schönen Bildband. Doch sind auch die Texte qualitätvoll, fundiert gut recherchiert.

Nun ist die Beschäftigung mit historischen Theatern in fast allen Regionen Italiens reizvoll, doch sich mit Theatern auf Sizilien zu befassen, bedeutet ein historisch besonders weites Spektrum abdecken zu können. Denn zum reichen baulichen Erbe der antik-griechischen Städte gehörten auch Theater. Und Sizilien besitzt bis heute eine große Anzahl an antik-griechischen Theatern. So ist es nur logisch, dass das Buch mit einem Kapitel mit diesen beginnt. Genauer untersucht werden die Entwicklungsstufen des Theaters von Syrakus (Siracusa). Dort lässt sich die Genese der Theaterarchitektur besonders gut verfolgen. Neben dem bekannten Teatro Antico hat sich noch eine archaische Theaterstruktur, das Teatro lineare, erhalten. Und auch im Teatro Antico lassen sich Reste eines Vorgängertheaters mit trapezförmiger Zuschauerranlage nachweisen. Das berühmteste antike Theater Siziliens, jenes von Taormina, wird recht knapp abgehandelt.

Die Überleitung zu den Theatern der Neuzeit geschieht mit einer Untersuchung religiöser und weltlicher Festkulturen. Feiert Palermo die heilige Rosalia mit einem fünftägigen Fest – wir erfahren den Querverweis zu den fünftägigen Dionysien der Antike – würdigt Catania die heilige Agatha. Das Buch nutzt die Gelegenheit das Verhältnis zum Stadtraum, in dem die Prozessionen stattfinden, und den Zusammenhang zwischen Stadt und szenischem Bildraum zu untersuchen. Auf Sizilien lassen sich mit der Neuanlage ganzer Viertel und sogar Stadtneugründungen theatralische Raumwirkungen ja besonders gut feststellen. Als markantes Beispiel werden die Quattro Canti analysiert, jene zu einem kreisrunden Platz ausgebaute Kreuzung der beiden Hauptachsen Palermos. Wie dieser Platz zu besonderen Festen mit Dekorationen als zentraler Festsaal dekoriert wurde, zeigt ein Stich aus dem 18. Jahrhundert ebenso wie ein aktuelles Foto. Inszenierte Feste, Feuerwerke, Mysterienspiele in Kirchen und auf Plätzen und Jesuitentheater, das Buch bietet viele Beispiele aus der frühen Neuzeit. Ganz nebenbei erfährt man am Beispiel der Passeggiata delle Cattive sogar interessante Dinge zur Geschichte des Flanierens, ist ja schließlich auch eine Art Theaterspiel. Ein weiterer Exkurs behandelt das traditionelle Puppentheater, eine bis heute auf Sizilien gepflegte Kunstform. Dazu gehört auch der „Cantastorie“, der Geschichtenerzähler oder Bänkelsänger.

Der Schwerpunkt des Buchs liegt auf den Orten weltlichen Theateraufführungen. Eine Spezialform waren die Aufführungen der adeligen Familien in privaten Palästen, seien es Laiendarbietungen von Familienmitgliedern oder professionelle Aufführungen. Einige Familien besaßen in ihren Palästen richtige Theatersäle. Keines der Privattheater von Palermo ist erhalten. Allerdings existiert im Hôtel de Boisgelin in Paris die dorthin übertragene Wanddekoration des Theaters des Herzogs Camastra. Das Buch hat die noch erhaltenen Privattheater in den Landschlössern und Sommerresidenzen zusammengestellt. Das ist eine wirkliche Überraschung. Einen ungewöhnlichen Zuschauerraum mit einem in einen gewölbten Raum eingepassten Logentheater besitzt der Palazzo Arezzi di Donnafugata in Ragusa.

Ende des 17. Jahrhunderts entstand mit dem Teatro Santa Cecilia das erste Opernhaus Palermos. Das Theater besteht zwar noch, doch wurde es im 19. Jahrhundert völlig verändert. Das Teatro Bellini erhielt nach einem Brand sogar einen modernen Zuschauerraum.

Denkt der Opernfreund an Palermo, meint er natürlich das Teatro Massimo, jener bombastische Tempel der Opernkunst. Tempel kann man in diesem Fall ganz wörtlich nehmen, denn die Hauptfassade zitiert mit Freitreppe, Säulenhalle und Dreiecksgiebel tatsächlich einen antiken Tempel. Und sind sonst bei Theatern hinter der Säulenhalle mehrere Türen in einer Reihe ist es hier ganz archäologisch genau ein Riesenportal, das in die im ersten Stock gelegene Eingangshalle führt. Es ist eine ungewöhnliche Struktur, die dieses Theater besitzt. Die seitlichen gerundeten Vorbauten, die zentrale Kuppel und das hohe Bühnenhaus erinnern an die Pariser Oper. Der Opernfreund weiß auch, dass das Theater lange Zeit nicht bespielt wurde. Als das Theater 1974 für eine Sanierung geschlossen wurde, blieb es 23 Jahre geschlosse und wurde erst 1997 wieder eröffnet. Damals lächelte der deutsche Opernfreund mitleidig ob der sizilianischen Verhältnisse, inzwischen geraten deutsche Opernhaussanierungen  in ähnliche zeitliche Dimensionen. Übrigens hatte sich auch schon der Bau im 19. Jahrhundert sehr in die Länge gezogen: Grundsteinlegung 1875, Eröffnung 1897.

Weniger bekannt ist, dass Palermo noch ein zweites riesiges Theater aus dem späten 19. Jahrhundert besitzt, das Teatro Politeama Garibaldi. Es war damals der Stolz der Stadt und ein in der Stadt wirkungsvolles Gebäude. Das zweite wichtige Opernhaus Siziliens ist das Teatro Bellini in Catania. Es kam 2019 in die Schlagzeilen als über die Schließung diskutiert wurde. Die Fotos im Buch zeigen ganz aktuell die Protestbanner an der Fassade. „Un popolo senza teatro e un popolo morto“ liest man da. Wer hätte letztes Jahr geahnt, dass ein Jahr später alle Theater in einen Dornröschenschlaf fallen sollten.

Die sizilianischen Theater des 19. Jahrhunderts entsprechen alle dem Typus des Logentheaters über Hufeisengrundriss. Ein  separates Kapitel stellt einleitend dieses „Teatro all’italiana“ vor. Das Theater in Messina ist inzwischen eine Ausnahme durch den modernen Zuschauerraum. Bei einigen Theatern zitiert die Fassade antike Tempel, in Comiso und Castelvetrano dorische Tempel, was Susanne Grötz als Referenz an die griechischen Tempel der Insel sieht.

Der „Kursaal Biondo“ mag durch seinen deutschen Namen überraschen. Doch setzte sich der deutsche Begriff „Kursaal“ in vielen Ländern Europas durch, wie Ursula Quecke richtig bemerkt. Gemeint ist aber kein Kurmittelhaus sondern ein Festsaal, der wie oft als Kino umgenutzt wurde. Ein kurioser Zuschauerraum mit gestuften Logen findet sich im Teatro Finocchiaro.

Die bisherigen Bücher zu sizilianischen Theater enden mit Beginn des Ersten Weltkriegs. „Theater auf Sizilien“ geht bis in die Gegenwart. Man erfährt von den Theaterprojekten im seit 1896 wieder bespielten Teatro Garibaldi. Man erhält eine Übersicht zum modernen Theaterspiel. Interessant ist die räumliche Inszenierung in Gibellina Nuova. Die Übersicht der Theater auf Sizilien endet mit einem ungewöhnlichen modernen Theatergebäude. Unerwartet kommt noch ein architektonischer Paukenschlag. In Sciacca wurde 1951 das Theater abgerissen. 1973 begann man mit der Planung eines neuen Theaters, dessen Fertigstellung sich über vier Jahrzehnte hinzog. Dieses spektakuläre Gebäude mit zwei Zuschauerräumen ist überaus ungewöhnlich und wurde 2015 in die Unesco-Liste des Weltkulturerbes aufgenommen.

Mit den Fotos von Roberto Sigismondi und Christian Stein und ergänzt durch historische Fotos und Stiche ist das Buch gleichzeitig ein schöner Bildband. Man möchte gerne in den üblicherweise plüschig-roten Sesseln versinken und die Deckengemälde und bemalten Logenbrüstungen betrachten. Es fällt auf, dass die historischen Theater in den letzten Jahren wunderbar restauriert wurden. Selbst solche Theater, die zwischenzeitlich als Abstellraum dahinstaubten, wurden hergerichtet und dienen wieder für Veranstaltungen. Der Preis von 28 Euro (in Deutschland) ist für dieses schöne Buch überaus preisgünstig.

Das Autorentrio hat schon einmal zusammen regional Theater untersucht. 1991 erschien der Band „Teatro“ über oberitalienische Theater. Der Maler, Bildhauer und Bühnenbildner Siegfried Albrecht hat damals mit Susanne Grötz und Ursula Quecke Zuschauerräume, räumliche Strukturen und Szenographie analysiert. Die beiden Kunsthistorikerinnen haben sich in ihren Disserationen mit italienischen Theatern befasst, Susanne Grötz mit Stadt und Theater Sabionetta, Ursula Quecke mit dem Teatro Scientifico in Mantua. Eine Zusammenarbeit war 2006 der Band „Balnea“ über Bäderarchitektur. Für eine bessere Lesbarkeit wurde im jetzigen Band auf einen Fußnotenapparat verzichtet. Der wissenschaftlich anspruchsvolle Leser findet am Ende ein ausführliches thematisch gegliedertes Literaturverzeichnis.


Susanne Grötz
Ursula Quecke
Siegfried Albrecht

Theater auf Sizilien

Fotografie Roberto Sigismondi, Christian Stein
Jonas Verlag
Ilmtal-Weinstraße
2020
ISBN 978-3-89445-578-1
239. S., zahlr. Ill.

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