Premierenkritik: Haydns Oper „Orlando paladino“ im Prinzregententheater (Münchner Opernfestspiele) – 2018

Wenn der Film das Kino zerlegt 

– Festspielpremiere der Bayerischen Staatsoper: spannendes Theater bei Joseph Haydns heroisch-komischer Oper „Orlando paladino“ im Prinzregententheater München – 

von Klaus J. Loderer

Wie ein Film auf ein Kino übergreift und es letztlich geradezu einsaugt, kann man in witziger Weise in der Neuproduktion von Joseph Haydns „Orlando paladino“ sehen, die im Rahmen der Münchner Opernfestspiele der Bayerischen Staatsoper im Prinzregententheater in München Premiere hatte. Regisseur Axel Ranisch hat die schon im Libretto von Nunziato Porta verwickelte Handlung noch etwas komplizierter gemacht und um zwei weitere Personen ergänzt, über die sich gewissermaßen die Opernhandlung ergießt. Es handelt sich zwar eigentlich um ein Ritterstück nach Ariosts „Orlando furioso“ (Der rasende Roland), das zur Zeit Karls des Großen spielt, doch ist bei Haydns „Orlando paladino“ (Ritter Roland) die Gattungsbezeichnung eroico (heroisch) noch um ein comico (komisch) erweitert, weswegen es schon in der Oper nicht dauerhaft ernsthaft zugeht sondern zuweilen recht komisch. Dass die Besetzung geradezu weltumspannend ist – eine chinesische Königin, die einen Sarazenen-Kämpfer liebt, auf den ein fränkischer Ritter eifersüchtig ist, der von einem Berberfürsten zum Kampf gefordert wird, die nun irgendwo aufeinandertreffen, das ist geradezu eine Steilvorlage für den phantasiebegabten Regisseur, das Stück zu überzeichnen. So erleben wir eine Ausstattungsoper ungewöhnlicher Art. Und vom Ritter bis zum orientalischen Fürsten sehen wir alles. Das passt sowieso gut, hat man doch überhaupt den Eindruck, dass der Auftraggeber von damals, Fürst Esterházy, bei den vielen Szenenwechseln hauptsächlich daran interessiert war, dass möglichst viele Bühnenbilder in seinem privaten Opernhaus gezeigt wurden. Dazu hat Haydn seinem Chef eine effektvolle Musik geschrieben. Und die hat Dirigent Ivor Bolton mit dem Münchner Kammerorchester fein und kurzweilig erarbeitet und zeigt damit, dass Haydns Musik durchaus nicht langweilig ist. Und eine erstklassige Sängerriege sorgt für Freude.

Wir gehen ins Kino

Ein Filmplakat mit der Ankündigung „Medoro und Angelica“ stimmt uns im Prinzregententheater während der Ouverture auf die Oper ein. Schon wieder Oper als Schwarzweißfilm gähnt man da etwas, denn Medoro und Angelica sind natürlich zwei Hauptpersonen der Oper, genauer gesagt das Liebespaar. Doch es kommt besser. Viel besser. Denn der Film während der Ouverture hat erst einmal nichts mit der Oper zu tun. Wir sehen im Film ein Kino in München, es ist das Neue Rex-Kino in Laim. Familie Herz trifft sich davor und geht ins Kino. Schnell erkennen wir, dass Gabi und Heiko Herz, gespielt in stummen Rollen von den Schauspielern Gabi Herz und Heiko Pinkowski, die Kinobetreiber sind, ein glückliches Ehepaar – zumindest vor dem Kino. Innen vergnügt sich Gabi dann mit dem Hausmeister Licone (Guy de Mey) während Heiko sich im Vorführraum mit einem Fotokalender seines Lieblingsfilmstars Rodolfo Rodomonte einen abrubbelt. Detailversessen lässt der Regisseur ihn später das Taschentüchlein zum Abwischen der Selbstbefleckung versehentlich noch einmal aus der Hosentasche wurschteln. Das Publikum kichert erkennend. Und auch der Fotokalender taucht als Corpus Delicti noch öfters auf. Man kann ihn übrigens am Programmheftestand erwerben. Das Töchterchen schüttelt über ihre Eltern nur den Kopf. Eurilla putzt den Flur und ist dann in echt auf der Bühne zu sehen.

Münchner Opernfestspiele: Haydns „Orlando paladino“ im Prinzregententheater:
Adela Zaharia als Angelica

Foto: © Wilfried Hösl

Bühnenbildner Falko Herold hat uns das Foyer eines Kinos nachgebaut. Links die Kasse, rechts die Bar, wohl Motive aus dem echten Rex. In der Mitte zwei Durchgänge mit großen Porträts von Medoro und Angelica darüber. Alles etwas altmodisch und gemütlich. Mit ganz normalen Leuten. Noch. Denn während Eurilla putzt und die Besucher zum Film kommen (drei an der Zahl!), platzt plötzlich ein aufgeregter Mann im gelben Anzug herein, der Licone niedermacht und alle mit Eurillas Wischmob bedroht. Der Wüterich ist Rodomonte (ausdrucksstark der französische Bass-Bariton Edwin Crossley-Mercer) auf der Suche nach Orlando. Aus der schicken Einkaufstüte packt Heiko Kettenhemd und Gürtel aus und staunt über die Tätowierung eines Vogelschädels auf der muskulösen Brust von Rodomonte (Teile des Publikums seufzen). Das Motiv taucht in der Inszenierung immer wieder auf. Man hat schon erkannt, dass es sich bei dem geschniegelten „Ritter“ um den Filmhelden aus dem Fotokalender handelt. Mit dem Berberfürst kommt erstmals ein surreales Moment in die Inszenierung. Dass er an Rodolfo Valentino erinnern soll, ist eines der vielen kleinen Zitate, die der Regisseur immer wieder einbaut.

Dann schieben sich die Seitenwände auseinander und wir landen im Kinosaal. Eine Bühne, flankiert von zwei mit Vorhängen versehenen Türen, eine Kinobestuhlung, in der nun die drei Besucher Platz nehmen. Der Film fängt an: „Medoro und Angelica“, mit dem Untertitel „Ein sehr guter Film“, womit Axel Ranisch auf seine Produktionsfirma „Sehr gute Filme“ anspielt. Doch es bleibt keine normale Kinoaufführung, denn schon bald greift der Film auf das Kino über. Die Film-Angelica schmachtet nicht nur im Film dekorativ in wallender Robe (Kostüme Falko Herold) sondern tritt aus dem Film hervor und spaziert parallel leibhaftig über die Kinobühne, sie muß ja singen. Und das tut die aus Rumänien stammende Sopranistin Adela Zaharia überaus eindrucksvoll. Ein wunderbarer Ausdruck und eindrucksvolle Koloraturen sind ihr eigen.

Doch dann das Unglück. Der Film schmort durch. Feuerzauber. Auftritt Alicina in geradezu barocker Theatralik. Die brave Tochter hat sich in eine Gothic-Zauberin verwandelt und Tara Erraught mischt nun eifrig mit. Und das tut die irische Mezzosopranistin mit viel Leidenschaft und einem Schuss Ironie und einer ausdrucksvollen Stimme. Als verzweifelter Filmvorführer mit Filmspule und zerrupftem Film wuselt auch Heiko herum. Zu allem Unglück malt der auch aus dem Film herausgetretene Medoro (mit sensiblem Tenor, feiner Stimme und schöner Höhe der in Turkmenistan geborene Dovlet Nurgeldiyev) auch noch Herzen auf die Bestuhlung und sinkt dann mit Angelica zum Liebesspiel zwischen den Stuhlreihen nieder. Aber eigentlich will man vor Orlando fliehen, der auch in Angelica verliebt ist und sie verfolgt. Und noch eine eigentümliche Gestalt kommt ins Kino. Er stellt sich als Orlandos hungriger Knappe Pasquale vor, der sich sofort in Eurilla verliebt.

Der Film scheint nicht zu retten aber die Filmpersonen ergreifen so nach und nach völlig vom Kino Besitz. Heiko versucht den Film wieder zusammenzusetzen, doch bringt er die Filmschnipsel eher noch mehr durcheinander – und damit auch die Handlung. Und dann wähnt man das ausufernde Chaos sich im Zuschauerraum ausbreiten. Aber das ist dann doch nicht inszeniert, sondern nur ein etwas komplizierter Notarzteinsatz mit lauten Diskussionen, weswegen die Premiere für ein paar Minuten unterbrochen wird. Dann darf Pasquale weiter mit Eurilla flirten. Der amerikanische Tenor David Portillo liefert für diese Vorwegnahme von Leporello und Papageno ein paar köstliche Kabinettstückchen, wofür er großen Beifall bekommt. Es ist doch schön, wenn es auch mal im Opernhaus einen Fanblock gibt. Hier darf der Diener übrigens noch in der hohen Stimmlage glänzen. Die thematischen Nachfolger an ängstlichen Dienern sind stimmlich zumeist tiefer angesiedelt. Und glänzen kann David Portillo. Später wird Pasquale Eurilla, um sie zur Ehe zu bewegen, angeberisch überzeugen, dass er bessere Töne hervorbringt, als jedes Instrument des Orchesters. Da hat Haydn eine nette Musikschule gemacht und Davids Musiklehrstunde für Stolzing vorweggenommen.

Aber es droht noch der rasende Roland, äh Orlando. Der kommt auch bald, entdeckt die aufgemalten Herzen, bekommt sogleich einen heftigen Eifersuchtsanfall und sprengt sogleich die Popcornmaschine. Leider intoniert der Tenor Mathias Vidal in der Premiere nicht so ganz überzeugend. Die Verwüstung nimmt kein Ende.

Auch Helden können schwul sein

Später gehen Gabi und Heike in den Trümmern ihres verwüsteten Kinos umher, in dem sogar ein totes Pferd auf dem Boden liegt. Die Baumkulisse des Films hat sich im Kinosaal ausgebreitet. Doch gerät nun Heiko seinerseits in einen Film, indem er im Wald Rodomonte bei der Brotzeit kapert. Heiko führt nun Orlando und Rodomonte zusammen, damit sie sich versöhnen sollen. Dafür denkt er sich eine zärtliche Annäherung aus, doch Orlando weist diesen homerotischen Flirtversuch brüsk zurück. Auch Alcinas Raben können Orlando nicht bremsen (Ein Ballett mit Vogelschädeln). Urkomisch allerdings Orlandos Verwandlung in einen Stein. Dass Alcina dann sogar den Fährmann der Unterwelt (François Lis als Caronte) bemüht, hat wohl die Inspiration gegeben, Orlando nicht einen Vergessenstrank zu geben sondern ihn zu töten. In München reicht Medoro Rodomonte einen Dolch, mit dem dieser Orlando ersticht. Sehr anrührend ist die folgende Pietà-Szene.

Doch dann weiß wohl auch Axel Ranisch nicht mehr, wie er aus diesem Schlamassel rausfindet. Also werden schnell die Paare arrangiert: Medoro mit Angelica, Pasquale mit Eurilla. Und Heiko bekommt seinen angebeteten Rodomonte. Er outet sich unfreiwillig, als er Rodomonte umarmt und dessen auf die Brust aufgemalter Vogelschädel abfärbt und seine Frau dann staunt. Aber die hat ja ihren Lover Locone. Und Orlando lebt auch wieder. Aber eigentlich muss Medoro noch sterben. Und dann gibt es wieder Kino. Jetzt würde man sinnvollerweise den Kinosaal wieder benötigen, aber der lässt sich wohl so schnell nicht wieder zusammenbasteln. Also fährt von oben eine Leinwand herunter und darauf gibt es dann den „Director’s Cut“, an dem Heiko die ganze Zeit geschnippelt hat. Und die Sänger sitzen davor und gucken und stehen auf, wenn sie etwas singen müssen. Und wir schauen die Szene mit den Ungeheuern, den Tod Medoros und den Selbstmord Angelicas im Schwarz-weiß-Film an. Und dann freuen sich alle über die gelungene Filmpremiere. Und die Oper plätschert irgendwie aus.

Der größte Teil des Publikums zeigt sich begeistert, bejubelt die Sänger, das Ballett, Orchester und Dirigat und das Produktionsteam. Letzteres bekommt aber auch ein paar scharfe Buhs. Wie meint meine unbekannte Sitznachbarin dann trotzig: „Dem Haydn hätte das gefallen!“

Der hat die Oper eigentlich für den dann doch nicht erfolgten Besuch des russischen Großfürsten Paul und seiner Gattin Maria Fjodorowna in Eszterháza komponiert. Im Park seines Schlosses im heutigen Ort Fertöd in Westungarn betrieb Fürst Nikolaus Esterházy, genannt der Prachtliebende, ein Opernhaus und ein Puppentheater. Im Gegensatz zum Schloss stehen die Theater nicht mehr. „Orlando Paladino“ wurde dann anlässlich des Besuchs von Kaiser Joseph II. am 6. Dezember 1782 zum Namenstag des Fürsten aufgeführt. Angeblich sollen weitere 30 Vorstellungen in Esterháza gefolgt sein. Danach ging die Oper quer durch Europa. Haydn stand 30 Jahre, von 1761 bis 1790, im Dienst der Esterházy. Dass in der Oper alle möglichen Exotismen eingearbeitet waren, hat Fürst Nikolaus sicher gut gefallen, denn damit entsprachen die Bühnenbilder genau der im 18. Jahrhundert so modernen pseudochinesischen Innenausstattung, die das Schloss in üppiger Fülle bot. Und chinesische Fürstinnen gab es auf den Wänden ebenso zu sehen wie orientalische Helden in Phantasielandschaften, und das alles dekoriert mit echten und nachgemachten chinesischen Vasen.


Besuchte Vorstellung: Premiere am 23. Juli 2018
Prinzregententheater München

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