Ausstellung »L’art c’est un jeu sérieux« über die rumänische Künstlerin Geta Brâtescu, Kunstmuseum Sankt Gallen

Die Vielfalt der Formen 

– Ausstellung »L’art c’est un jeu sérieux« über die rumänische Künstlerin Geta Brâtescu im Kunstmuseum Sankt Gallen – 

von Klaus J. Loderer

Geta Brătescu (1926-2018) wurde manchmal als Konzeptkünstlerin bezeichnet, doch sie war mehr. Sie war als Grafikerin, Zeichnerin, Illustratorin, Fotografin, Textilgestalterin und Konzeptkünstlerin eine der wichtigsten Künstlerinnen der Avantgarde Rumäniens. Mit ihrem künstlerischen Schaffen traf sie verschiedene der theoretischen und formalen Debatten ihrer Zeit und wurde damit zu einer zentralen Künstlerin zwischen klassischer Moderne und zeitgenössischer Kunst. Als erstes Museum der Schweiz widmet das Kunstmuseum St. Gallen nun der rumänischen Künstlerin eine retrospektiv angelegte Ausstellung. Der Titel »L’art c’est un jeu sérieux« (Die Kunst ist ein ernsthaftes Spiel) greift ein Zitat der Künstlerin auf. 

Geta Brătescus Atelier in Bukarest 2015 Foto: Ștefan Sava
Geta Brătescus Atelier in Bukarest 2015
Foto: Ștefan Sava
Die von Lorenz Wiederkehr kuratierte Ausstellung in St. Gallen umfasst repräsentative Werkserien und gibt Einblick in über vier Jahrzehnte kreativen Schaffens. Im Zentrum stehen Collagen, Zeichnungen und Videos, deren Ausdrucksweise parallel zu den internationalen Avantgarden verläuft. Basierend auf dem Prinzip der Serie, dem des Aneinanderreihens und des Überlagerns formulierte Geta Brătescu in diesen Medien ihren einzigartigen Zugang zu zentralen Fragen der Abstraktion, dem politischen Potenzial des Bildes und der subjektiven Erfahrung von Erinnerung und Geschichte. 

Im Mittelpunkt stehen Werke aus den 1970er- und 1980er-Jahren, in denen Geta Brătescu den internationalen Avantgarden immer näherkam Die Erforschung des Ichs wurde zum Gegenstand von Performances, die sich in filmisch festgehaltenen Happenings und fotografischen Serien von Selbstporträts niederschlugen. Es entstanden beziehungsreiche Collagen und Installationen aus fragilen Materialien, die mit Werken des Postminimalismus vergleichbar sind. Neben repräsentativen Werkgruppen aus dieser Zeit umfasst die St. Galler Ausstellung Arbeiten auf Papier aus den 1990er- und 2000er-Jahren. Diese können aufgrund ihrer formal-ästhetischen Wirkung als eine kritische Auseinandersetzung mit dem Projekt der Moderne verstanden werden. »L’art c’est un jeu sérieux« verdeutlicht damit erstmals, inwiefern Geta Brătescu die Stellung einer Scharnierfigur zwischen moderner und postmoderner Kunst aus dem osteuropäischen Kontext einnimmt.

Sie arbeitete mit Stoffstreifen und deren unendlicher Textur-, Muster- und Farbvielfalt. Verwischt scheinen in diesen Collagen die Übergänge. Viel härter in den Kontrasten und Formen sind ihre Collagen aus farbigen Papieren, bei denen die Flächen unvermittelt aneinanderstoßen. Hier nähert sie sich der konkreten Kunst an, ohne deren mathematische Striktheit zu übernehmen. Die geschwungene Linie konnte bei ihr zur Chiffre einer imaginären Geheimschrift werden. Und dann sind da noch die gezeichneten und bekritzelten Blätter, zerknüllt, wieder glattgestrichen und zu großen Formaten zusammengeklebt.

Geta Brătescu, Frau Oliver in ihrem Reisekostüm (Courtesy of The Estate of Geta Brǎtescu, Hauser & Wirth and Ivan Gallery Bukarest)
Foto: Mihai Brătescu
Geta Brătescu wurde am 4. Mai 1926 als Georgeta Comănescu in Ploiești in der walachischen Tiefebene in Rumänien als einziges Kind einer Apothekerfamilie geboren. Ihr Interesse für das Zeichnen, die Literatur und das Theater zeigte sich früh und mündete schließlich in eine entsprechende Studienwahl. 1945 schrieb sich Geta Comănescu parallel an der Kunsthochschule und an der Bukarester Fakultät für Literatur und Philosophie ein. In Malerei war sie eine Schülerin von Camil Ressu. 1948 wurde sie aufgrund ihrer bürgerlichen Herkunft von der Kommunistischen Partei vom Hochschulstudium ausgeschlossen. 

1951 heiratete sie den Ingenieur und passionierten Fotografen Mihai Brătescu, mit dem sie für die meisten fotografischen Projekte zusammenarbeitete. 1954 kam der gemeinsame Sohn Tudor zur Welt. Ihren Lebensunterhalt verdiente Geta Brătescu in den 1950er-Jahren als technische Zeichnerin. 1957 wurde sie in die Rumänische Künstlervereinigung UAP aufgenommen, eine Mitgliedschaft, die ihr Reisen in die UdSSR, nach Ungarn und nach Polen ermöglichte.

Seit 1963 arbeitete die Künstlerin für das 1961 gegründete Magazin »Secolul 20« (20. Jahrhundert), das wichtigste intellektuelle Publikationsorgan Rumäniens. Über 20 Jahre war sie für die grafische Gestaltung des Magazins verantwortlich, dessen Profil für ihre Laufbahn von entscheidender Bedeutung war. Brătescu widmete sich einer Vielzahl von Themen der klassischen und modernen Literatur, die mit dem Programm der Zeitschrift eng verflochten waren. 1966/67 folgten erste Aufenthalte in Italien. Stilistisch wure ihr Werk in dieser Zeit durch die dokumentarische Zeichnung geprägt. 

1969 nahm Geta Brătescu ihr Studium an der Nicolae-Grigorescu-Kunsthochschule wieder auf. Sie erhielt die Möglichkeit, in einem eigenen Atelier zu arbeiten. In den frühen 1970er machte sie daraus ein künstlerisches Thema: das Atelier als konzeptueller Raum persönlicher Freiheit. 1974 erweiterte sie das Thema der Freiheit vom Privaten ins Öffentliche. Stellvertretend für dominierende Kräfte, deren Einfluss man sich nicht entziehen kann, entstanden die Magneti in Oras (Magnete in der Stadt). In diesem Zusammenhang verfasste Brătescu ein Manifest, das aber bis zur rumänischen Revolution 1987 unveröffentlicht blieb.

In den späten 1970er-Jahren widmete sich Geta Brătescu intensiv dem Film. In Zusammenarbeit mit dem rumänischen Konzeptkünstler Ion Grigorescu (*1945 Bukarest) entstanden 1977/78 zwei Videos, die neben dem Atelier die Künstlerhände thematisierten. Diese Hände waren auch für die Medien der Zeichnung und der Collage wichtig, die zeitlebens den Dreh- und Angelpunkt ihres künstlerischen Schaffens bildeten. Im Film »The Studio« thematisierte sie ihr Atelier. In den 1980er-Jahren begann sie mit geschlossenen Augen zu zeichnen. Ein Vorgehen, das sie auch später immer wieder aufnahm. Sie ersetzte in den 1990er-Jahren den Stift durch die Schere, so dass der Schnitt durch das Papier dem zeichnerischen Strich entspricht, der eine farbige Fläche umspannte und definierte. 

Nachdem Geta Brătescu in den 1990er-Jahren bereits international ausstellte, in Großbritannien, Dänemark und in Deutschland, wurde ihr Werk 2009 im mumok in Wien von Bojana Pejić unter dem Titel »Gender Check – Rollenbilder in der Kunst Osteuropas« in den Kontext der zeitgenössischen Rezeption gestellt. 2012 war sie auf der von Okwui Enwezor kuratierten Triennale im Palais de Tokyo in Paris präsent, und 2016 zeigte Brigitte Kölle in der Hamburger Kunsthalle Brătescus bislang umfassendste Einzelausstellung. 

Geta Brǎtescu, ohne Titel (Spiel der Formen), 2013 (Courtesy of The Estate of Geta Brătescu, Hauser & Wirth and Ivan Gallery Bukarest)
Foto: Cătălin Olteanu
2017 gestaltete Geta Brătescu als erste Frau den Pavillon ihres Heimatlandes Rumänien an der Biennale di Venezia zusammen mit der Kuratorin Magda Radu, der Kunstwissenschaftlerin Diana Ursan und dem Galeristen Marian Ivan. Dabei setzte sie sich mit dem rumänischen Diktator Ceaucescu auseinander. Außerdem nahm sie an der Documenta 14 in Kassel teil. Die Würdigung im Neuen Kunstverein Berlin erlebte sie nicht mehr. Am 19. September 2018 verstarb Geta Brătescu mit 92 Jahren in Bukarest. 

Die Ausstellung »Geta Brâtescu – l’art c’est un jeu sérieux«, die in Zusammenarbeit mit der Ivan-Gallerie in Bukarest und der Galerie Hauser & Wirth entstand, ist bis zum 15. November 2020 im Kunstmuseum St. Gallen zu sehen. Ab Januar 2021 folgt als weitere Station Kopenhagen. 


Ausstellung 
Geta Brâtescu
L’art c’est un jeu sérieux
Bis 15. November 2020 
Kunstmuseum Sankt Gallen
Schweiz







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