Undankbare Biester – München – 2011
Undankbare Biester
Beklemmendes Opernprojekt von Árpád Schilling und Márton Gulyás in München
Der auf dem Marstallplatz in München errichtete bizarre
Pavillon 21 war während der Opernfestspiele Schauplatz für eine Produktion des
ungarischen Theaterkollektivs »Krétakör« (Kreidekreis). Diese Formation unter
der Leitung von Árpád Schilling hat immer wieder mit spektakulären Aufführungen
auf sich aufmerksam gemacht. Nun trat man mit einer Art Kammeroper hervor, die
am 19. Juli uraufgeführt wurde. Man könnte auch von einem surrealen Spiel mit
Musik sprechen. Die surreale Wirkung verstärkte noch der Umstand, dass man auf
jegliche Art von Bühnenbild verzichtete und einfach den ganzen Raum bespielte.
So wurde der Publikumsbereich mit einbezogen, es entstanden aber auch
interessante akustische Effekte, etwa wenn sich eine Sängerin hinter dem Publikum
befand.
Der Beginn der Handlung könnte aus einem amerikanischen
Krimi stammen: der mehrfache Kindermörder Ádám soll vom Psychiater Dr. Gyula
Gát begutachtet werden. Im Film würde man nun in Rückblenden die Kinder und die
Umstände ihrer Ermordung kennenlernen. Natürlich könnte man in der Oper auch
Filme einspielen. Doch auf diese banale Idee sind Árpád Schilling, Textdichter
Gábor Schein und Regisseur Márton Gulyás nicht verfallen. Vielmehr tauchen
durch die völlige Auflösung der Zeitlichkeit im Stück die Kinder in der
Handlung auf, die sich durch »Auftrittsarien« selbst vorstellen. Diese
»Auftrittsarien« wurden vom Komponisten Marcell Dargay, der auch die
musikalische Leitung hatte, in musikalisch völlig unterschiedlichem Charakter
und Stil gestaltet. Da versucht die frühreife Anna mit Bar-Tanzmusik zu
verführen. Gabrielle singt in einer geradezu barocken Arie vom Wind –
allerdings beschreibt sie ihre Magersucht. Wir lernen die Kinder dabei in
unterschiedlichen Konstellationen kennen: in Bezug zu anderen Kindern, zu ihrer
Familie oder zu Dr. Gát und wir hören von ihren Schicksalen als
Missbrauchsopfern.
Es schält sich heraus, dass die fünf ermordeten Kinder
Patienten von Dr. Gát waren. Mehr und mehr verändern sich die Positionen im
Stück. Ist Gát am Anfang noch der kühle Psychiater, der Ádám untersucht, wird
dieser mehr und mehr zum Ankläger, der Gát vorwirft in der Behandlung der
Kinder versagt zu haben. Aus den Erzählungen der Kinder erfahren wir parallel,
dass Gát mit der Behandlung tatsächlich völlig überfordert war. Gát will das
aber nicht wahrhaben und verschanzt sich hinter Gesetzen und
Behandlungsmöglichkeiten, die es ihm nicht ermöglicht hätten die Kinder zu
retten. Ádám argumentiert gar, dass letztendlich er die schwer durch
Misshandlungen traumatisierten Kinder gerettet habe, indem er sie ermordet
habe. Nur indirekt erahnen wir, wie Familien, Umgebung und Ämter versagten.
Wir erfahren in der Rahmenhandlung, dass Gát in seiner
eigenen Familie auch versagte. Er verweigert der psychisch-kranken (oder von
ihm eben so diagnostizierten) Mutter den Kontakt zum gemeinsamen Sohn Balázs.
Diese gescheiterte Familie, Gyula, Lilla und Balázs, steht im Mittelpunkt der
Trilogie Crisis, deren drei Teile in diesem Jahr in Budapest, München und Prag
uraufgeführt werden. Jeder Teil ist dabei einem anderen Familienmitglied
gewidmet.
Der Text von Gábor Schein bleibt teilweise in Andeutungen,
befriedigt die Voyeure nicht mit Details und ergießt sich in einer teilweise
blumigen Lyrik voller Metaphern. Darüber hat Marcell Dargay, der in der
Produktion auch selbst am Flügel spielte, eine unaufgeregte aber auch
vielschichtige Musik gelegt, die immer wieder die beklemmenden Situationen
prägnant herausarbeitete und dabei oft mit einfachen Mitteln wirkungsvolle
Effekte erreichte. Was die musikalische Leitung anbelangt, führte Regisseur
Márton Gulyás das Publikum zu Beginn mit einem netten Gag völlig in die Irre.
Der die Einsätze gebende Dirigent entpuppte sich nämlich dann überraschend als
Ádám. Doch der Zuschauer immer wieder das Gefühl bekommt, dass es eben doch
dieser ist, der die Fäden des Stücks zusammenhält und die Mitwirkenden
dirigiert. Das tut er dann auch immer wieder, etwa wenn er die Kinder in die
Handlung wirft. Als kalten Zyniker erleben wir den Tenor Zoltán Megyesi in der
Rolle des Ádám. Diese Rolle kontrastiert schon allein in der Stimmlage durch
den Bass István Kovács als Dr. Gát. Als Ehefrau erleben wir die Altistin
Annamária Kovács. Die Rolle des Balázs spielte der Schauspieler László Fehér.
Den Kern der sieben Musiker bildete das Accord Quartet. Im Zentrum standen aber
die fünf Kinder Ráchel Kovács, Sára Goda, Luca Bojtos, Jonatán Kovács und
Dominika Horváth.
Ein beklemmender Abend, für Teile des Publikums wohl zu
beklemmend. Dabei nahm die Spannung im Verlauf deutlich zu, was dann all jene
verpassten, die vorzeitig aus dem Saal stapften.
Klaus
J. Loderer
Besuchte Vorstellung: 23. Juli 2011
Pavillon 21 München
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