Opernkritik: „Krieg und Frieden“ – Staatstheater Nürnberg – 2018

Als Moskau brannte

– Fulminanter Sainsonauftakt am Staatstheater Nürnberg mit Sergej Prokofjews Monumentaloper „Krieg und Frieden“ – 

von Klaus J. Loderer

Moskau brennt. Die Bühne ist durch Projektionen in ein züngelndes Flammenmeer verwandelt. Eine Frau singt, dass das Theater brenne. Französische Soldaten machen sich Frauen gefügig. Dann hebt einer der Soldaten den Arm, wie um drohendes Unheil abzuwehren. Und wir schauen in den Bühnenhintergrund, was sich da tut. Die Rückwand kippt nach vor. Und sie stützt dann auch tatsächlich mit einem großen Knall auf den Bühnenboden, eine Wolke aufwirbelnd, die bis in den Zuschauerraum drängt. Es gibt in „Krieg und Frieden“ im Opernhaus Nürnberg einige solcher effektvoll gestalteter Szenen, die die Musik von Sergej Prokofjev dramatisch unterstreichen. Etwa die letzte Szene vor der Pause, wenn das Volk die Rückwand des Bühnenbilds kurzerhand durchstößt. Chor und Extrachor des Staatstheaters Nürnberger haben einen wichtigen Anteil an der Produktion. Die Staatsphilharmonie Nürnberg ist unter Björn Huestege herausragend. Auf der Bühne ist ein bemerkenswertes Sängerensemble versammelt, darunter Jochen Kupfer, Eleonore Marguerre, Zurab Zurabishvili und Sangmin Lee.

Staatstheater Nürnberg: „Krieg und Frieden“
Eleonore Marguerre (Natascha Rostowa) und KS Jochen Kupfer (Bolkonski) 
Fotograf: Ludwig Olah
Einen fulminanten Auftakt beschert der neue Staatsintendant und Opernchef Jens-Daniel Herzog dem Staatstheater Nürnberg und der Chef führt auch gleich Regie. Da fängt die neue Saison nicht langsam an. Da gibt es kein Warmlaufen. Nein, mit der Riesenoper „Krieg und Frieden“, diesem selten aufgeführten Monumentalwerk des russischen Komponisten Sergej Prokofjew, setzt man die Meßlatte gleich ziemlich hoch. Das kann man sich in einem Haus wie der Oper Nürnberg erlauben, die auch bisher Oper auf hohem Niveau spielte und ein gutes Ensemble besitzt.

Die Romanvorlage des russischen Romangroßmeisters Leo Tolstoi ist ein Riesenwerk. In schier unendlich vielen Handlungssträngen geht es in Война и мир um fiktive adelige Familien zu Anfang des 19. Jahrhunderts und während des französischen Russlandfeldzugs. Alleine schon mit der Unterscheidung von Namen wie Nikolai Andreijewitsch Bolkonski, Andrej Nikolaijewitsch Bolkonski und dem Nikoluschka genannten jungen Nikolai Andreijewitsch Bolkonski verzweifelt man im Roman fast. Prokofjew und seine Lebensgefährting und spätere Ehefrau Mira Mendelson kürzten für die Oper den Handlungszeitraum um einige Jahre und übergingen gleich mal die ersten siebenhundert Seiten des Romans. Das Libretto konzentrierten sie auf die Hauptfiguren Andrej Bolkonski, Natascha Rostow und Pierre Besuchow. Nataschas Bruder, der am Ende Andrejs Schwester heiratet, flog zum Beispiel völlig raus. Trotzdem kam letztendlich eine viereinhalbstündige Oper heraus. In Nürnberg hat man kurzerhand eine Stunde gekürzt. Mit einer Spieldauer von dreieinhalb Stunden ist die Oper prägnanter. Von den mehr als 70 Rollen blieben noch etwa 40 übrig, wodurch die eigentlichen Handlungsstränge leichter zu verfolgen sind. Trotzdem umfasst die Inhaltsangabe im Programmheft immer noch mehr als vier Seiten. In dreizehn Bildern ist die Handlung gegliedert, wobei das elfte Bild allerdings alleine schon aus neun Szenen besteht.

Die Kostüme von Sibylle Gädeke verlegen die Handlung in eine nicht so ganz fassbare Gegenwart, mit einigen Versatzstücken aus der Geschichte wie Napoleon und der russische Feldmarschall Kutusow. Auch ein paar Reminiszenzen an die Zeit Stalins zu finden. Bewusst changiert man etwas mit den Epochen. Im ersten Teil dominiert eine neureiche Lebegesellschaft, deren extremste Exponenten Hélène und Anatol sind, der durch eine Erwähnung eines Zobels im fünften Bild die ganze Zeit im angeberischen Pelzmantel herumscharwenzelt.

Verschiedene Bühnenbilder für insgesamt 21 Szenen würden durch die Umbaupausen das Stück völlig zerpflücken. Ein Einheitsbühnenbild wollte man in Nürnberg wohl auch nicht. So entwarf Bühnenbildner Mathis Neidhardt ein System mit riesigen schwenkbaren Torflügeln, die offen oder geschlossen unterschiedliche und schnell wechselnde Raumeindrücke ermöglichen. In diesen schwarzen Torflügeln sind wiederum Flügeltüren eingebaut, die Zugänge oder weitere Durchblicke ermöglichen. So ensteht in starker Stilisierung der Effekt herrschaftlicher Häuser, was das Ambiente der ersten sieben Bilder darstellt. Die Fototapete eines Birkenwaldes im ersten Bild illustriert die Gedanken des Fürsten Andrej. Ein roter Teppich und Kronleuchter schaffen das Ambiente für den Silvesterball, der Raum weitet sich für den Walzer, bei dem sich Andrej und Natascha verlieben. Dass in der dritten Szene die Wände schräg gestellt sind, nimmt die Dissonanz vorweg, die mit dem unflätigen Verhalten des alten Fürsten in die Beziehung eintritt. Ein rotes Sofa steht im Zentrum des Salons von Hélène, die Natascha mit ihrem zwielichtigen Bruder Anatol verkuppeln will. Die Porträts der gesamten russischen Geisteswelt sehen wir an den Wänden um ein Foto Prokofjews versammelt in der Wohnung von Achrossimowa, ein kleiner Querverweis auf die Entstehungszeit der Oper. Grotesk komisch ist die Szene im Schönheitssalon (eigentlich eine Gesellschaft bei Hélène), doch werden die Damen nicht frisiert, ein Schönheitschirurg spritzt den Damen Botox. Unter den Botox-Patienten ist auch Anatol, der von seinem Schwager Pierre zur Verantwortung gezogen wird für die versuchte Entführung Nataschas. Mit der Nachricht vom Einmarsch der französischen Truppen ändern sich Handlung und Musik. Die Musik der ersten Szenen ist melodienreich in der Tradition der russischen Opern des 19. Jahrhunderts. Doch mit dem Epigraf, einer kleinen Zwischenszene, verändert sich die musikalische Stimmung aprupt und eine unverkennbare Brutalität bricht in die Oper ein. Es gibt noch mehrere dieser Chorszenen in der Oper, die musikalisch herausstechen. Sie unterbrechen die Handlung und besitzen eine ganz eigene heroische Stimmung. Prokofjew hat sie in einer Überarbeitung eingefügt, da die erste Fassung der Oper als zu wenig heroisch empfunden wurde. Man darf nicht vergessen, dass Prokofjew mitten im Zweiten Weltkrieg an dieser Oper arbeitete, und natürlich sofort die Aktualität des Themas erkannte, schließlich drang gerade wieder eine fremde Armee nach Russland ein. Die heroischen Chöre baute Prokofjew dann wohl ein, dass die kommunistischen Politkader, wenn sie beim entsprechenden Fortissimo aus ihrem Opernschlaf erwachend einen nationalistisch-heroischen Pathos hören konnten.

Nach dem stilisierten Salonstil des ersten Teils setzt die Produktion nach der Pause auf eindrückliche Bilder, die Grauen und Brutalität des Kriegs illustrieren, effektvoll ausgeleuchtet von Kai Luczak. In der Schlacht von Borodino ist es eine Art unterirdischer Gang, in dem die Sanitäter gebückt herumgehen – auf der Höhe Andrej, der dort schließlich angeschossen wird. Die Szene mit Napoleon gestaltet Regisseur Jens-Daniel Herzog als Karikatur, als Unterhaltungsprogramm, mit dem sich die russischen Soldaten im Gefecht zu ermuntern versuchen. Herrlich die Karotten und das Grünzeug zur Dekoration der Generalsuniform. In der Moskau-Szene sind die französischen Soldaten als marodierende Ungeheuer dargestellt, die schließlich mit dem gefangenen Pierre den Rückzug antreten. Der wird schließlich von Partisanen gerettet, die die französischen Soldaten im Schneegestöber bis auf die Unterhosen sich ausziehen lassen.

Dieser Pierre oder Piotr Besuchow ist die wichtige Tenorpartie der Oper, eine Rolle die sich durch die gesamte Oper zieht. Zurab Zurabishvili verkörpert Pierre als durchaus etwas tolpatischen, am Anfang auch naiven Intellektuellen, der nicht so richtig in diese Gesellschaft passt und auf Sinnsuche ist. Für das Liebespaar Natascha und Andrej hat die Oper nur zwei gemeinsame Szenen, die Tanzszene am Anfang und die große Duettszene kurz vor dem Ende, wenn Natascha den Verwundeten pflegt und sie beide sich an den Walzer erinnern. Beide Sänger sind als erkältet angekündigt, was man ihnen nicht anmerkt. Eleonore Marguerre spielt Natascha zart und mädchenhaft. Fast schwebend bewegt sie sich am Anfang über die Bühne und singt betörend schön. Kammersänger Jochen Kupfer singt mit fester Stimme und großem Stimmvermögen den Fürsten Andrej. Er mimt ihn als steifen Offizier. Ein tyrannischer alter Fürst ist Nicolai Karnolsky, der die Verlobte seines Sohns in der Unterhose empfängt und brüskiert. Einen devoten Trottel macht Karnolsky aus dem General Belliard. Altjüngferlich Almerija Delic als Marija Bolkonski. Streng gouvernantenhaft Martina Dike als Achrossimowa. Frivol gibt sich Irina Maltseva als Hélène. Ein schleimiger Zuhälterverschnitt Tadeusz Szlenkier als Anatol. Markant Sangmin Lee als Napoleon. Überhaupt sind die tiefen Stimmen gut besetzt in dieser Oper, etwa Alexey Birkus als Kutusow. Insgesamt hat man eine sehr gute Besetzung zusammenbekommen. Und das heißt etwas, bei dieser enormen Rollenliste. Darum müssen manche Sänger auch drei der kleinen Rollen übernehmen. Sehr gut einstudiert hat Tarmo Vaask Chor und Extrachor des Staatstheaters Nürnberg. Die neue Generalmusikdirektorin Joana Mallwitz leitete die Premiere. In der besuchten Vorstellung ist es Björn Huestege, der mit der Staatsphilharmonie Nürnberg die unterschiedlichen Klangbilder der Oper effektvoll herausbildet. Sei es die melodisch dahinplätschernde Walzer, seien es die brutalen Fortissimostellen des zweiten Teils. Großer und langer Beifall des Publikums am Ende.

Besuchte Vorstellung: 1. November 2018
(Premiere: 30. September 2018)
Opernhaus Nürnberg 

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Vor der Oper: das historische Café Rommel in Erfurt

Skandal: Enrico Caruso und die spektakuläre Trennung von Ada Giachetti

Buchbesprechung: Paul Abraham, der tragische König der Operette – eine Biographie von Klaus Waller