Buch- und CD-Besprechung: Zwei Bücher über Stettin (Szczecin) mit historischen Fotos

Wie sah das Theater von Stettin aus? 

– Zwei Bücher von Roman Czejarek mit historischen Bildern von Stettin (Szczecin) – 

von Klaus J. Loderer 

Stettin (Szczecin) hat sich in den letzten 150 Jahren so stark verändert wie kaum eine andere Stadt. Aus der kleinen Festungsstadt an der Oder wurde im späten 19. Jahrhundert eine Großstadt. Mit dem Abbruch der Festungsanlagen, deren Verlauf sich als breite Alleen noch heute abzeichnet, entstanden großzügig angelegte Gründerzeitviertel und die berühmte Hakenterrasse mit eindrucksvoller Treppenanlage zur Oder hinunter. Der Friedhof war so weitläufig angelegt, dass er zum größten Friedhof Deutschlands wurde. Hafen und die bedeutende Vulcan-Werft sorgten für wirtschaftlichen Aufschwung. Man darf nicht vergessen, dass Stettin von Berlin aus gesehen der nächstgelegene Seehafen in Deutschland war. Vor dem Ersten Weltkrieg hatte Stettin mehr als 200000 Einwohner. Mit der Eingemeindung der umliegenden Gemeinden wurde Stettin nach Berlin und Hamburg mit fast 400000 Einwohnern die drittgrößte Stadt Deutschlands. 

Im Zweiten Weltkrieg war Stettin mehr als 300 Luftangriffen mit 27 schweren Bombardierungen ausgesetzt. Besonders die Angriffe im August 1944 zerstörten die Altstadt und mehrere Stadtviertel und hinterließen ein Trümmerfeld. Nach 1945 wurden von den Sowjets große Teile der Industrie abgebaut. Zahlreiche Häuser in der Stadt wurden ausgeplündert und abgerissen. Der Wiederaufbau blieb zuerst zaghaft, da man – je nachdem wie man die Rechtslage auffasste, nun unter polnischer Verwaltung stand oder zu Polen gehörte – in der Stadt lange Zeit befürchtete, bei einer konsequenten Durchsetzung der Odergrenze doch wieder zu Deutschland zu kommen und deshalb polnische Investitionen hinauszögerte. Die Altstadt ist bis heute sehr locker bebaut und erhielt nie mehr die dichte Bebauung der Vorkriegszeit. Trotzdem sind bis heute einige Gründerzeitviertel gut erhalten geblieben. Das Rathaus und ein Ensemble von Bürgerhäusern wurden ebenso wiederaufgebaut wie das Schloss und die Jacobikirche. Die Ruinen von Konzerthaus und Stadttheater wurden abgerissen. An der Stelle des Theaters verläuft heute eine unansehnliche Schnellstraße als Auffahrt zur Labuda-Brücke.

„Stettin, das es nicht mehr gibt“

Zwei Bücher von Roman Czejarek zeigen Stettin vor den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs. Der Bildband „Stettin, das es nicht mehr gibt“ ist eine Sammlung historischer Fotos. Größtenteils stammen die Bilder aus der Zeit um 1900, manche sind zwischen den Weltkriegen entstanden, einzelne zeigen die im Krieg beschädigten Gebäude und auch Foto von inzwischen abgerissenen Gebäuden aus der sozialistischen Zeit sind zu finden.  Die beschreibenden Texte sind in deutscher und polnischer Sprache.

Die Fotos sind nach den heutigen polnischen Namen der abgebildeten Straßenzüge geordnet. Zur Hilfestellung sind manchmal Ausschnitte aus einem historischen Stadtplan mit den deutschen Straßennamen beigegeben. Wenn man nach bestimmten Gebäuden sucht, muss man allerdings das gesamte Buch durchblättern. Natürlich interessierte mich besonders das Stadttheater. Da der heutige Name des Königsplatzes allerdings mit Z beginnt (pl. Zołnierza Polskiergo), muss man bis zum Ende des Bands durchblättern, um es zu finden. Das 1849 eröffnete Theater wurde vom Berliner Architekten Carl Ferdinand Langhans geplant, der auch Theatergebäude in Breslau, Dessau, Liegnitz und Leipzig entwarf und das königliche Theater unter den Linden (die heutige Staatsoper) in Berlin nach dem Brand 1843 neu gestaltete. Das Theater in Stettin bildete den östlichen Abschluss des langgestreckten Königsplatzes in der Nähe des heute noch stehenden Königstors. Dass die gerundete dreigeschossige Fassade die Form des Zuschauerraums außen sichtbar machte, erinnerte an das kurz zuvor errichtete Hoftheater in Dresden Gottfried Sempers ebenso wie an das 1833 fertiggestellte Theater in Mainz von Georg Moller. Der Bau wurde vom hohen Bühnenturm überragt. Das Bild auf Seite 161 zeigt diesen Zustand. Auf den beiden folgenden Fotos sieht man den Zustand nach dem 1904 erfolgten Umbau. Mit einem Eingangs- und Foyertrakt mit zusätzlichen Treppenanlagen und Publikumsgarderoben erhielt das Theater eine neue Fassade. Am 17./18. August 1944 brannte das Gebäude bei einer Bombardierung der Stadt. Leider enthält das Buch keine Innenansichten.

Man kann im Buch noch weitere Fotos zur Theater-, Kino- und Musikgeschichte finden. Auf Seite 140 ist das 1959 eröffnete Kosmos-Kino mit seinem markanten Fassadenmosaik zu finden. 1912 wurde das Panorama als markanter Kuppelbau errichtet, das später in das Kino Urania umgebaut wurde. Bei den Central-Hallen handelte es sich urprünglich um einen Zirkus, der später als Kino genutzt wurde. Zwei Fotos zeigen das alte Konzerthaus, das 1883-1884 nach Plänen des Architekten Franz Schwechten errichtet wurde. Schwechten hatte damals gerade ein eigenes Architekturbüro eröffnet, nachdem er mehr als zehn Jahre bei der Berlin-Anhaltischen Eisenbahn tätig war und in dieser Zeit den Anhalter Bahnhof in Berlin entworfen hatte. Berühmt ist Schwechten durch die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in Berlin. Er hat übrigens 1888 auch die alte Philharmonie in der Bernburger Straße in Berlin entworfen. Anfang des 20. Jahrhunderts wurde der Konzertsaal in Stettin vergrößert und im August 1944 bei einem Bombenangriff beschädigt. Die Ruine wurde erst 1962 abgetragen. 2014 eröffnete an dieser Stelle die neue Philharmonie mit ihren markanten Giebeln.

Stettin um die Jahrhundertwende

Das leider nur in polnischer Spraache vorliegende Buch von Roman Czejarek, „Szczecin – przełomu wieków XIX/XX“ (Stettin um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert), ist thematisch aufgebaut und hat seinen Schwerpunkt auf dem städtischen Leben. Neben den historischen Fotos der Stadt findet man auch Fotos von Personen und Innenansichten, von Firmen und Vereinen. Außerdem ist viel statistisches Material beigegeben. Zur Hilfestellung liegt ein historischer Stadtplan bei. Außerdem gibt es eine Konkordanz deutscher und polnischer Straßennamen. Natürlich überschneiden sich die abgebildeten Fotos in den beiden Bücher etwas. Die beiden Bände ergänzen sich allerdings gegenseitig sehr gut.

Unter den zahlreichen Fotos des Umschlags findet man auch ein kleines Bild des Stadttheaters. Innen findet man das Theater leichter, weil es im Inhaltsverzeichnis unter „Teatr“ vermerkt ist. Mehr Material als zum Stadttheater ist zum Bellevue-Theater enthalten mit mehreren Inszenierungsfotos. Das Kapitel Kino zeigt wieder die Central-Hallen und das Urania-Theater, dazu noch den Ufa-Palast am Paradeplatz. Auch das Konzerthaus und das musikalische Leben werden behandelt. 

Carl Loewe, Carl Teike, Leon Jessel

Auf der dem Buch beiliegenden Musik-CD „Muzyka Szczecina przełomu wieków“ (Musik in Stettin um die Jahrhundertwende) sind sieben Nummern enthalten mit historischen Aufnahmen. Es sind allerdings keine Aufnahmen aus Stettin sondern Fundstücke von Schellackplatten. Zu hören sind Werke dreier Komponisten, deren Biographien mit Stettin verbunden sind. Carl Loewe lebte und wirkte einen Großteil seines Lebens in Stettin. Von ihm singt Fritz Gabsch zwei Lieder aus „Tom der Reimer“. Der Marsch „Alte Kameraden“ gehört zu den beliebtesten deutschen Märschen. Er entstand zwar in Ulm, sein Komponist Carl Teike wurde aber 1864 in der Nähe von Stettin geboren. Von 1909 bis zu seinem Tod lebte er in Landsberg an der Warthe. Dann findet man noch vier Nummern des Komponisten Leon Jessel, der lange durch seine Operette „Schwarzmädel“ bekannt war. Er wurde 1871 in Stettin geboren. Seine Tätigkeiten als Kapellmeister führten ihn nach Gelsenkirchen, München, Freiberg, Chemnitz und wieder Stettin. 1899 arbeitete er in Lübeck und ab 1911 in Berlin. Im Dritten Reich wurde er 1936 wegen seiner jüdischen Abstammung mit Aufführungsverbot belegt und geriet 1941 ins Visier der Gestapo. Nach Misshandlungen bei den Verhören starb er 1942 in Berlin. Insgesamt 29 Operetten hat er verfasst. Bekannt wurde Jessel mit der „Parade der Zinnsoldaten“ (Parade des soldats de plomb), die später als „Parade of the Wooden Soldiers“ international Karriere machte, 1933 die Basis für einen Betty-Boop-Zeichentrickfilm bildete und in den USA bis heute ungemein populär ist. Daneben findet sich auf der CD noch das weniger bekannte Stück „Der Rose Hochzeitszug“ in Bearbeitung für Blasorchester.

Roman Czejarek
Stettin, das es nicht mehr gibt
= Szczecin, którego nie ma
[Red.: Teresa Łozowska]
Ksiezy Młyn Dom Wydawniczy
Lódz 2016
ISBN 978-83-7729-339-3
164 S., überw. Ill.
Text deutsch und polnisch

Roman Czejarek
Szczecin
Przełomu wieków XIX/XX
Opowiesc o zyciu miasta
[Stettin um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, Geschichte des Stadtlebens]
[Red. Teresa Łozowska]
Ksiezy Młyn Dom Wydawniczy
Lódz 2008
ISBN 978-83-7729-302-7
159 S., überw. Ill. + 1 Kt.-Beil. + 1 CD
Text polnisch

Muzyka Szczecina przełomu wieków
[Musik in Stettin um die Jahrhundertwende]
Carl Loewe, Carl Teike, Leon Jessel
ISBN 978-83-61253-33-4
CD
22:48












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