Premierenkritik: Georges Bizets Oper „Carmen“ als packendes Drama – Oper Köln – 2019

Von käuflichem Fleisch – Sex and Crime im Schlachthof 

– Lydia Steier inszeniert Georges Bizets „Carmen“ der Oper Köln als brutales und doch packendes Drama – 

von Klaus J. Loderer

Teile des Premierenpublikums sind geschockt. Trotz mancher Buhrufe gab es großen Jubel. Diese Inszenierung wird in Erinnerung bleiben. Es ist eine brutale Geschichte, die Regisseurin Lydia Steier erzählt. Sie handelt von geschlachteten Tieren, Prostitution, Drogen, Verbrechen und Tod. Sie spielt in einer surrealen Welt, in der alle Spanienklischees aufeinanderprallen und in teilweise aberwitzigen Kombinationen und schnellen und unerwarteten Verwandlungen über die Bühne gehen. So kann sich eine Kirche hier schnell in einen Striptease-Schuppen verwandeln. Carmen ist Opfer und irre Täterin zugleich. Schon während des Vorspiels hat sie in Verdoppelung mit einem „unschuldigen“ Mädchen Visionen ihres Todes. Eines der Mädchen hat eine blutige Wunde am Rücken. Immer wieder wird sie diese Albträume haben: Carmen oder einer Carmen-Statistin wird in den Rücken gestochen und die Leiche mit einem Handwagen hinausgekarrt. Manchmal sind es auch gleich mehrere Statistinnen, die (wie Stiere bei einer Corrida) hingemetzelt werden. Carmen ist hier nicht die romantisch verklärte Zigara im Rüschenkleid sondern sie stapft fast männlich im olivgrünen Overall und in Springerstiefeln herum. Eine Partisanin? Diese Frau lässt sich nichts gefallen. Mit Adriana Bastidas-Gamboa ist diese Carmen wunderbar besetzt. Zierlich ist sie und doch mit großer Stimme. Mit ihrem dunklen Mezzosopran kann sie in Gluthitze verführen und eiskalt hassen.

„Carmen“ an der Oper Köln: Adriana Bastidas-Gamboa (Carmen)
Foto: © Hans-Jörg Michel 
Es geht in vieler Hinsicht um Tod in dieser Inszenierung und so gibt es kein romantisches Spanienbild. Momme Hinrichs zeigt uns als Bühnenbild die harte Wirklichkeit eines Schlachthofs. Es ist schon kunstvoll, wie die vorhandenen Stützen des Staatenhauses zu umgestaltet wurden, dass man sich an vielen Stellen in einer echten Fabrikhalle wähnt, ein Effekt der durch das grandiose Licht von Andreas Grüter noch unterstützt wird. Dazu hat Gianluca Falaschi Kostüme mit Anklängen an die Franco-Zeit bzw. die 1950er-Jahre entworfen. Derber als gewöhnlich ist der Text, denn Lydia Steier und Mark Schachtsiek haben eine eigene Dialogfassung erstellt.

Käufliches Fleisch I

Eine Markthalle bildet statt der Zigarettenfabrik den Rahmen für den ersten Akt. Dass die Metzger Stahlhelme tragen, macht die Wirkung noch brutaler. Es geht um Fleisch: die Soldaten fummeln an Prostituierten herum. Die einen Frauen wollen mit Sex Geld machen, die anderen Frauen wollen schlichtweg einkaufen und drängen darauf, dass endlich die Gitter zum Markt aufgemacht werden. Ein Blowjob bekommt einem Soldaten übel, Carmen schlitzt ihm kurzerhand das Gesicht auf. Mit ihrem Messer verschafft sie sich Respekt, nur Zuniga (Matthias Hoffmann) hat genügen Maß an SM-Bedürfnissen, um sich ihr zu nähern. Don José hat wie üblich gar kein Interesse an Carmen und das reizt sie. Martin Muehle Die Geschichte erzählt Lydia Steier genau wie vorgesehen, nur Details und Ambiente sind anders.

Diese nüchterne Szene wird aber einen Moment lang verklärt. Als hätte sich eine Musicalszene in diese Aufführung verirrt, erleben wir das Duett von Don José und Micaëla. Sei stehen auf den Verkaufsständen und fahren wie in Trance über die Bühne. Claudia Rohrbach haucht dieser Micaëla mit Pettycoat, Blümchenrock und Pillbox brave Häuslichkeit ein. Mädchenhaft schlicht ist ihr Gesang, von feiner Höhe ihr Sopran. Martin Muehle ist als Don José hier noch ein ordentlicher Soldat, beinahe schüchtern. Sein wunderbarer und strahlener Tenor wandelt sich aber schon bald von Zurückhaltung zu wilder Leidenschaft, Ausbrüchen der Eifersucht und schließlich Verzweiflung.

„Carmen“ an der Oper Köln: Oliver Zwarg (Escamillo), Solisten und Chor
Foto: © Hans-Jörg Michel 
Der Kinderchor mit der parodierten Wachablösung ist als Zwischenspiel nach dem ersten Akt verlegt. Dieses sonst so lustige Stück bekommt ihr einen bedrohlichen Unterton, wenn die Kinder Stierkampf spielen und Carmen dies wieder als Vision ihres bevorstehenden Todes träumt.

Der zweite Akt beginnt in einer Kirche. Gläubige beten an Kirchenbänken die Madonnenfigur auf dem von einem prunkvollen Baldachin beschützten Altar an. Die Männer versammeln sich, um den Leib Christi zu empfangen. Doch wie in einem Albtraum verwandelt sich die Szenerie. In aberwitziger Verzerrung findet die Kommunion an der in eine vielbrüstige Göttin verwandelten Altarfigur statt. Die Kirche verwandelt sich für eine wilde Orgie in einen Stripteaseschuppen, die schließlich in einem köstlichen Schnaps-Kokain-Quartett endet. Trotz einlullender Musik geht es hier aber brutal zu. Zuniga wird nicht einfach gefesselt sondern durch Kopfschuss gleich ganz erledigt.

Käufliches Fleisch II

Wieder geht es um käufliches Fleisch. Ein Straßenstrich mit Wohnwagen ist die Szenerie für den dritten Akt. Die beiden Schmuggler betätigen sich als Zuhälter. Bass Miljenko Turk ist als Le Dancaïre wie immer sehr spielfreudig. Auch Carmen ist hier tätig und andere „Damen“. Frasquita (Alina Wunderlin) und Mercédès (Arnheidur Eiríksdóttir) schlagen mit betörendem Gesang die Karten auf. Durch die detailreiche Inszenierung erfahren wir von allen Solisten einen gewissen biographischen Durchlauf. Alle Personen kommen immer wieder vor, auch wenn sie normalerweise aus der Handlung verschwinden. So wird Moralès (mit gestandenem Bassbariton Lukáš Bařák), der Soldat, der im ersten Akt von Carmen entstellt wird, in der Hoffnung auf schnellen Sex im Wohnwagen in einer heftigen Sadomaso-Nummer dermaßen zugerichtet, dass er später nur noch zitternd im Rollstuhl sitzen kann.

„Carmen“ an der Oper Köln:
Alexander Fedin (Le Remenado) Claudia Rohrbach (Micaëla) und Miljenko Turk (Le Dancaire)
Foto: © Hans-Jörg Michel 

Makabrer Karneval

Einen spektakulären Aufzug gibt es zum Beginn des dritten Akts. Der Chor formiert sich hinter Absperrungen. Auf der Empore stehen Schulkinder, einige sind als Bischöfe kostümiert. Da zieht Escamillo – Bassbariton Oliver Zwarg als glanzvoller Torero – ein, es geht ja zum Stierkampf. Als makabres Objekt fährt ein Gabelstapler eine Stierleiche über die Bühne. Einige Chordamen sind als Madonnen mit Strahlenkränzen versehen. Ja, ein solcher Aufmarsch kann auch eine Prozession zu einer Wallfahrt sein – immer wieder wird in dieser Inszenierung ja auf religiöse Aspekte verwiesen. Stelzenläufer und andere Gaukler machen ihre Kunststückchen. Ein Teil des Chors ist für den Karneval kostümiert, auch das kann dieser Aufzug sein. Karneval ist das Stichwort, sind es bei der Premiere doch nur noch wenige Stunden bis zum Karnevalsbeginn am 11.11. um 11.11 Uhr. Doch bleibt einem bei diesem makabren Karnevalsumzug die Kamelle im Halse stecken.

Dann ist die Bühne leergeräumt. Ein kühler Raum in einer Fabrikhalle oder ein Raum in einem verkommenen Schlachthof. Es ist dieser Raum, den Carmen immer wieder gesehen hat, wenn sie Visionen ihres Todes hatte. Nun trifft sie hier, weiß gewandet mit einem Madonnenbild auf dem Rock, und festlich-schwarzem Bolero, auf den ziemlich heruntergekommen Don José. Der ist so fertig, dass er zwar drohen kann, aber Carmen umbringen, nein. Für diesen Versager hat Camen nur Verachtung übrig. Sie nimmt ihm das Messer weg, schlitzt sich selbst die Mundwinkel auf und ersticht sich dann.

„Carmen“ an der Oper Köln: Adriana Bastidas-Gamboa (Carmen) und Martin Muehle (Don José)
Foto: © Hans-Jörg Michel 
Das Gürzenich-Orchester ist für die Aufführung links seitlich neben der Bühne platziert. Claude Schnitzler leitet das Gürzenich-Orchester furios mit Sinn für Leidenschaft. In besonders großer Besetzung und mit eindrucksvollem Gesamtklang dürfen Chor und Extrachor der Oper Köln ihr Können beweisen (Einstudierung Rustam Samedov). Die Kinder des Kölner Domchores singen präzise und klangschön. Die Bühnenwirkung ergänzten die zahlreichen Statisten.

Besuchte Vorstellung: Premiere am 10. November 2019
Staatenhaus Köln 


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