CD-Besprechung: Christophe Rousset leitet Opernrarität „Uthal“ von Étienne-Nicolas Méhul

So schön singen die Barden in Schottland 

– „Uthal“ von Étienne-Nicolas Méhul (1763-1817) bei Palazzetto Bru Zane erschienen – 

von Klaus J. Loderer

Die von Palazzetto Bru Zane herausgegebenen Neuaufnahmen französischer Opern bieten immer wieder Überraschungen. Eine Wiederentdeckung, die ich gerne einmal auf einer Bühne sehen würde, ist „Uthal“. Diese zauberhafte Musik ist zu Unrecht vergessen. Der Komponist Étienne-Nicolas Méhul wartet sowieso auf seine Wiederentdeckung. Unter der musikalischen Leitung von Christophe Rousset ist eine überaus stimmige Aufnahme von hoher Qualität entstanden.

Es ist ein ungewöhnlicher Klang, der die Ouverture von „Uthal“ bestimmt. Mystisch und dunkel flirrend kommen die Bratschen daher. Die Streicher bäumen sich zu einem Sturm auf. Windstöße peitschen durch das Orchester und Christophe Rousset lässt das Orchester „Les talents lyriques“ auch regelrecht stürmen. Und irgendwann fällt auf, warum der Klang so ungewöhnlich ist. Étienne-Nicolas Méhul hat die Oper ohne Geigen komponiert. Es gibt allerdings ungewöhnlicherweise eine Frauenstimme in der Ouverture. Gegen Ende ruft eine Frauenstimme in den Sturm hinein. Es ist Malvina, die ihren Vater Larmor ruft. Méhul verschränkt so das Orchestervorspiel mit der Handlung. Wer nun allerdings erwartet, dass die Szenen durchkomponiert sind, sieht sich allerdings getäuscht. Die Musik bricht ab. Die eigentiche Handlung beginnt mit gesprochenem Dialog. Es handelt sich bei „Uthal“ um eine Opéra comique, also eine Oper mit gesprochenen Dialogen und Musiknummern.

Doch zurück zur ungewöhnlichen Instrumentierung. Méhul versuchte mit dem Verzicht auf Violinen und einer stärkeren Dominanz von Bratschen einen keltischen Klang zu erreichen, entsprechend dem Versuch des Librettisten Jacques-Benjamin-Maximilien Bins de Saint-Victor für die in Schottland spielende Handlung keltisch anmutende Verse zu schreiben, wie er im Vorwort betont. Mit der Einführung einer Gruppe von Barden, die von Harfenklang eingeleitet werden, taucht in der Oper noch eine Personengruppe auf, die auch musikalisch heraussticht. Ihre schlichte Melodie soll wohl auch einen keltischen Klang bewirken. Die ergreifende „Hymne au sommeil“ sollen die Schüler Méhuls bei seiner Beisetzung 1817 gesungen haben. Auch wenn Méhul heute weitgehend vergessen ist, er gehörte ab 1790 bis zu seinem Tod zu den populären Komponisten von Paris und komponierte mehr als vierzig Opern, darunter 1807 „Joseph“.

In der einaktigen Oper geht es um Uthal, der seinen Schwiegervater Larmor als Clanchef  von Dunthalmon abgesetzt hat. Larmor ist in den Wald geflohen, wohin ihm nun seine Tochter Malvina folgt. Auch Uthal taucht auf, der auf der Suche nach einer Frau ist. Er unterliegt im Kampf gegen die von Fingal geschickten Männer von Morven, die Larmor unterstützen. Larmor will Uthal ins Exil schicken, doch die Drohung seiner Tochter, den Vater zu verlassen, bringt ihn schließlich dazu Uthal zu verzeihen.

Diese Geschichte gehört nicht zu einem der üblichen Handlungskomplexe aus dem trojanischen Krieg oder dem rasenden Roland, die die Opernlibretti dominieren. Das Umfeld, um das es hier geht, ist heute weitgehend vergessen, war aber im späten 18. Jahrhundert unglaublich populär. Auf der Titelseite des originalen Textbuchs wird besonders betont, dass die Verse Ossian imitieren. In die Handlung von „Uthal“ greift auch dessen Vater Fingal ein, ohne selbst vorzukommen. Und damit sind wir in einem Geschichtenkomplex, der im 18. Jahrhundert regelrecht einschlug. Das Epos „Ossian“ inspirierte die Dichter des „Sturm und Drang“ ebenso wie später noch die Romantiker. Goethe und Napoleon waren gleichermaßen Fans von Ossian. Dieses altgälische Opus hatte nur einen Haken. Es war eine freie Erfindung von James Macpherson, der eigentlich alte gälische Gesänge sammeln wollte, sie dann aber mangels authentischer Quellen einfach selbst erfand. Der Gelehrte Samuel Johnson zweifelte zwar schnell die Authentizität an, trotzdem wurde Ossian populär. Ein schönes Beispiel der Ossian-Rezeption ist die Oper „Uthal“, die am 17. Mai 1806 von der Opéra Comique in Paris uraufgeführt wurde.

In der wunderbaren Reihe der Stiftung Palazzetto Bru Zane zur französischen Oper ist nun eine Aufnahme dieser vergessenen Oper erschienen. Wenn sich eine Opernausgrabung gelohnt hat, dann ist es diese. Diese Oper ist einfach außergewöhnlich. Und diese Aufnahme ist völlig stimmig. Christophe Rousset gelingt mit dem Orchester „Les talents lyriques“ ein feiner Ton. Die Musik selbst ist sehr abwechslungsreich und kontrastreich. Da sind die dramatischen Stimmungen des anfänglichen Sturms und die Schlacht. Und man hört viele Elemente und Stilmittel, die schon in den Romantik weisen. Man merkt den Einfluss, den Méhuls Musik auf Carl Maria von Weber hatte.

Auch gesanglich ist die Aufnahme gut gelungen. Jean-Sébastien Bou ist in der Bariton-Partie des  Lamoral zu hören. Sopran Karine Deshayes überzeugt als Malvina. Yann Beuron singt die Titelpartie Uthal heldenhaft mutig an manchen Stellen und einfühlsam in seiner Romanze. Sébastien Droy ist in einer kleinen Tenorrolle als Ullin zu hören. Ein wunderbares Ensemble ausgewogener Stimmen bieten die Barden. Überhaupt gehören die beiden Barden-Lieder zu den schönsten Stellen der Oper. Den Chef der Barden und den dritten Barden singt Bariton Philippe-Nicolas Martin. Der erste Barde ist Reinoud van Mechelen, den zweiten Barden Artavazd Sargsyan und den vierten Barden Jacques-Greg Belobo. Dazu sind die Herren des Chœur de Chambre de Namur als Krieger und Barden zu hören.

Wie immer ist die Aufnahme eingebunden in ein schönes gebundenes Buch mit Material zur Oper. Dazu gehören das französische Textbuch und eine englische Übersetzung. Ein paar Texte sind aus dem 19. Jahrhundert, darunter das Vorwort des Textbuchs von Jacques-Benjamin-Maximilien Bins de Saint-Victor, ein Text von Hector Berlioz und eine Zeitungsrezension der zweiten Aufführung 1806. Zwei weitere Texte von Gérard Condé und Arthur Pougin stellen uns die Oper „Uthal“ und den Komponisten vor.


Étienne-Nicolas Méhul

Uthal
[Enregistrement réalisée à l’Opéra de Versailles du 29 au 31 mai 2015]
Les Talens Lyriques
Chœur de Chambre de Namur
Christophe Rousset

Palazzetto Bru Zane, Venezia, 2016
1 CD (60:40)
Ediciones Singulares, San Lorenzo de El Escorial, 2016
(Les collections de livres-disques du Palazzetto Bru Zane, opéra français; 14)
ISBN 978-84-617-5548-6
137 S.
Text franz. und engl.

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