Opernkritik: René Jacobs rekonstruiert Händels „Teseo“ im Theater an der Wien – 2018

Riesenhände greifen nach Agilea 

– René Jacobs rekonstruiert Händels Theseus-Oper „Teseo“ im Theater an der Wien – 

von Klaus J. Loderer 

Bei Theseus denkt der Philologe an den antiken Helden, der den Minotauros bekämpft, der Opernfreund an Ariadne, deren roter Faden ihm durch das Labyrinth hilft und die er schließlich auf der Insel Naxos absetzt, der Theaterfreund an seine Frau Phädra, die mit falscher Beschuldigung dafür sorgt, dass er seinen Sohn zu Tode bringt. Der Kunstfreund hat die Skulptur Canovas vor Augen, wie Theseus den Kentaur erschlägt. Um diese Stoffe geht es in Händels Oper „Teseo“ allerdings nicht. Im Mythos hat Theseus ja auch eine etwas komplizierte Herkunft. Jedenfalls kennt der Vater, König Aigeus (Egeo) von Athen, seinen Sohn nicht. In der Oper, für deren Libretto Nicolo Francesco Haym den Text von Philippe Quinaults zur Lully-Oper „Thésée“ aus dem Französischen ins Italienische übertrug, ist das dramaturgisch so zugespitzt, dass Theseus dem König bei einer Bedrohung zum Sieg verhilft, dadurch im Volk solche Popularität bekommt, dass man ihn als König haben will. Und dann möchte der König auch noch die Frau heiraten, die eigentlich Theseus liebt. Also interessantes Konfliktpotential, das noch dadurch verstärkt wird, dass der König seine eigentliche Braut abserviert. Und diese Braut ist Medea, die berühmte Zauberin aus der Argonautengeschichte. Man mag erstaunt sein, dass Medea in dieser Oper überhaupt auftaucht, aber tatsächlich überliefert der Mythos, dass sie nach der Korinth-Episode in Athen lebte und den König überredete Theseus zu vergiften. Das bildet ja auch in der Oper die Schlussszene. Gerettet wird Theseus nur dadurch, dass der König das Schwert erkennt, das er laut Mythos einstens für den Sohn versteckte.

Mari Eriksmoen (Agilea), Gaëlle Arquez (Medea), Lena Belkina (Teseo), Statisterie des Theater an der Wien
Foto: © Herwig Prammer
Nun weiß der Opergänger aus der Cherubini-Oper oder aus der Überlieferung, dass Medea nicht zimperlich mit Nebenbuhlerinnen umspringt. So ist das auch in Händels „Teseo“. Auf den König verzichtet sie großzügig, sie möchte dann aber Theseus haben. Nur hat der mit Agilea (Aigle, das ist im Mythos jene, für die er dann später Ariadne sitzen lässt) angebandelt. Gegenüber Theseus behauptet Medea, ihm zu helfen, doch tatsächlich versucht sie Agilea zu zwingen den König zu heiraten, der sie ja auch haben möchte. Das kumuliert im vierten Akt in einem heftigen Dämonenzauber Medeas. Sie spielt in der Oper überhaupt eine so wichtige Rolle, dass sie die wahre Hauptrolle hat, was noch durch die Dominanz ihrer Arien verstärkt wird. Und Händel hat sie nun wirklich mit den interessantesten Arien des Stücks ausgestattet. Was aber auch an der sängerischen Strahlkraft und schauspielerischen Präsenz der französischen Mezzosopranistin Gaëlle Arquez liegt. Sinnliche Leidenschaft, Liebe und Wut – Arquez steigert sich eindrucksvoll in die Stimmungsschwankungen der Medea hinein und wechselt mit ihrer Stimme die Klangfärbungen. Sei es düstere Tiefe, sei es brilliante Höhe, sie überzeugt. Ihre Vertraute ist in der Oper Fedra (Phädra, eigentlich ja die Schwester Ariadnes und spätere Ehefrau Theseus‘). Diese kleine Rolle flog bei der Uraufführung 1713 im Queen’s Theatre – „Teseo“ war die dritte Oper Händels in London – auf Drängen des Impressarios Owen Swiney ganz raus. René Jacobs rekonstruierte die Rolle für die Wiener Aufführung. Glücklicherweise sind im damals gedruckten Textbuch die Streichungen enthalten. So konnten auch die damals gestrichenen Rezitative wieder eingefügt werden. René Jacobs komponierte sie im Stil Händels nach. Dadurch wirkt „Teseo“ nun geschlossener. Eine Besonderheit der Oper sind übrigens die kürzer als sonst angelegten Arien, was zu einem abwechslungsreichen Gesamtbild führt.

Das Regieduo Moshe Leiser und Patrice Caurier holt die Handlung aus der Antike ins Zwanzigste Jahrhundert nach England. Für ein entsprechendes königliches Ambiente sorgt Bühnenbildner Christian Fenouillat mit dem riesigen Salon eines Schlosses oder Herrenhauses. Barocke (aber zu katholische) Fresken schmücken die Decke. Man kann ahnen, dass der erste Akt im Zweiten Weltkrieg spielen soll – London während der deutschen Luftangriffe vielleicht. Das Schloss ist als Lazarett umgenutzt, Verwundete werden hereingetragen, die Möbel sind schützend überzogen. Man erkennt englische Uniformen. Auch der König wird verwundet hereingebracht und humpelt dann den Rest der Oper herum. Countertenor Christophe Dumaux spielt und singt diese Rolle sehr überzeugend. Interessanterweise gibt es in der Oper keine tiefe Stimme. Dafür ist mit Benno Schachtner als Arcane ein zweiter guter Countertenor auf der Bühne. Er ist hier eine Art königlicher Privatsekretär, der die Angestellte Clizia liebt. Robin Johannsen füllt diese kleine Rolle hübsch aus.

Im zweiten Akt ist der Krieg beendet, die königliche Hofhaltung wieder intakt, noble Fünfzigerjahre. Die Sonne scheint in den wieder repräsentativ möglierten Salon. Prinzessin Medea schwirrt im weit bauschenden blauen schulterfreien Kleid und Pelzmantel durch die Salons, begleitet von der steifen Hofdame Fedra (Soula Parassidis). Da hat man die Gewohnheiten der englischen High Society genau beobachtet. Wenn sich die hintere Flügeltür öffnet, können wir in den nächsten Raum schauen, den Salon des Königs. Aus Agilea hat die Regie einen langweiligen Backfisch in unscheinbarem Kleidchen gemacht. Mari Eriksmoen singt zwar schön und arbeitet sich fleißig und exakt durch die Koloraturen, bleibt aber doch blass. Theseus ist in Wien ein Offiziersbübchen, dem man den Heldencharakter nicht abnimmt. Lena Belkina singt den Teseo nicht wirklich überzeugend und ist an einigen schnellen Stellen etwas überfordert.

Das alle fünf Akte begleitende Bühnenbild bietet dann übrigens doch Überraschungen. Wenn Medea Agilea am Ende des dritten Akts droht und die Dämonen beschwört, rutschen plötzlich alle Möbel, wie von Geisterhand bewegt, nach rechts. Mit Beginn des vierten Akts würgt Medea Agilea immer noch, wie vor der Pause. Es geht weiter in der Geisterbeschwörung. Die Möbel liegen kreuz und quer herum. Ein Windstoß lässt die Vorhänge in den Raum wegen, wo sie einfach stehen bleiben. Zwei riesige Hände tauchen auf, die Agilea bedrohen. Die Lakaien haben sich in Werwölfe verwandelt und wollen Teseo auffressen. Natürlich ist diese Szene auch ein wichtiges Einsatzfeld für Christophe Forey und seine dramatische Lichtgestaltung. Überhaupt vermittelt das Licht gut die wechselnden Tageszeiten.

Christophe Dumaux (Egeo), Arnold Schoenberg Chor
Foto: © Herwig Prammer
Im fünften Akt sehen wir eine große Hoftafel. Kostümbildner Agostino Cavalca hat für die Damen wunderbare Fünfzigerjahreroben entworfen. Medea ist nun im atemberaubend leuchtend roten, wieder schulterfreien, Kleid. Wir haben schon gesehen, dass sie einen großen Abgang vorhat, vor der Handgranate in der Handtasche ist Fedra entsetzt geflohen. Im großen Showdown steigt sie auf den Tisch, zündet die Handgranate und sprengt sich damit. Ein weiterer Sprengsatz geht hinten los. Also dramatischer Höhepunkt. Vielleicht insofern nicht so ganz glaubwürdig, als Medea nicht mehr so komplett auf Tisch liegen würde und auch König und Tischgesellschaft nicht mehr so ganz munter wären. Diese Explosion hätte man vielleicht besser in den Hintergrund verlagert.

Für die musikalische Leitung hat man sich mit René Jacobs einen wichtigen Barockopernfachman geholt. Er hat die Partitur überarbeitet und führt die Akademie für alte Musik Berlin, die historisch informiert (wie man das gerade akademisch spröde nennt) spielt, natürlich gewohnt exakt durch den Abend. Von Erwin Ortner wieder gut einstudiert, zeichnet sich der Arnold-Schoenberg-Chor auch wieder mit großer Spielfreude aus. René Jacobs hat den Choreinsatz etwas ausgebaut. Die Damen und Herren beleben an einigen Stellen das Bühnenbild, sei es als Offiziere oder am Ende als Hofgesellschaft.

Besuchte Vorstellung: 21. November 2018
(Premiere am 14. November 2018)
Theater an der Wien, Wien

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Skandal: Enrico Caruso und die spektakuläre Trennung von Ada Giachetti

Filmbesprechung: „Frühling in Paris“ (Seize Printemps) von Suzanne Lindon

Vor der Oper: das historische Café Rommel in Erfurt