Premierenkritik: Meyerbeers Grand Opéra „Le Prophète“ – Deutsche Oper Berlin – 2017
König der Vorstadt
Deutsche Oper Berlin vollendet mit „Le Prophète“ (Der Prophet) in einer Inszenierung von Olivier Py ihren Meyerbeer-Zyklus
von Klaus J. Loderer
Ein graues Vorstadtviertel einer Großstadt bildet den Rahmen für die Neuinszenierung von Giacomo Meyerbeers Grand Opéra „Le Prophète“ (Der Prophet). Pierre-André Weitz (Bühnenbild und Kostüme) und Olivier Py (Regie) zeigen uns eine öde steinerne Welt, vielleicht ein Ban-lieu von Paris. Es ist aber auch die Ästhetik der dadaistischen Collagen „Großstadt“ und „Metropolis“ von Paul Citroen der frühen 1920er Jahre – die Inszenierung chanchiert immer wieder zwischen verschiedenen Phasen des 20. Jahrhunderts. Wir sehen im Laufe der mit Pausen viereinhälbstündigen Oper eine endlose Folge immer wieder neuer öde steinerne Häuserfronten. Farbe gibt es in dieser düsteren Welt nur in den Werbeplakaten.
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Gregory Kunde in „Le Prophète“ von Giacomo Meyerbeer, Premiere am 26. November 2017, Deutsche Oper Berlin
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Farbikschornsteine qualmen über der Stadt. Eine unterdrückte
Arbeiterschaft duckt sich hier. Vergnügen gibt es nur in der Gaststätte von
Jean, gewissermaßen eine Schlagerparty. Und eine ganz eigene Party machen dann
die randalierenden Schergen im dritten Akt. Selbst die Krönung des
Prophetenkönigs findet in einer Fabrikhalle statt.
Dieses Konzept quittiert das Publikum dann am Ende der
Premiere nicht gerade begeistert. Es ist jedenfalls nicht Münster in Westfalen,
was man dem Publikum vorsetzt, was der eigentliche Schauplatz dieser Oper ist.
Und wir sehen auch keine Kostüme des frühen 16. Jahrhunderts, was der
Handlungszeitraum der Oper ist.
Der Librettist Eugène Scribe hat eine historische
Begebenheit aufgegriffen, die Geschichte der Täufer von Münster. Dort hängen am
Turm der Kirche St. Lambertus noch heute Käfige, in denen man nach der
Niederschlagung der Täuferbewegung die Leichen einiger Täufer den Vögeln zum
Fraß ausgeliefert hat – darunter Johann Bockelson (in der Oper Jan von Leiden
oder französisch Jean de Leyde). Die Bewegung der Täufer oder Wiedertäufer (Anabaptisten)
– man erkannte die Kindertaufe nicht an und wiederholte die Taufe bei
Erwachsenen – ist eine Randerscheinung der Reformation, weswegen die Produktion
von „Le Prophète“ auch ein Beitrag zum Lutherjahr 500 Jahre Reformation ist. Die
Täufer waren aber keine rein theologische Bewegung sondern hatten auch eine
stark soziale Prägung.
In der Oper schließt sich der Gastwirt Jean den Täufern an,
nachdem der Graf Oberthal ihm die Braut Berthe verweigert. Aus den Fängen des
Grafen kann sie zwar fliehen, doch ihr Versuch sich bei Jean zu verstecken,
scheitert, als der Graf mit der Ermordung von Jeans Mutter Fidès droht. Mit den
militärischen Erfolgen der Täufer kann er sich an den Herren rächen. Ein
eigener Akt ist der Belagerung Münsters gewidmet. Eine wichtige Rolle spielt
noch Jeans Mutter Fidès. Genau im Moment der Krönung Jeans zum Prophetenkönig,
wenn er dem Volk gar als Sohn Gottes vorgeführt wird, taucht Fidès wieder auf.
Fidès erklärt er kurzerhand für verrückt. Da Jean dann doch ein schlechtes
Gewissen plagt, besucht er seine Mutter im Gefängnis, die ihm dann heftig den
Kopf wäscht. Auch Berthe taucht da übrigens auf: sie will den Prophetenkönig
töten, weil der ihren Jean getötet haben soll. Die Täufer haben inzwischen die
Seiten gewechselt und mit Graf Oberthal über eine Auslieferung des Propheten
verhandelt. Jean und seine Mutter sprengen am Ende die Festgesellschaft in die
Luft.
In der Berliner Inszenierung ist Graf Oberthal ein korrupter
Politiker, der seine Macht mit brutaler Gewalt festigt und erhält – die
Ballettherren bilden hier seine Entourage. Arrogant steht er auf dem
Soufleurkasten – übrigens als Grabstein für Jean de Leyde gestaltet – und lässt
sich von einer putzenden Untergebenen, Berthe, den Kaffee reichen und die
Schuhe polieren. Den Nachsstellungen eines seiner Security kann sich Berthe
noch entziehen, Oberthal selbst aber nicht. Ihre Heiratsidee lehnt er brüsk ab
und vergewaltigt sie dann auch gleich in seinem schwarzen Mercedes.
Die Erzählung des Wirts Jeans von seinem Traum, in dem er
als König gekrönt wir, illustrieren seine Kellern mit der entsprechenden
szenischen Darstellung der Krönung vor einer als Baldachin dienenden roten
Tischdecke. Die Täufer haben das Bild des Königs David, dem Jean ähnlich sehen
soll, gleich mitgebracht. Die Szene kontrastiert mit der vor Oberthal
fliehenden Berthe. Warum ihr Oberthals Schergen nicht ins Obergeschoß des
Gasthauses folgen, überzeugt in der Inszenierung nicht so richtig. Jean steht
da nur betreten herum und liefert Berthe dann schließlich aus. Als er sich den
Täufern anschließt, nimmt er von der Mutter keinen Abschied, aber den Hofhund
erschießt er noch. Lang anhaltender Beifall nach dem zweiten Akt.
Im dritten Akt sind die Verhältnisse verändert. Halbnackte
Soldaten in Flecktarnkampfmonturen wollen Gefangene (nach dem Libretto
gefangene junge Adelige) masakrieren. Ein umgekipptes Auto liegt brennend auf
der Bühne. Das Ballett, dessen französischer Name „Les Patineurs“ (Die
Schlittschuhläufer) andeutet, dass die Szene im Winter spielt und man sich nun
auf einem zugefrorenen See tummelt (was man bei der Uraufführung übrigens nicht
mit Schlittschuhen sondern mit Rollschuhen vorgeführt hat), ist in Berlin ein Danse
macabre der Gewalttäigkeit. Mit nacktem Oberkörper tummeln sich die Soldaten in
der Stadt, fressen, rauben, morden, vergewaltigen. Das sehen wir zwar stark
stilisiert – aber eindrücklich. Das einzige, was hier die munteren Tänze tanzt
und hier seine Schlittlaufkreise zieht, ist das Bühnenbild. Das dreht sich in
endlosem Reigen. Das optische Bild ist ein denkbar heftiger Konstrast zu den recht
fröhlichen Tanzmelodien mit den damals populären Modetänzen Walzer, Redowa (so
eine Art gehüpfter Walzer, der ursprünglich aus Tschechien kommt), Quadrille
und Galopp. Gleich nach dem ersten Ballett dann ein Buhsturm aus dem
Zuschauerraum. Als es dann in gleicher Art weitergeht, grummelt es merklich im
Publikum. Dann kommt ein weiteres Thema ins Ballett: übersteigerte Devotion mit
dem Bild des Königs David, das in der Inszenierung nun wieder auftaucht –
später wird es sogar als Plakat an die Wand geklebt. Machtmissbrauch und Gewalt
im Krieg zieht sich als ein Thema durch die Inszenierung. Das ist nicht so weit
hergeholt. Auch die Verführung der Menschen durch „Propheten“ interessiert den
Regisseur. Dabei reduziert er das nicht auf eine religiöse Verführung – damit
hält sich Py in der Inszenierung zurück. Wir sehen die verschiedenen Arten der
Verführung der Massen durch Versprechungen. Seien Versprechungen der Werbung für
Unterwäsche, sei es Reisewerbung für Jerusalem – was man in dem Akt, der vor
der Einnahme Münsters steht, wohl mit einer Hoffnung auf die Eroberung eines
himmlischen Jerusalems gleichstellen kann. Am Anfang ist es das Versprechen
eines sozialen Wandels. Wenn Jean die Soldaten, die gerade noch meutern
wollten, für die Erstürmung von Münster anstachelt, reihen sich die Täufer
unter einem Werbebild auf. Das mag auf den ersten Augenblick kapitalistisch
wirken, doch erinnert das auch an die Aufreihung sozialistischer Despoten bei
Paraden. Insofern gelingen Py immer wieder markante Bilder, dann dümpelt die
Inszenienierung mal wieder so dahin. Auch mit dem Motiv der Wiederholung arbeitet Py. Wurde am Anfang Berthe verwaltet, setzt ein Soldat einer fliehenden nackten Frau hinterher, während sich Jean an Berthe erinnert. Am Anfang wird ein Plakat von Obertal angeklebt und wenig später vom wütenden Volk abgerissen, das geschieht später mit einem Plakat mit König David. Auch im Finale wird ein markantes Motiv wiederholt, wie wir noch sehen werden.
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Gregory Kunde in „Le Prophète“ von Giacomo Meyerbeer
Premiere am 26. November 2017 in der Deutschen Oper Berlin
copyright: Bettina Stöß
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Großer Beifall für das Orchester der Deutschen Oper Berlin
und den Dirigenten Enrique Mazzola vor dem vierten Akt. Die Krönungsszene gerät
dann geradezu grotesk in einer Art Fabrikhalle. Jean wird zuerst geschminkt (also
wie für eine Fernsehshow vorbereitet) und mit einem roten Mantel bekleidet. Zu
was für einem König wird er hier gekrönt? – zu einem König der Vorstadt. Die dann
doch etwas statisch geratene Inszenierung des Prophetenkönigs als überirdischen
Heilsbringer wird durch die wundersamen Heilungen immerhin etwas belebt. Blinde,
Verkrüpelte, Tote, Gelähmte werden hereingetragen und gesunden nach der
Berührung durch den neuen „Messias“. Doch das wird gleich als Betrug entlarvt –
beim Hinausgehen erhalten sie von den Täufern ihr Honorar für die Darbietung.
Statt im Kerker sitzt Fidès im fünften Akt eher in einem Hof
auf einem Bett, von zwei Balletttänzern bewegt wird. Da Berthe von ihrem
Großvater erzählt, der Kastellan in Münster gewesen sei, ist er in Berlin als
Figur eingeführt und begleitet Berthe in dieser Szene. Man kann vermuten, dass
der Koffer, den sie mitschleppen, den erwähnten Sprengstoff enthält.
Inzwischen kippt in der Oper die Situation. Die kaiserlichen
Truppen sind dabei die Stadt einzunehmen. Die Täufer verhandeln mit Oberthal
über die Auslieferung des Propheten und lassen sich von ihm dafür bezahlen. Und dann ist man natürlich gespannt, wie das Finale gelöst
ist. Das Fest im Schloss ist in Berlin zweigeteilt. Auf der Bühneneben feiert
der Chor, verschwommen im Halbdunkel wahrnehmbar. Jean kommt mit seinem Koffer
dazu. Im ersten Stock feiern die Täufer. Olivier Py ließ sich wohl davon
inspirieren, dass die Täufer in Münster die Polygamie eingeführt hatten. Py
macht daraus eine Orgie in einem rot schimmernden Bordell. Darin räkeln sich
die nackten Ballettherren und -damen. Am Ende stürzt Oberthal herein, bedroht
Jean mit einer Pistole, dieser entwendet sie ihm und erschießt sich und fällt
dann auf seinen Grabstein, während Oberthal sich aufrichtet und sich von einer
jungen Damen eine Tasse Kaffee reichen lässt. So stand er auch zu Beginn der
Oper. Die Geschichte kann wieder beginnen. Die alte Obrigkeit ist wieder
eingesetzt. Und für die Bevölkerung macht es keinen Unterschied, welche Art
Terrorherrschaft sie drangsaliert.
Ein Motiv, das sich durch die ganze Inszenierung zieht, ist
der Engel (Pierre Henrion). Mag der muskulöse junge Mann mit nacktem Oberkörper
nun ein echter Engel sein, der Schutzengel Jeans, oder mag er Teil der
Inszenierung des Prophetenkönigs sein, was seine Pappflügel andeuten.
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Großer Beifall für Clementine Margarine
„Le Prophète“ von Giacomo Meyerbeer, Premiere am 26. November 2017 in der Deutschen Oper Berlin
copyright: Bettina Stöß
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Meyerbeer konzipierte „Le Prophète“ mit einer starken
Steigerung der Effekte im Laufe der Oper. Im dritten Akt ist ein Ballett
eingebaut. Den vierten Akt dominiert die Krönungszene im Dom – mit Kinderchor
und Orgel und am Ende dann der Showdown. Auch die Gesangspartien sind
entsprechend aufgebaut. Nun hat der Sänger des Jean noch das Glück, dass seine
Passagen ungefähr gleichmäßig über die Oper verteilt sind. Fidès ist allerdings
eine geradezu mörderische Partie. Sie fängt relativ harmlos an und wirkt zu
Anfang wie eine nebensächliche Rolle. Im vierten und fünften Akt ist Fidès
allerdings fast im Dauereinsatz. Ihr Auftritt bei der Krönung ist dramaturgisch
wichtig. Und dann kommt im fünften Akt eine Abfolge von Arien, das Duett mit
Jean, das Terzett mit Berthe, die der Fidès-Darstellerin keine Minute der
Erholung läßt und das mit sich steigerndem gesanglichen Anspruch. Die Rolle
entwickelt sich zur eigentlichen Hauptrolle und lässt daneben ihren Sohn blaß
darstehen. Entsprechend wird Clémentine Margaine in Berlin am Ende verdientermaßen
für ihre gesanglichen Leistungen und ihre Charakterdarstellung gefeiert. Auch
die Sopranpartie der Berthe ist mit Elena Tsallagova gut besetzt. Gregory Kunde
forciert in den Höhen leider über weite Strecken – schieben wir es einmal auf
die Premierennervosität – und bleibt ziemlich blaß. Dämonisch und stimmsicher Seth
Carico als Oberthal. Derek Welton, Andrew Dickinson und Noel Bouley sind
hervorragende Täufer Zacharie, Jonas und Mathisen. Dazu kommt ein von Jeremy
Bines sehr gut einstudierter Chor. Und auch die musikalische Unterfütterung
durch das Orchester der Deutschen Oper sehr gut. Enrique Mazzola hat sich
inzwischen zum Meyerbeer-Spezialisten entwickelt.
Und wie nimmt das Premierenpublikum die Produktion auf? Am
Ende dann viele Bravos für Gregory Kunde und Elena Tsallagova und ein
Bravosturm für Clémentine Margaine. Allerdings mischten sich in Bravos für
Sänger und Dirigent auch einzelne Buhs. In die vielen Buhs für den Regisseur
platzen dann auch viele Bravos. Bühnenbildner Weitz erschien nicht auf der
Bühne. Dass die Ballettdamen und -herren so viele Buhs kassierten, war nicht
gerechtfertigt, sie waren fast die gesamte Aufführung auf der Bühne und belebten
die gelegentlich durchaus etwas langatmige Inszenierung – und die Buhs galten
wohl auch eher der Choreographie.
Eigentlich schade, daß die Deutsche Oper Berlin ihren Meyerbeer-Zyklus nicht noch etwas ausdehnt. Das würde einem Berliner Opernhaus gut anstehen, zumal Meyerbeer ja in enger biographischer Beziehung zu Berlin steht und ganz in der Nähe geboren wurde. Und jetzt könnte man sich ja auch an die weniger bekannten Opern Meyerbeers machen, denn „Hugenotten“ und „Vasco da Gama“, was bisher als „Die Afrikanerin“ bekannt war, kann man gelegentlich in Opernhäusern sehen, und „Dinorah“ gab es ja nur konzertant. Sein Geburtshaus in Tasdorf, heute ein Ortsteil von Rüdersdorf bei Berlin, wurde übrigens 2013 abgerissen.
Besuchte Vorstellung: Premiere 26. November 2017
Deutsche Oper Berlin
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