Premierenkritik: „Die Fledermaus“ – Heimathafen Neukölln in Berlin – 2020

Albtraum für Rosalinde 

– Tilman aus dem Siepen inszeniert mit dem Ensemble ConTutti eine freche „Fledermaus“ im Heimathafen Neukölln in Berlin – 

von Klaus J. Loderer

Rosalinde und Gabriel sind ein modernes Ehepaar, das sich miteinander langweilt. Rosalinde zelebriert die Zubereitung von Kaffee. Gabriel hasst diesen Kaffee. Wer sich nicht langweilt, ist das Publikum, das dieses Eheglück betrachten darf. Denn dieser Tag im Leben der Eisensteins wird eine besondere Entwicklung nehmen. Handlung wird auch eine andere Wendung nehmen, als das Publikum üblicherweise in einer „Fledermaus“ erwarten darf. Dafür sorgt im Heimathafen Neukölln in Berlin der junge Regisseur Tilman van der Siepen, der die Operette in einer Produktion des Ensembles ConTutti frech und unverfroren neu aufmischt.

„Fledermaus“ im Heimathafen Neukölln in Berlin:
Collin Schöning (Alfred) und Sonja Isabel Reuter (Rosalinde)
Foto: Emil Kroll
Spielbegeisterte junge Leute haben sich hier zusammengetan, um gemeinsam Operette zu machen. Das Ergebnis kann sich sehen lassen. Und es kann sich hören lassen. Die Solisten sind Studierende, bei denen man schon neugierig darauf ist, welche Partien sie später einmal übernehmen werden. Jugendlich und frisch klingt das. Dazu ein hochprofessioneller Orchesterklang mit dem ConTutti-Orchester unter der Leitung von Gregor Böttcher. In der Pause und danach war von Theaterprofis einiges an Gemäkel über dieses und jenes Detail zu hören. Aber Verzeihnung: da stellen Zwanzigjährige eine Operette auf die Beine und das professionell und mit einem Elan, den man sich in manchem Stadttheater wünschen würde, aber ohne den finanziellen Hintergrund eines öffentlich-finanzierten Theaters. Das muss man doch würdigen. Denn das Ergebnis überzeugt.

Den Rahmen der immerhin vier Aufführungen bietet der Heimathafen Neukölln, ein historischer Ball- und Theatersaal, der vor zehn Jahren von Inka Löwendorf und Julia von Schacky erfolgreich wiederbelebt wurde. Mit seiner historistischen Dekoration ist der Saal wie geschaffen für Operetten. Auf der Bühne geht es aber modern zu. Das Rundsofa ist zwar eine nette Reminiszenz an die Belle-Époque, Frida Gubba bietet aber mit ihrer Bühne ein aktuelles Ambiente: schlicht und einfach: das Sofa inmitten eines im Halbkreis aufgehängten Stoffes, je eine Tür rechts und links und in Teewagen. Eine goldene Vase in Form eines Elefanten, taucht als Motiv immer wieder auf.

„Fledermaus“ im Heimathafen Neukölln in Berlin: Birita Poulsen (Adele)
Foto: Emil Kroll
Die Personen sind mit einer jeweils markanten Charakterist belegt. Dazu gehört auch, dass sie bemerkenswerte erotische Liebhabereien pflegen. Modern sagt man dazu Fetisch. Gabriel findet Tierbilder interessant. Meine Nachbarin raunt ihrem Mann zu: „Er wird doch nicht,“ als sich Gabriel auf das Sofa setzt. Doch. Er drapiert ein Kissen und holt sich genüsslich einen runter. Dass er miteinander kopulierende Schimansenmännchen besonders erotisch finden, erfahren wir einige Minuten später, wenn Dr. Falke in munterem Spiel über ihn herfällt. Was die beiden Herren wohl zusammen auf Ibiza gemacht haben, wo in dieser Textfassung das Fledermausabenteuer spielt, mit dem Gabriel seinen Freund so heimtückisch hereingelegt hat. Alfred und Rosalinde pflegen eine besondere Form des Abendessens. Sie mampft die Spaghetti mit Tomatensoße direkt von seinem Bauch. Er reibt selbigen schließlich am entsetzt zurückweichenden Gefängnisdirektor Frank, der dann wenigstens einen Fleck auf dem Anzug hat als ob er sich vergnügt habe. Was aber Falke besonders anmacht, erfahren wir im Finale: wenn Gabriel einen Kochtopf mit Erbrochenem über Rosalinde auskippt, schleckt Falke Rosalinde fasziniert ab. Jedem sein Plaisierchen.

Baby Orlofsky

Der Wechsel zum zweiten Akt wird für Rosalinde zum Alptraum. Alfred schwängert Rosalinde vor seiner Verhaftung als vermeintlicher Eisenstein noch schnell hinter dem Sofa, sie macht eine Blitzschwangerschaft durch und gebärt nach dem Schock. Wen oder was? Der den Raum fassenden weiße Stoff spaltet sich und heraus schlüpft ein Riesenbaby mit meterlanger Nabelschnur, an der noch der Mutterkuchen dranhängt (Kostüme Dalia Hochbach). Als solcher wabert der Chor über die Bühne. Der Säugling ist natürlich der Prinz Orlowsky, für den Zauberer Falke einen Zirkus aufbietet, damit er das Lachen lerne. Aus seinem Zylinder zaubert Falke die nun als Clowns geschminkten Personen herbei. Statt einer Taschenuhr hat Gabriel eine Krawatte als Verführungsobjekt. Auch diese nimmt sich die als Elephant maskierte Rosalinde. Der zweite Akt nimmt am Ende eine tragische Wendung, wenn Gabriel einen riesigen Elefanten so reizt, dass dieser über die Bühne rast und den Säugling zertrampelt. Das ist mal ein ganz ungewohnt tragischer Aspekt in einer „Fledermaus“. Aber er scheint überlebt zu haben und nuckelt an Rosalindes Brust.

„Fledermaus“ im Heimathafen Neukölln in Berlin:
Sotiris Charalamous (Eisenstein), Carlo Nevio Wilfahrt (Dr. Falke) und Sonja Isabel Reuter (Rosalinde)
Foto: Emil Kroll
Wo ist eigentlich Rosalindes Arie abgeblieben? Das fragt man sich, in die Pause gehend. Rosalinde singt sie nach der Pause vor dem roten Vorhang, während sie mal wieder Kaffee zubereitet. Im dritten Akt ist von Gefängnis keine Spur. Wir sehen das vorige Bühnenbild von hinten. Auf der für uns unsichtbaren Bühne singt sich Alfred ein. Auf der Hinterbühne endet diese Operette im völligen Chaos. Rosalinde und Gabriel sind endgültig entzweit.

Dieses Chaos passt gut zur Musik von Johann Strauss, der ja an mehreren Stellen ein Gefühls- und Handlungsdurcheinander musikalisch malt. Dass Tilman aus dem Siepen eine Personenführung anwendet, die an das absurde Theater erinnert, umso besser.

Hervorragende Sänger

Auch das Sängerensemble lässt sich hören. Sonja Isabel Reuter ist eine Rosalinde, die in Sopranhöhen schwebt aber etwas zur Zickigkeit neigt. Eine genervte Adele gibt Birita Poulsen mit witzigem Vortrag und einer ausgezeichneten und strahlenden Höhe, was das Publikum sofort mit Szenenapplaus belohnt. Ihre Schwester Ida ist Avila Lorena Sarode. Eine charaktervolle Mezzosopranistin ist Ivon Mateljan als Orlofsky.

Sotiris Charalampous gibt einen bemerkenswerten Eisenstein. Bariton Carlo Nevio Wilfahrt wertet seine Rolle als besonders perfider Dr. Falke auf. Sehr eindrucksvoll und mit sauberer und lyrischer Höhe ist der Tenor von Collin Schöning (Alfred). Amüsant gestaltet Christian Moellenhoff den Gefängnisdirektor Frank und  Lennart Nielsen den Rechtsanwalt Dr. Blind.

Besuchte Vorstellung: Premiere am 6. Januar 2020
Heimathafen Neukölln, Berlin




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