Opernrarität: „Tolomeo, re d’Egitto“ von Georg Friedrich Händel – Staatstheater Karlsruhe – 2020

Verlustangst unter Quallen 

– Staatstheater Karlsruhe zeigt bei den 43. Händelfestspielen die selten gespielte Oper „Tolomeo, re d’Egitto“ – 

von Klaus J. Loderer

Quallen finden sich eher selten in Bühnenbildern. In Karlsruhe schweben sie in Massen und leuchtend wie Lampions in einem Raum, der gerade abgesoffen ist und durch dessen große Fenster man nun ein wilde Unterwasservegetation sieht. Dachte man vorher beim Blick durch die Fenster auf das Wasser an eine Villa am Meer, in dem mit schönem Abendrot vor der Pause die Sonne unter- und nach der Pause wieder aufgeht, könnte es sich während des entfesselten Sturms mit immer höher schlagenden Wellen um ein untergehendes Schiff zu handeln. Für das glückliche Ende ist dann wieder alles in Ordnung. Dann kann Tolomeo seine Seleuce in die Arme schließen. Was mit den drei anderen Personen passiert, das bleibt offen.

„Tolomeo“ im Staatstheater Karlsruhe: Jakub Józef Orliński (Tolomeo) und Louise Kemény (Seleuce)
Foto: Falk von Traubenberg
Das Staatstheater Karlsruhe eröffnete mit „Tolomeo, re d’Egitto“ die 43. Händelfestspiele. Diese gehört zu den sehr selten gespielten Opern Händels und ist wenig bekannt, insofern ist die Rarität interessant. „Tolomeo“ entstand gleichzeitig mit „Riccardo primo“ und „Siroe“, fand aber 1728 in London nicht so richtig gute Ressonanz. Und das obwohl Händel mit dem Kastraten Francesco Bernardi genannt Senesino, Francesca Cuzzoni und Faustina Bordoni geradezu eine legendäre Starbesetzung aufgeboten hatte. Die Musik hat ihre Reize und ist anspruchsvoll. Die Stimmung ist allerdings die meiste Zeit ziemlich gedrückt. Man könnte die Zusammenstellung der Arien fast als Musterkatalog für alle Arten von Lamenti bezeichnen. Für Abwechslung sorgen vor allem Araspes  Eifersuchtsanfälle. 

Ein ägyptischer König auf Zypern

Die Geschichte spielt auf Zypern. Immerhin zwei Personen sind historisch. Der von seiner in der Oper nicht auftretenden – aber erwähnten – Mutter Kleopatra III. (nicht die berühmte Kleopatra VII. sondern eine Ahnin) enterbte ägyptische Kronprinz Tolomeo (auch nicht der Ptolemäus XIII. aus Händels „Julius Cäsar“ sondern Ptolemäus IX.) lebt in Zypern als Hirte Osmin im Exil und rettet ganz zufälligerweise seinen Bruder Alessandro (historisch Ptolemäus X. Alexander) vor dem Ertrinken. Tolemeo hält seine Frau Seleuce (historisch ist er mit Kleopatra IV. verheiratet) für tot und klagt darüber. Diese lebt aber auch auf der Insel und sucht ihn und klagt darüber. Außerdem ist König Araspe hinter ihr her, der klagt, weil er unerwidert liebt. Seine Schwester Elisa liebt Osmin ebenfalls unerwidert und klagt darüber. König Araspe will Osmin aus Efersucht immer wieder an den Kragen. Als Alessandro erfährt, dass seine Mutter gestorben ist, klagt er natürlich auch darüber, beschließt aber, seinen Bruder wieder in seine Rechte als König einzusetzen. Araspe versteht das falsch und denkt er beweise Alessandro seine Gunst, wenn er Tolemeo umbringe. Gleichzeitig möchte Elisa Seleuce umbringen, um Toleomeo zu bekommen. Tolemeo trinkt zwar den Gifttrank, den Elisa aber durch einen Schlaftrunk ersetzt hat. So kommen Tolemeo und Seleuce am Ende doch wieder zusammen. Als Fortsetzung könnte man übrigens Händels Oper „Berenice“ spielen. Diese Kleopatra Berenike III. ist nämlich die Tochter von Ptolemäus IX. und Ehefrau von Ptolemäus X. Doch das ist eine andere Geschichte.

Die wechselnden Landschaften auf Zypern vereinte Adeline Caron auf ihrer Bühne zu einem breiten Einheitsraum mit Pfeilern. Mögen diese zu Beginn und am Ende als ägyptische Steinarchitektur erscheinen mit geschlossenen Nischen, offenbaren sich schon bald die anfangs beschriebenen Ausblicke als Videoprojektionen (Yann Chapotel). Oder es ist ein Hotel am Meer in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg mit einer Art Jules-et-Jim-Stimmung. Das deuten auch die Kostüme von Alain Blanchot an. Nur ein Becken in der Mitte, einige Blumenkübel und spärlich verteilte Möbel stehen in diesem Raum. Diese sind zu Beginn zudem mit einem Tuch bedeckt, mit dem die Wellen eines vom Sturm bewegten Meeres produziert werden, aus dem Tolomeo seinen Bruder Alessandro rettet. Die größtenteils ruhige Konzeption der Oper schlägt sich in Benjamin Lazars Regie, der zusammen mit William Christi eine viel beachtete Produktion von Landis „Il Sant’Alessio“ und in Karlsruhe „Riccardo primo“ inszenierte, nieder. Die unaufgeregte Regie versieht sich auf die leisen Zwischentöne. Es mag zuerst ungewöhnlich erscheinen, dass oft Personen auf der Bühne sind, über deren Abwesenheit gerade gesungen wird. Doch nimmt Lazar sie als Projektion der in sie gesetzten Sehnsüchte. Im Gegensatz zu anderen Opern der Zeit, in denen die Gefühlsbeziehungen zwischen den Protagonisten eventuell unendlich oft wechseln, haben sie in „Tolomeo“ eine Stetigkeit und Dauerhaftigkeit, die fast schon modern ist. Doch sind die fünf Personen auch immer wieder von einer bedrückenden Einsamkeit befallen.

Der polnische Countertenor Jakub Józef Orliński singt die Titelrolle

Im Zentrum steht der aufstrebende polnische Countertenor Jakub Józef Orliński als Tolomeo, der für wundervoll innige Momente sorgt, mit wehmütigen Tönen den Verlust seiner Frau beklagt, andererseits aber auch mit stürmischen Koloratursalven bildlich die tosenden Wellen und mit Heldenton die Standhaftigkeit eines Felsens im Meer besingt. In wunderbare Höhen reicht der Sopran von Louise Kemény, die als Seleuce zwischen zwei Männern steht. Mit zarten Tönen zeichnet sie eine melancholische Stimmung. In schönstem Zusammenklang erfolgt das raffinierte Duett im zweiten Akt, bei dem beide eigentlich noch gar nicht zusammentreffen. Und auch das zweite Duett gelingt in schönster Harmonie.

Nicht ganz überzeugen kann die auf Korsika geborene Mezzosopranistin Eléonore Pancrazi als Elisa. Der australische Bariton Morgan Pearse lässt sich als Araspe zu leidenschaftlichen Ausbrüchen rasender Eifersucht hinreißen. Mit feinen Höhen stattet der chinesische Countertenor Meili Li den Bruder Alessandro aus.

Mit Gespür für die Details und die geradezu lautmalerisch Naturtöne anschlagende Partitur Händels leitet der als Chefdirigent der Accademia Barocca di S. Cecilia ein ausgewiesener Barockspezialist Federico Maria Sardelli die Deutschen Händel-Solisten. Orchester und Solisten werden am Ende gefeiert. Aber vor allem ist es Jakub Józef Orliński, der nach jeder Arie und am Ende bejubelt wird.

Besuchte Vorstellung: 16. Februar 2020
(Premiere am 14. Februar 2020)
Staatstheater Karlsruhe, Großes Haus

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