Theatergeschichte: 100 Jahre Triadisches Ballett
„Oskar Schlemmer ... von einer beinahe rührenden Unbewußtheit des technischen Unvermögens"
– Uraufführung des Triadischen Balletts vor 100 Jahren in Stuttgart –
von Klaus J. Loderer
Eine besondere Werkgruppe der Staatsgalerie Stuttgart stellen die Figurinen des Triadischen Balletts des Malers, Bildhauers und Bühnenbildners Oskar Schlemmer (1888-1943) dar. Die Staatsgalerie besitzt seit den 1970er-Jahren immerhin sieben von neun noch existierenden Kostümen und widmet dem Jubiläum gerade eine Ausstellung. Zu Leben erweckt wurde das Triadische Ballett immer wieder. Einen Unterschied zur Uraufführung stellt die Musik dar, denn diese hatte 1922 einen Schwerpunkt in der Musik des 18. Jahrhunderts – ganz im Gegensatz zu heutigen Aufführungen des Triadischen Balletts.
Oskar Schlemmer: Das Triadische Ballett, 1922, in der Staatsgalerie Stuttgart Foto: Staatsgalerie Stuttgart |
Entstanden ist das Triadische Ballett auf Initiative des Tänzerpaars Albert Burger (1884-1970) und Elsa Hötzel (1886-1966), die am Stuttgarter Hoftheater tätig waren. Diese waren bei einem Aufenthalt an der Rhythmischen Bildungsanstalt von Émile Jaques-Dalcroze in Hellerau mit neuen Tendenzen des Tanztheaters in Berührung geraten und wollten nun ein modernes Ballett verwirklichen. Für die Gestaltung von Bühne und Kostüme gewannen sie Oskar Schlemmer, der damals als Meisterschüler Adolf Holzes in Stuttgart war. Die Idee, Arnold Schönberg für die Komposition der Musik zu gewinnen, scheiterte. Allerdings entstanden drei Tänze zu Musik von Marco Enrico Bossi, die 1916 bei einem Wohltätigkeitsabend in Stuttgart aufgeführt wurden.
Marco Enrico Bossi
Der italienische Organist, Komponist und Pädagoge Marco Enrico Bossi (1861-1925) war der Sohn des Domorganisten von Salò. Ab 1881 war er Domorganist in Como, ab 1890 Professor am Konservatorium in Neapel, ab 1895 Direktor des Konservatoriums von Venedig. 1916 bis 1923 war er Direktor des Konservatoriums von Rom. Auch wenn der Schwerpunkt seiner Kompositionen auf Orgelwerken lag, gehören auch mehrere Opern zu seinen Werken.
Szenenfoto zum Triadischen Ballett: zwei Figurinen aus der gelben Reihe: „Rundrock“, getanzt von Elsa Hötzel und „Taucher“ getanzt von Oskar Schlemmer, um 1922/1923 Stiftung Bauhaus, Dessau
Foto: Stiftung Bauhaus, Dessau |
Uraufführung am 30. September 1922
Ab 1920 war Schlemmer am Bauhaus in Weimar Leiter der Werkstatt Wandbildmalerei. Schlemmer entwarf Bühnenbilder und Kostüme für Operneinakter von Paul Hindemith. „Mörder, Hoffnung der Frauen“ (Text von Oskar Kokoschka) und „Das Nusch-Nuschi“ (Text von Franz Blei) wurden am 4. Juni 1921 am Württembergischen Landestheater in Stuttgart aufgeführt.
Parallel erfolgte die weitere Arbeit am Triadischen Ballett. Es kam schließlich am Samstag 30. September 1922 im Kleinen Haus des Württembergischen Landestheaters, wie das ehemalige Königliche Hoftheater nun hieß, zur Uraufführung. Es handelte sich um den Vorgängerbau des jetzigen Schauspielhauses der Staatstheater Stuttgart, dessen Ruine nach den Beschädigungen im Zweiten Weltkrieg abgerissen wurde. Die Herstellung der von Oskar Schlemmer entworfenen Kostüme wurde von Albert Burger und Elsa Hötzel finanziert. Die Vorankündigung der Uraufführung in der Stuttgarter Tageszeitung Schwäbischer Merkur vom Freitag 29. September 1922 nennt auch die Tänzer: Albert Burger, Elsa Hötzel und Oskar Schlemmer. Man stutzt über die Preise: die vorderen Sperrsitze kosteten 230 Mark. Dieser hohe Betrag war der Inflation nach dem Ersten Weltkrieg geschuldet. Die Uraufführung fand in einer politisch spannenden Zeit statt. Nach der französischen Besetzung des Ruhrgebiets erfolgte ein passiver Widerstand, der sog. Ruhrkampf. Da Reichskanzler Wilhelm Cuno den Streikenden Lohnersatzzahlungen durch das Reich zukommen ließ und die Notenbank immer größere Geldmengen ausgab, erreichte die Inflation im Laufe des Jahres 1923 eine dramatische Entwicklung. Seit dem 23. August war Gustav Stresemann Reichskanzler, der wenige Tage vor der Uraufführung des Triadischen Balletts den sog. Ruhrkampf abbrach. Die Inflation konnte er nicht mehr aufhalten. Im November 1923 entsprach ein US-Dollar 4,2 Billionen Mark.
Ankündigung der Uraufführung in der Tageszeitung Schwäbischer Merkur vom 29. September 1922 |
Die Musik bestand aus Werken von Mario Tarenghi, Enrico Bossi, Claude Debussy, Joseph Haydn, Wolfgang Amadeus Mozart, Domenico Paradies, Baldassare Galuppi und Georg Friedrich Händel. Nach der Uraufführung kam es allerdings zu Unstimmigkeiten, da Oskar Schlemmer für sich in Anspruch nahm, der geistige Vater des Werks zu sein. Das Ballett ist heute vor allem unter seinem Namen bekannt. Man stritt sich juristisch und vereinbarte 1923, dass jede Partei das Triadische Ballett aufführen durfte. Schlemmer durfte sechs Kostüme behalten und die restlichen ergänzen, was er auch tat. Burger und Hötzel durften ihre Kostüme behalten und die fehlenden ergänzen, allerdings führten sie das Triadische Ballett nicht mehr auf.
Oskar Schlemmer als „Tänzer, türkisch“ im Triadischen Ballett, um 1922
Foto: Staatsgalerie Stuttgart, Archiv Oskar Schlemmer |
Eine Uraufführungskritik
Die Tageszeitung Schwäbischer Merkur veröffentlichte am Montag 2. Oktober 1922 eine Kritik der Uraufführung. Während Burger und
Eine Uraufführung am Samstag im Kleinen Hause. „Das triadische Ballett“ betitelt. Darüber soll nun kritisiert werden; nicht einmal beschreiben kann man aber diese Absonderlichkeiten einer Künstlerphantasie, die in der körperlichen Hülle des Herrn Oskar Schlemmer, des bekannten Nusch-Nuschi-Mannes, ihr Wesen treibt. Triadisch: Trias harmonica ist dem Musiker als harmonischer Dreiklang bekannt. Mit der Dreiheit soll die Sache wohl zu tun haben: Burger-Hötzel-Schlemmer; drei Reihen; Erste, zweite, dritte, die gelbe, rosa, schwarze (mit je 3, 4 und 5 Tänzen). Zu Anfang liest vor einem lustig-verwegenen Vorhang Kurt Junker Kleists ästhetische Abhandlung über das Marionettentheater vor; der Inbegriff aller ausübenden Kunst: die (unbewußte) Marionette – als Gegenpol die Gottheit in ihrer höchsten künstlerischen Bewußtheit. Die Marionette hat man uns dann in der Vorführung gezeigt, das Göttliche dagegen nicht, es sei denn, daß jemand den Kubismus dafür ansieht. Aber die Marionette war sein; es gehört schon Selbstentäußerung und nicht geringes Können dazu, um so wie unser bekanntes Tänzerpaar Marionette zu werden; Burger übertraf darin Elsa Hötzel womöglich noch. Die Glieder wie losgelöst, frei. Die Musik, vor allem die von Bossi, mit unmittelbar sichtbarem Ausdruck. Oskar Schlemmer dagegen, der dritte Tänzer, von einer beinahe rührenden Unbewußtheit des technischen Unvermögens. Wie ein Ballett aus der primitiven Marionettenkunst „entstehen“ könnte, ist uns aber nicht gezeigt worden. Die Steigerung war hier zu gering, zu undeutlich wahrnehmbar; und deshalb wirkte das Ganze, trotz den viel gelungenen Einzelheiten, als zu lang, der Witz verpuffte schließlich. Die Kostüme, Figurinen, hergestellt teils in eigener Werkstätte teils in der Bühnenwerkstatt des staatlichen Bauhauses in Weimar, sind entschieden originell und phantasievoll; man kann den Wert und die Bedeutung solches Kunsthandwerkes verschieden einschätzen; Kunst ist es aber! Manches reizend, manches wirklich komisch, manches kindisch (nicht in schlechtem Sinne). Wie gesagt: etwas weniger von dieser Art, bei der das Groteske eben doch vorherrscht. Dann wäre die Sache noch kurzweiliger. Mozart? Aber Debussy und Bossi. Auch Händel. Ein interessiertes Publikum, von der „Gemeinde“ aufgestachelt, spendete enthusiastischen Beifall, Schlemmer wurde oft gerufen. Und nun sehe sich jeder dies Ballett an und urteile selber; bis dahin wird auch der sonst tüchtige Klavierspieler des Abends das Alla Turca Mozarts tadellos eingespielt haben. Noch eine Bemerkung: Der Hinweis, daß nun „von hier aus“ eine Erneuerung der Kunst ausgehen könnte, findet sich heute recht oft. Ein Zeichen der Zeit; einmal ist es der alte Händel, dann wieder ein Ultramoderner.
Soweit die Besprechung der Uraufführung in der Zeitung Schwäbischer Merkur. Der Sprecher des Prologs, Kurt Junker (1878-1953) war damals Schauspieler und Spielleiter des Landestheaters und wurde später als Filmschauspieler bekannt in Filmen wie „Prinz Louis Ferdinand“ (1927) und „Hundert Tage“ (1935). Er trat übrigens an dem Abend nicht nur im Kleinen Haus sondern auch im Großen Haus auf. Dort lief nämlich Shakespeares „Macbeth“, in dessen fünftem Akt Junker den General Siward spielte.
Ausstellung „Moved by Schlemmer“
Die Staatsgalerie Stuttgart zeigt noch bis zum 9. Oktober 2022 die Ausstellung „Moved by Schlemmer“. Gezeigt werden die aus den 1920er-Jahren erhalten gebliebenen Original-Figurinen in einer Präsentation aus raumfüllenden Installationen der drei zeitgenössischen Künstlerinnen Ulla von Brandenburg, Kalin Lindena und Haegue Yang.
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