Orlando Palladino – Gießen – 2009
Der rasende Roland in der Gruppentherapie
Joseph Haydns Oper »Orlando Paladino« am Stadttheater Gießen
Wie kann dem Menschen geholfen werden, wenn er sich
leer fühlt? 84 Vorschläge macht das Programmheft – von der altbewährten
Schokolade bis zum Nordic Walking. Auf der Bühne gibt es weitere Vorschläge
psychischer Hilfe. So wurde aus der Insel der Zauberin Alcina in Haydns Oper
»Orlando Paladino« in Julia Riegels Inszenierung, die am 14. Februar Premiere
hatte, ein Therapiezentrum, dessen unterschiedliche Abteilungen vom Personal
der Oper genutzt werden. Eine mittelalterliche Ritterszenerie ist also auf der
Bühne des Stadttheater Gießens nicht zu sehen. Stattdessen bietet Bühnen- und
Kostümbildnerin Caroline Neven Du Mont eine mit wenigen Elementen, darunter ein
Gerüst mit Treppen und ein kahler Baum, bestückte karge Drehbühne an, auf der
sich allerhand Gestalten in moderner oder phantastischer Garderobe tummeln. Wir
sind also in einer phantastischen Jetztzeit. Wie schon die Opernvorgabe ein
ziemliches Sammelsurium von Personen ist, haben sich auch Regisseurin Riegel
und Ausstatterin Neven Du Mont mit einer phantasievollen Collage geholfen.
Die Titelfigur Orlando, das ist der Ritter Roland, ein Neffe
Karls des Großen, um den sich ein bedeutendes und zeitweilig überaus populäres
Epos von Ariost handelt, das unter vielfach variierenden Titeln die Grundlage
zu zahlreichen Opern bot. Dass er rasend ist, das merkt man ihm schnell an. Er
hat aus Liebe zur schönen Angelica den Verstand verloren und stört nun mit
seiner Raserei das Liebesidyll (oder vielleicht auch nur Esoterik-Idyll) von
Angelica und Medoro. Dummerweise möchte die Prinzessin nichts von Orlando
wissen und befasst sich in Gießen lieber mit autogenem Training und singt ihr
Seelenleben in die Videokamera.
Da es sich bei der Oper nicht um ein heroisches Drama
sondern um die kuriose Gattung »Dramma eroico-comico« handelt, führt die
Raserei des Helden nicht zu einem Berg von Toten sondern wird die Raserei des
Helden durch Buffopersonal konterkariert. Dazu zählt sein Knappe Pasquale, dem
von seinem nur an Heldentaten interessierten Herrn das Essen vorenthalten wird.
Prosaische Kost erhofft er sich deshalb von Eurilla, das ist die erste Person,
der er in der Oper begegnet. Der Ritter Rodomonte im Fantasy-Kostüm, der auf
einem abstrusen Fantasy-Drachen herumfährt, ist ein weiterer Ritter, der noch
verrückter ist als Orlando. Seine Heldentaten absolviert er mit dem Gameboy.
Diese Personen kommen nun auf Alcinas Insel, pardon im Therapiezentrum,
zusammen und müssen kuriert werden. Dass dies nicht so einfach ist, merkt die
Therapeutin Alcina schnell und muss neben der Gruppentherapie auch noch
Zauberkräfte und ihre vier »Ungeheuer« einsetzen, wenn die Patienten gar zu
therapieunwillig sind. Als therapieresistent erweist sich Orlando, der erst an
den Ufern des Styx durch den Fährmann Caronte kuriert wird.
Henrietta Hugenholtz in der Rolle der Alcina ist der
sängerische Höhepunkt des Abends. Ihr klarer und geschmeidiger Mezzosopran
verleiht der Rolle einen bemerkenswerten Wohlklang. Sicher in der Höhe und mit
solider Tiefe verleiht sie der Rolle einen bemerkenswerten Tiefgang. Leider
lassen bei Petra van der Mieden als Angelica trotz einfühlsamer
Rollengestaltung die Koloraturen etwas zu wünschen übrig. Als introvertierter
Jüngling gibt sich der Medoro des Tenors John Carlo Pierce. Ralf Simon meistert
die Tenorpartie des Orlando mit sicherer Höhe und vermeidet durch Konzentration
auf die Psyche des Helden in den »rasenden« Szenen hysterisches Gehabe. In der
kleinen Rolle des Licone ist kurz der Tenor Thomas Stückemann zu sehen. Auch
die tiefen Partien gewinnen durch gute Sänger an Gestalt: hier ist Matthias
Ludwig als Rodomonte und Tomi Wendt als Caronte zu nennen. Simone Schwark gibt
die Eurilla als klassische Zofenrolle.
In der Vorstellung vom 8. März übernahm Roland Schmiedel die
Leitung des Philharmonischen Orchesters Gießen, das von Generalmusikdirektor
Carlos Spierer für die Premiere einstudiert worden war. Dass teilweise gewisse
Ähnlichkeiten mit Mozart in der Partitur vorhanden sind, ist unverkennbar.
Scheinbar zufällig verfällt das Orchester auch an zwei Stellen in bekannte
Mozart-Melodien, was vom Dirigenten nicht ungescholten bleibt. In enge
Interaktion mit dem Orchester tritt August Schram als Pasquale, wenn er Eurilla
von seinen sängerischen Fähigkeiten überzeugen möchte. Hier kann sich Schram
als fähiger Sänger und witziger Buffo präsentieren. Das Publikum dankte mit
Gelächter und Beifall für dieses köstliche Kabinettstückchen.
Klaus J. Loderer
Besuchte Vorstellung: 8. März 2009
Stadttheater Gießen
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