Buchbesprechung: „Seltsam, abenteuerlich und unbeschreiblich verschwenderisch" – Aufsatzband über den Beginn der Neugotik

Warum baut man im 18. Jahrhundert plötzlich wieder gotisch? 

– Ein Aufsatzband über den Beginn der Neugotik um 1800 in England, Potsdam, Weimar und Dessau-Wörlitz – 

von Klaus J. Loderer

„Seltsam, abenteuerlich und unbeschreiblich verschwenderisch“ fand August von Rode das 1773 bis 1774 errichtete Gotische Haus im Wörlitzer Park. Man merkt seinen Führern durch den Wörlitzer Park an, dass er dieser Architektur zuerst einmal nichts abgewinnen konnte. Erst 1818 verfasste er eine eigenständige Beschreibung: „Das gothische Haus zu Wörlitz“. Wie man das Aufkommen neogotischer Gebäude in Deutschland aufnahm aber auch, welchen Eindruck die Bauherren mit neugotischen Gebäuden erzielen wollten, mit solchen Fragen befasste sich eine Tagung in Wörlitz, deren Ergebnisse später als Tagungsband veröffentlicht wurden. Veranstalter war 2012 die Dessau-Wörlitz-Kommission der Martin-Luther-Universität in Zusammenarbeit mit der Kulturstiftung Dessau-Wörlitz und der Gesellschaft der Freunde des Dessau-Wörlitzer Gartenreichs.

Die zentralen Aufsätze des von Heinrich Dilly und Barry Murnane herausgegebenen Tagungsbands befassen sich mit dem Gotischen Haus in Wörlitz und Fragen zum Fürstentum Anhalt-Dessau. Andreas Erb stellt dann gleich die provokante Frage, ob es sich beim Staat des Fürsten Leopold III. Friedrich Franz um einen aufgeklärten Musterstaat oder vielleicht doch nur um eine Miniaturdespotie handelte. Gerade dieser Fürst wird ja immer gerne als Musterbeispiel des aufgeklärten Fürsten verklärt. Aber kann ein Fürst, der Züchtigungen von Untertanen durchaus persönlich durchführte, wirklich so genannt werden? Erb gräbt eine von Georg Friedrich Rebmann beschriebene nette Anekdote aus, die ein ganz anderes Bild auf den Fürsten wirft. Auch Michael Niedermeier und Annette Dorgerloh gehen die Sache mal nicht von der üblichen Rezeption der Wörlitzer Gärten an, die üblicherweise aus der Perspektive des aufgeklärten Bürgertums betrachtet werden. Sie interessiert das Gotische Haus unter dem Aspekt der genealogischen Selbstdarstellung und daraus erfolgender Legitimation der fürstlichen Familie und kommen dadurch zu interessanten Ergebnissen. Warum ein weiteres neogotisches Bauwerk, die Haideburg, üblicherweise von der Kunstgeschichte geradezu verschwiegen wird, obwohl es sich um ein frühes und interessantes Beispiel einer künstlichen Ruine handelt, dem geht Heinrich Dilly nach. Er fragt sich, ob man nicht schamhaft verschweigen möchte, dass in Anhalt-Dessau noch ziemlich lang Treibjagden veranstaltet wurden. Inwiefern man die Neugotik als denkmalpflegerischen Akt sehen kann, untersucht Reinhard Melzer.

Natürlich kommt ein Band dieser Art nicht umhin, den Blick nach England zu lenken und das Gothic Revival dort zu betrachten. Michael Snodin stellt Horace Walpoles bemerkenswertes Landhaus Strawberry Hill vor. Wie später das Gotische Haus in Wörlitz diente ja auch Strawberry Hill zur Aufnahme einer großen Sammlung von Kunst- und Kunstgewerbe aus Mittelalter und Renaissance. Die weiteren Aufsätze befassen sich der Produktion aus Ausstattungsobjekten anhand der Plastik (Petra Rau), gotische Ruinen (Annette Graczyk) und die Kirche in Riesigk (Hinrich Rademacher). Den Blick über Anhalt hinaus führen die Aufsätze über Neugotik in Weimar (Michael Enterlein) und Neugotik in Preußen (Alfred P. Hagemann).


Heinrich Dilly und Barry Murnane (Hg.)

Seltsam, abenteuerlich und unbeschreiblich verschwenderisch
Gotische Häuser um 1800 in England, Potsdam, Weimar und Dessau-Wörlitz

Mitteldeutscher Verlag Halle (Saale) 2014
ISBN 978-3-95462-322-8
199 S., zahlr. Ill.

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