Fürst Igor – Amsterdam – 2017
Tanz im Mohnblumenfeld
Dmitri Tcherniakov inszeniert eindrucksvoll Borodins Oper „Fürst Igor“ in Amsterdam
Nun schon wieder ein Kriegszerstörungsbühnenbild.
Das letzte Bild der Oper „Fürst Igor“ von Alexander Borodin in der
spektakulären Inszenierung von Dmitri Tcherniakov an der Nationaloper Amsterdam
zeigt tatsächlich diesen zertrümmerten Saal, dessen Zerstörung man eine Szene
vorher auch dramatisch miterlebt. Zumindest tut es einen Knall und Sachen
fliegen von der Decke. Da ich sonst
immer so krittelig bin, will ich natürlich auch hier fragen, wie es eigentlich
sein kann, dass wenn der Saal keine Decke sondern einen offenen Dachstuhl hat,
irgendwelche Klamotten aus dem eigentlich nicht vorhandenen Dachboden
herunterfallen können. Aber der Angriff der Polowetzer auf die Stadt Putywl
wird so wirklich jedem im Zuschauerraum deutlich. Bis dahin sieht der Saal auch
viel schöner aus, eben ein großer Saal mit vielen seitlichen Türen, durch die
die Chor-, Ballett- und Solistenmassen schnell herein- und hinauskommen. Eine
Empore umzieht den Saal im ersten Stock – beim Auszug der Soldaten für die
Frauen – und romanische Fenster belichten den Raum, Oben ein offener Dachstuhl.
Doch zurück an den Anfang der Oper.
Dieser Fürst Igor ist ja ein
ziemlich unsympathischer Kerl. Er will gegen jeglichen Rat unbedingt in einen
Krieg ziehen, der nicht nur unendlich viel Leid bringt sondern sein Reich an
den Abgrund des Verderbens bringt. Handlungsort ist die russische Stadt Putywl
in der heutigen Ukraine. Berühmt ist die Oper vor allem durch die Polowetzer
Tänze. Die Polowzer, die auch als Kumanen bezeichnet werden, fielen im 11. und
12. Jahrhundert in die Ukraine und auf den Balkan ein und sollen ursprünglich
vom Irtysch stammen. Für Fürst Igor sind sie jedenfalls eine Bedrohung seinen
Fürstentums, wie man im ersten Akt erfährt. Die Inszenierung von Dmitri
Tcherniakov versetzt die Handlung aus dem Mittelalter ins frühe 20.
Jahrhundert. Nach den Uniformen könnten es russische Soldaten sein, die in den
Ersten Weltkrieg ziehen, die man im ersten Akt in Reih und Glied aufgestellt
sieht und die sich von ihren Familien verabschieden. Der eigentliche Feldzug
kommt in der Oper nicht vor, man erfährt nur aus den Wehklagen Igors, dass der
Feldzug ein ziemliches Desaster war. Diese Lücke schließt Tcherniakov mit
Projektionen als Überleitung zur zweiten Szene: Schwarzweißaufnahmen von
Soldaten, die zuerst noch ganz munter aussehen, dann immer verzweifelter
dreinblicken und schließlich in den Strudel des Kriegsterrors gerissen werden.
Auch Igor wird verwundet, blutet,
stürzt und findet sich in der nächsten Szene in einer völlig surrealen Umgebung
wieder. Er steht in einem riesigen Feld roter Mohnblumen. Lebt er noch? Ist das
eine Traumvision in Fieberträumen? Schlaglichtartig tauchen Bilder des
Verwundeten auf. Eine Frau flirtet mit seinem Sohn, der Khan umwirbt ihn. Igor
steht wie nicht beteiligt. Er denkt an seine Frau, die dann tatsächlich
auftaucht (stumm, weil sie in diesem Akt eigentlich nichts zu suchen hat). Es
ist der Polowetz-Akt, den Tcherniakov so völlig ins Surreale entfremdet hat.
Dieser Akt hat ja auch die Besonderheit, dass die Polowetzer aus russischer
Sitz ja wilde Eindringlinge sind, dass Borodin sie aber mit einer wunderbaren
Musik unterlegt hat, beginnend mit der Frauenstimme am Anfang, dem Liebesduett
bis hin zu den drängenden Polowetzer Tänzen, die in der Oper ja auch mit Chor
unterlegt sind. Der Chor bleibt in dieser Szene zwar unsichtbar, aber es gibt
ein modernes Ballet. Die Tänzer tauchen völlig unerwartet zwischen den
Mohnblumen auf, tanzen herum, verschwinden wieder, umtänzeln den verwirrten
Igor – bis in einem abrupten Lichtwechsel alle Tänzer tatsächlich wie auf einen
Schlag weg sind.
Ein unglaublicher Bühneneffekt, dem
man sich als Zuschauer nicht entziehen kann. Und Regisseur Tcherniakov erreicht
damit genau das, was in vielen Theateraufführungen in Deutschland mit einem
Übermaß an Betroffenheitsverpflichtung und Traumatisierungsdarstellung nicht bewirkt wird, weil man nur entnervt
ist. In "Fürst Igor" gleitet man in einem Meer an musikalischer und
optischer Ästhetik in den Schrecken des Krieges hinein. Natürlich ist das Meer
aus roten Mohnblumen im Kontext des verlorenen Feldzugs ein Meer aus Blut und
es ist für den englischsprachigen Raum zudem ein Symbol für den Ersten
Weltkrieg. Die roten Mohnblumen auf den Schlachtfeldern Flanderns sind ja in
England zum Symbol der Toten des Ersten Weltkriegs geworden (darum liegen an
englischen Gefallenendenkmälern rote Mohnblumen).
Auch musikalisch verließ man das
Opernhaus befriedigt. Stanislav Kochanovsky dirigierte das Rotterdams
Philharmonisch Ortest schwelgerisch.
Klaus J. Loderer
17. Februar 2017
Nationale Opera
Amsterdam
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