Opernkritik: „Orpheus“ von Georg Philipp Telemann – Theater für Niedersachsen Hildesheim – 2018

Hildesheim schwelgte in barocken Opernfreuden

– Publikum feierte die letzte Vorstellung von Georg Philipp Telemanns Oper „Orpheus oder die wunderbare Beständigkeit der Liebe“ im Theater für Niedersachsen (TfN) in Hildesheim – 

von Klaus J. Loderer

Als überaus erfolgreiche Produktion stellte sich Georg Philipp Telemanns Oper „Orpheus oder die wunderbare Beständigkeit der Liebe“ am Theater für Niedersachsen in Hildesheim heraus. Auch die letzte Vorstellung fand nach mehr als einem Jahr Laufzeit vor vollem Haus statt. Schon jede Musiknummer wurde eifrig beklatscht. Mit Standing Ovations und großem Jubel bedankte sich das Publikum am Ende. Dabei gehörte Barock in den letzten Jahren nicht gerade zum festen Bestandteil des Spielplans. Für Publikum und Theater war „Orpheus“ also eine ganz neue Erfahrung. Insofern war es sicher ein Wagnis, noch dazu mit einer nicht gerade bekannten Oper eines auch nicht so bekannten Komponisten. Aber die Mühe hat sich gelohnt. Das Theater hat für die Produktion nicht geringen Aufwand betrieben. Man holte sich die Regisseurin und Choreographin Sigrid T’Hooft an das Haus, einer Spezialistin der sogenannten historisch informierten Aufführungspraxis. Damit ist bei ihr nicht nur der musikalische Aspekt gemeint, sondern auch das, was auf der Bühne geschieht. Intensiv hat sie sich mit historischer Bühnenpraxis beschäftigt und setzt ihre Erkenntnisse nun in ihre Inszenenierungen ein. Sie entführte das Hildesheimer Publikum in die Ästhetik des 18. Jahrhunderts. Das bedeutete, allen Sängern eine ganz ungewohnte Art der Bühnendarstellung beizubringen, um den speziell barocken Darstellungsduktus zu erreichen, der sehr stark über Handbewegungen und Gesten erfolgte.

Telemanns „Orpheus“ in Hildesheim: Siri Karoline Thornhill (Orasia) und der Damenchor
Foto: Falk von Traubenberg
Die opulenten Kostüme im Barockstil und das schöne Bühnenbild in der Art einer Kulissenbühne – beides von Stephan Dietrich – trugen sicherlich auch zum Publikumserfolg bei. Schon bei der Ouvertüre machte der Bühnenrahmen mit Säulen und Kronleuchtern deutlich, dass es man eine üppige Inszenierung erwarten darf. Der ansteigende Bretterboden und die in die Tiefe gestaffelten Kulissen bildeten die Barockbühne mit typischer Zentralperspektive. Auch wenn die Kerzen flackerten, das Licht war elektrisch. Im Barock wäre es auf der Bühne nicht ganz so hell gewesen, aber man verzichtete bewusst auf den Einsatz von Scheinwerfern aus dem Zuschauerraum.


In der Unterwelt: Levente György (Pluto) und der Opernchor
Foto: Falk von Traubenberg
Sehr effektvoll war der Beginn des zweiten Akts in der Unterwelt mit einem sehr barock-antik kostümierten Pluto mit Straußenfederkrone und wilden Fabelwesen, die ebenso einer dramatischen Darstellung des jüngsten Gerichts entsprangen wie das riesige Höllenmaul im Hintergrund. Schnell musste sich der Chor umziehen, um dann als höfisch-barocke Damen- und Herren-Seelen aufzutreten.

In dieser Unterweltszene überrascht in der Partitur, dass obwohl Orpheus üblicherweise eine Lyra zugeordnet hat, er von Telemann mit einer Flöte unterlegt wurde. Die Geister der Unterwelt besänftigt nicht etwa sein Gesang sondern die Soloflöte, die auch schon effektvoll in der Ouvertüre eingesetzt wird und deren Spieler Zsolt Sokoray in Hildesheim zur Verdeutlichung rechts am Bühnenrand platziert wurde. Was in Telemanns „Orpheus“ für uns heute ungewohnt erscheinen mag, ist die Vielsprachigkeit des Librettos. Die Rezitative sind in deutscher Sprache (das Hamburger Publikum wollte ja den Text verstehen), die Arien aber auf Italienisch oder Französisch. Ein musikalisch italienischer Arientyp erhielt von Telemann italienischen Text, eine Musiknummer im französischen Stil erhielt französischen Text. Telemann verfasste das Libretto für die 1726 in Hamburg erst einmal nur konzertant aufgeführte Oper selbst nach einer Vorlage von Michel du Boulay. Später brachte Telemann die Oper unter dem Titel „Orasia“ noch einmal heraus, nun szenisch im Opernhaus am Gänsemarkt.

Der Titel der zweiten Fassung verweist auf eine in „Orpheus“ wichtige Person, die in den bekannteren Adaptionen der Orpheusgeschichte von Monteverdi und Gluck nicht vorkommt. Bei Telemann treibt Orasia, Königin von Thrakien, die Handlung voran. Sie ist in Orpheus verliebt und befiehlt deshalb aus Eifersucht den Furien, Eurydike von giftigen Schlangen töten zu lassen. Was für eine wunderbare Arie für eine Mordplanung. Orasia ist mit rot-goldenem Königinnenkostüm mit Federputz sehr präsent. Überhaupt ist Siri Karoline Thornhill als Orasia mit ihren mächtigen Koloraturen sehr dominant. Als Orpheus sie am Ende als Mörderin seiner geliebten Eurydike zurückweist, lässt Orasia ihn von rasenden Bacchantinnen opfern und gibt sich dann selbst den Schlangen hin. Und wieder sind es ganz unterschiedliche Musikstile, mit denen Telemann die Charaktere ausdrückt. Orasias Arien sind in einem festlich-bombastischen Stil gehalten, während Orpheus, Eurydike und die Nymphen einen lieblicheren Stil haben. Dieser kontrastiert mit der dunkler gehaltenen und von tiefen Streichern dominierten Unterwelt. Bariton Peter Kubik absolvierte die Titelpartie mit lyrischem Schmelz, mit Liebeshymnen und Verzweiflung. Ihm zur Seite mit feinem Sopran Meike Hartmann als Eurydike.

Auch die Rolle des Eurimides ist eine Besonderheit bei Telemann. Als ein Freund Orpheus’ trägt er nicht viel zur Handlung bei, allerdings hat er musikalisch sehr schöne Stellen, die Julian Rohde, ein Neuzugang im Ensemble, der die Rolle bei der Wiederaufnahme übernommen hat, mit großem Liebreiz, feiner Artikulation, Einfühlsamkeit und angemessen zierlicher Ausgestaltung sang. Man merkte dem Tenor seine Erfahrungen mit Musik des 18. Jahrhunderts an.

Orasias Begleiterin Ismene (Antonia Radneva) konnte sich erst im dritten Akt richtig musikalisch entfalten. Neele Kramer scheuchte, als niedlicher Drache kostümiert, im zweiten Akt tyrannisch die Seelen der Unterwelt herum und gab sich auch stimmlich herrisch. Da war Levente György als Unterweltherrscher Pluto zwar im Bass entrüstet aber durchaus auch ironisch drauf. In kleinen Rollen gab es noch Agnes Buliga-Contras als Priesterin, Atsushi Okumura als Geist und Jesper Mikkelsen als Echo. Und dann sind natürlich noch Sabrina Hauser und Annika Dickel zu nennen, die als Tänzerinnen viele Szenen mit kleinen Tanzsequenzen begleiteten oder in ihren wunderbaren Kostümen mit sich ringelnden Schlangen sowohl Eurydike wie auch Orasia zum Schlangengifttod verhalfen.


Opernchor als Seelen der Unterwelt
Foto: Falk von Traubenberg
Dekorativ kam der TfN-Opernchor immer wieder zum Einsatz für schöne Bilder. Für den musikalischen Einsatz war der Opernchor von Achim Falkenhausen gut vorbereitet. Konzentriert und straff leitete Generalmusikdirektor Florian Ziemen die TfN-Philharmonie. An einigen reinen Instrumentalstellen ließ er das Orchester sich dramatisch aufbäumen, im zweiten Akt kontrastierte das mit dem Liebreiz beim Auftritt Orpheus’. Die TfN-Philharmonie wurde für diese Produktion durch einige Barockinstrumentalisten und ein neues Cembalo verstärkt. Für die Streicher wurden spezielle Bögen angeschafft. Und das Orchester erarbeitete eine präzise Spielweise zur Umsetzung der natürlich ungewohnten Partitur. Jetzt darf man hoffen, dass die Erkenntnisse möglichst bald in eine neue Barockoper umsetzt werden, damit die Erfahrungen nicht gleich wieder verloren gehen.

Besuchte Vorstellung: 27. Dezember 2018
(Dernière, Premiere 2. Dezember 2017)
Theater Hildesheim

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