Premierenkritik: „Mefistofele“ von Arrigo Boito – Theater Chemnitz – 2019

Reise durch Zeit und Raum 

– Balázs Kovaliks kluge und effektvolle Inszenierung der Oper „Mefistofele“ von Arrigo Boito im Opernhaus Chemnitz – 

von Klaus J. Loderer

Wie ein lebendig gewordenes Deckengemälde einer barocken Kirche gestaltet der ungarische Regisseur Balázs Kovalik den Prolog im Himmel, in seiner Inszenierung von „Mefistofele“ in Chemnitz: eine jener opulenten Himmelsapotheosen mit rahmender Architektur und vielen bewegten Figuren. Das erstaunliche daran ist, dass Csaba Antal beim Bühnenbild und Mari Benedek bei den Kostümen völlig ohne Rokokogeschnörkel und Barockzitat auskommen. Und doch assoziiert man bei den Tänzern mit Plastikflügeln sofort Erzengel (Choreographie Leo Mujić). Ein Tänzer in schwarzem Anzug mimt den Faust. Trotz ironischer Anklänge wie der witzigen Ausstattung des Kinderchors als Kindergartenkrippenspielengelchen kippt die Sache nicht. Kovalik lässt der wunderbaren Musik Arrigo Boitos, die sich im Prolog zu einem himmlischen Bombastfinale aufschwingt, genügend Raum. Man sitzt staunend da und hört und sieht wie sich Musik und Bühnenbild und himmlische Heerscharen immer weiter auftürmen und gar ein riesiges Gerüst, bestehend aus drei mit schrägen Rampfen verbundenen Türmen, aus dem Hintergrund nach vorn kommt, das von Teilen des Chors erklommen wird und von dessen höchster Spitze schließlich Fanfaren ertönen. Die moderne Adaption eines barocken Hochaltars baut sich da als wirkungsvolls Tableau auf. Die Produktion gönnt dem Zuschauer diese große Geste. Generalmusikdirektor Guillermo García Calvo zelebriert mit der Robert-Schumann-Philharmonie eine große Opernmesse. Der Beifall ist schon in der ersten Lichtpause groß. Opernchor und Extrachor werden für diese Höchstleistung auch sofort gefeiert.

Magnus Piontek (Mefistofele) und Cosmin Ifrim (Faust)
Foto: Nasser Hashemi
Als Reise zum Ich, als Zeitreise geht Balázs Kovalik seine Inszenierung an. Vor einigen Jahren brachte Kovalik Arrigo Boitos Oper, in der dieser einige Szenen aus den beiden Faust-Stücken Goethes zu einer Oper kombinierte, in Budapest auf die Bühne. Nun erarbeitete er die Inszenierung für das Opernhaus Chemnitz neu. Tatsächlich ist ja schon die Oper mit ihren nicht zusammenhängenden Szenen eine Reise, die Mefistofele mit Faust unternimmt. Was aber bei Goethe ein enger geographischer Raum ist, wird bei Kovalik zu einer Reise um die Welt und in eine ferne Science-Fiction-Zukunft. Zwischen den Szenen sind gut passende Texte von Béla Hamvas zum Wesen des Menschen eingeblendet.

Die Reise beginnt in Frankfurt am Main. Es könnte auch irgendeine Wohnsiedlung sein, die der Chor, nun in moderner Alltagskleidung ganz in weiß, beim Osterspaziergang aus kleinen weißen Hausmodellen zusammenbaut. Damit kontrastieren die zwischen dem Publikum sitzenden Faust und Wagner in ihrer roten Kleidung. Aus dem Parkett flanieren sie auf die Bühne. Cosmin Ifrim singt den Faust mit lyrischem Tenor. In der zweiten Tenorpartie ist Siyabonga Maqungo als Wagner zu hören (in einigen Vorstellungen wird James Edgar Knight alternieren).

Die Begegnung mit Mefistofele – der in ebenso roter Kleidung fast das Alter Ego Fausts sein könnte – wird für die Wohnsiedlung zum Desaster. Mit dem Geist, der stets das Böse will, zieht dieses auch gleich in Form einer Schlägertruppe ein. Häuser brennen. Die Bewohner werden hingemetzelt. Das Böse bleibt hier nicht nur gesungener Text; wir sehen die Folgen realistisch als drastische Illustration. Aus dem Leichenfeld steigen Mefistofele und Faust in einem Polyeder zu ihrer Reise auf. Magnus Piontek ist als Mefistofele ein Glücksfall. Der Bass gestaltet die zentrale Rolle der Oper mit viel Raffinement. Geschmeidig und einschmeichelnd ist seine Stimme von grollender Tiefe bis in die Höhe.

Klein ist Gretchens Welt, ein Puppenhaus gar. Margherita ganz bieder. Katerina Hebelkova singt die Rolle mit leichtem mädchenhaftem Sopran. Die Mezzosopranistin Sophia Maeno gibt Marta frivol rot in Netzstrümpfen und Minirock. In Ermangelung eines echten Mannes zieht Marta erst einmal die Ken-Puppe aus. Faust eröffnet ihr eine neue Welt. Das Gerüst wird wieder sichtbar. Auf seinen Rampen irren die vier Personen wie in einem Labyrinth herum.
„Mefistofele“ in Chemnitz: Effektvolles Finale des Prologs im Himmel
Foto: Nasser Hashemi
Die Apotheose des Bösen, die Walpurgisnacht, ist vom Brocken in eine Spielhölle verlegt – es könnte Las Vegas sein. Die Bühne ist nun sogar zweigeschossig angelegt: effektvoll fährt eine Ebene nach oben, der Raum wird zur Casino-Kathedrale. Hier huldigt eine dekadente Gesellschaft dem Mammon. Mefistofele greift sich eine EU-Flagge. Mit dieser um den Kopf gelegt, lässt er sich als Madonna verehren. Die Erde schlürft er gar als Ei aus einem Abendmahlskelch – noch ein Zitat aus dem Katholizismus. Die Produktion entfaltet mit dieser Szene ein wirkungsvolles Gegenstück zum Prolog im Himmel. Angeheizt von halbnackten Cowboys-Tänzern auf dem höllisch-rot illuminierten Gerüst (Licht John Gilmore) und Tänerzinnen auf den Spieltischen schaukelt sich dieser Hexensabbat, mit der einpeitschenden Musik Botois unterlegt, immer weiter hoch. Oben turnt Margherita herum und wirft ihr Baby in die Tiefe.

Dies leitet zur nächsten Szene über, das auf ihre Hinrichtung wartende Gretchen im Kerker. Hier ein nüchterner, hinten mit einer Folie verhangener Raum. Hier verblutet Margherita im wörtlichen Sinn mit viel Theaterblut. Katerina Hebelkova gestaltet die Szene anrührend und verdeutlicht die Verzweiflung Gretchens.

Die klassische Walpurgisnacht ist in eine unbestimmt ferne Zukunft verlegt, wie man sie aus Science-Fiction-Filmen kennt. Oft greifen diese Filme eine archaische Zeit auf. In der Inszenierung ist dies Alt-Ägypten, das in Kostümen und Gesten durchscheint. In durchscheinenden Blasen schweben die Seelen der Verstorbenen. Rechts steht eine Maschine, in der gerade ein Mann zeremoniell einbalsimiert wird. Rituell werden seine Eingeweide entnommen. Die grüne Slimy-Masse ist eine nette Ironie. Im Zentrum der Szene wird denn auch die Vorbereitung des Liebespaars Helena-Faust für die Ewigkeit stehen. Katerina Hebelkova singt übrigens auch Helena ebenso wie Sophia Maeno die Pantalis und Siyabonga Maqungo den Nereo. Insofern ist die Sängerliste überschaubar.

Am Ende schaut Faust in den Zuschauerraum und entdeckt auf seinem anfänglichen Sitzplatz den Tänzer, sein Ich in jungen Jahren. Er erinnert sich an seine Jugend. Das ist in dem Fall der Augenblick, der verweilen soll. Kovalik lässt hier noch einmal Margherita auftauchen, die Faust eine Bibel übergingt, eine Reminiszenz an die erste Gretchen-Szene, als Faust die Bibel achtlos ließ. Nun nimmt er sie, um doch in den Himmel zu kommen.

Dass die Inszenierung so überzeugt, liegt auch daran, dass Kovalik der Handlung vertraut und trotz vieler Ironien und Spitzen die Idee des Stücks verfolgt bis hin zum apotheotischen Schluss. Mit großem Beifall bedankt sich das Publikum und feiert das Ensemble.

Den Effekt vieler Szenen von „Mefistofele“ macht der Chor aus. Chorleiter Stefan Bilz hat den Opernchor für die Aufführung zur Höchstleistung gebracht, unterstützt von Dovilė Šiupėnytė, die Extrachor und Kinder- und Jugendchor einstudierte. Dazu ist eine gut geprobte Robert-Schumann-Philharmonie zu nennen. Generalmusikdirektor Guillermo García Calvo sorgt während der ganzen Aufführung für musikalische Spannung und akzentuiert die starken musikalischen Kontraste (in einigen Vorstellung wird Jakob Brenner dirigieren). In mehreren Szenen ist das wirkungsvoll Ballett eingesetzt. Und zahlreiche Statisten belebten zudem die Bühne (Leitung Uwe Oertel). Die Werkstätten der Theater Chemnitz sorgten für eine gute Umsetzung des Bühnenbildes, die Bühnentechnik für einen reibungslosen Ablauf. Die Kostüme wurden in den Werkstätten der Staatsoper Budapest angefertigt.

Es ist erfreulich, dass das Opernhaus Chemnitz nach dem „Hamlet“ in der letzten Spielzeit nun eine weitere italienische Oper außerhalb des Mainsteams in den Spielplan genommen. Wünschen wir der Produktion viele Zuschauer.

Besuchte Vorstellung: Premiere am 28. September 2019
Opernhaus Chemnitz

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