Premierenkritik: Engelbert Humperdincks selten gespielte Oper „Königskinder“ – Musiktheater im Revier Gelsenkirchen – 2018
Ohne Königswagen erkennt der Spießer den König nicht
– Regisseur Tobias Ribitzki inszeniert Engelbert Humperdincks Opernrarität „Königskinder“ am Musiktheater im Revier als Sozialdrama –
von Klaus J. Loderer
Nicht als Märchen sondern als hartes Sozialdrama in einer unerbittlichen Gesellschaft sieht Regisseur Tobias Ribitzki Engelbert Humperdincks Oper „Königskinder“. Enstprechend holt Kathrin-Susann Brose (Bühne und Kostüme) die Handlung mit einem kühlen Bühnenbild und heutigen Kostümen in die Gegenwart. Diese Ästhetik straft das Premierenpublikum im Musiktheater im Revier (MiR) in Gelsenkirche allerdings mit Buhs für das Produktionsteam ab, das sich auch nur einmal auf die Bühne traut. Positiv nimmt das Publikum die musikalische Seite auf. Gesangssolisten, Chor, Kinderchor und Orchester erhalten Zuspruch. Dabei halte ich die sängerischen Leistungen nicht für durchweg lobenswert. Über alle Kritik erhaben ist Petro Ostapenko als Spielmann. Sein warmer Bariton erfreut. Schön laufen bei ihm die Melodiebögen. Überhaupt hat Humperdinck dieser Rolle die schönsten Motive komponiert. Die kleine Rolle des alten Stadtrats ist in Gelsenkirchen mit seiner Rolle verschmolzen. Martin Homrich überzeugt als Königssohn schon nicht so ganz. Die ersten Passagen des Tenors lassen durchaus auf einen großen Abend hoffen. Doch entwickeln sich die Töne schon bald scharf und treffen in der Höhe nicht mehr. Als wichtigste Frauenrolle hat die Gänsemagd große Bedeutung. Doch verengt sich die Stimme von Bele Kumberger in der Höhe und versagt uns den mädchenhaften Glockenklang, der für diese Rolle wichtig wäre. In Almuth Herbst sind gleich zwei Rollen vereinigt, die Hexe und die Wirtstochter. Doch kann auch sie nicht überzeugen. Bei ihr bricht die Stimme schon in der Mittellage. Tobias Glagau ist als Besenbinder passabel. Urban Malmberg hat als Holzbacker eine unangenehme Schärfe in der Stimme. Immerhin singt John Lim mit gutem Bass den Wirt. Rasmus Baumann sorgt mit der Neuen Philharmonie Westfalen für Wohlklang im Orchestergraben. Er wird das Stück bei den Folgevorstellungen im Wechsel mit Harry Ogg dirigieren. Gut geprobt ist der Opernchor des MiR (einstudiert von Alexander Eberle). Den Opernkinderchor der Chorakademie Dortmund (einstudiert von Zeljo Dautovic) muss man schon fast als Mädchenchor bezeichnen. Ein paar helle Knabenstimmen würden dem Klang gut tun.
Trauriges Ende: „Königskinder“ von Engelbert Humperdinck am Musiktheater im RevierPetro Ostapenko als Spielmann und Bele Kumberger als Gänsemagd Foto: Bettina Stöß |
Der Komponist Engelbert Humperdinck wird zumeist auf seine bekannteste Oper, nämlich die Märchenoper„Hänsel und Gretel“, reduziert. Diese ist seit mehr als hundert Jahren fester Bestandteil der Opernspielpläne. In Deutschland hat sich die Oper geradezu als Stück der Weihnachtszeit entwickelt. Die beiden weiteren Märchenstoffe „Dornröschen“ und „Die sieben Geislein“ sind völlig vergessen. Bei „Königskinder“, 1910 an der Metropolitan Opera in New York uraufgeführt, handelt es sich ebenfalls um ein Märchen. Im Gegensatz zu den drei anderen Märchenopern, die auf Stoffe der Gebrüder Grimm zurückgehen, ist es aber ein Kunstmärchen ohne volkstümliche Tradition. Ernst Rosmer hat sich die Geschichte ausgedacht. Hinter dem Pseudonym verbirgt sich die Dichterin Elsa Bernstein. Die Sprache ist bewusst historisierend, der zeitliche Rahmen irgendwann im Mittelalter, der Ort in der Fantasiestadt Hellabrunn oder Hellastadt, die von Hellawald und Hellaberg umgeben ist. Im verzauberten Hellawald lebt die Hexe, die ein Mädchen als Gänsemagd aufzieht. Ob die Hexe tatsächlich ihre Großmutter ist, sei einmal dahingestellt. Man fühlt sich bei der Konstellation und den „Unterricht“ an das Verhältnis Mime und Siegfried erinnert. Auch die Gänsemagd zieht es in die Weite. Einen Wagnerbezug gibt es auch in der Musik. Steht Humperdinck doch stark in der Wagner-Tradition. Und dann zitiert er sich auch noch selbst, etwa wie der Besenbinder seine Besen anpreist und in der Beziehung von Besen und Hexe. Das Brechen des Brots mag man als Parsifal-Zitat oder als Hinweis auf das christliche Abendmahl sehen. Das Brot führt in „Königskinder“ aber nicht zu Heil oder Erlösung. Königssohn und Gänsemarkt sterben an diesem Brot. Der Zuschauer weiß schon, was es mit diesem Brot auf sich hat. Es wird im ersten Akt der Oper geknetet von Hexe und Gänsemagd. Die Hexe mischt Gift bei: „Wer es halften ist, stirbt ganzen Tod“. Der Segensspruch der Gänsemagd („Wer davon isst, mag das Schönste seh’n, so er wünscht, sich zu gescheh’n“) sorgt im Finale der Oper für eine kurze Haluzination einer schönen Zukunft. In der MiR-Inszenierung überdauert das Brot in einem Mülleimer. Die Gänsemagd kauert sich schließlich auf einer Bank zusammen und stirbt, während Schnee auf sie niederrieselt. Vielleicht ein kleiner Verweis auf das Andersen-Märchen „Das Mädchen mit den Schwefelhözern“. Jedenfalls sieht das sehr stimmungsvoll aus. Das berührt. Es ist ein trauriger Schluss, den dieses Märchen nimmt.
Einen Märchenwald gibt es auf der Bühne des Musiktheaters im Revier nicht zu sehen, ebenso wenig wie eine Stadt. Gehetzt eilen geschäftige Menschen durch eine U-Bahnstation oder einen Bahnhof. Dieser kahlen Betonarchitektur stehen ein paar Bänke herum. Von den bieder gekleideten Menschen sticht der Straßenmusikant (der Spielmann) ab. Er bringt eine andere Geschichte ins Rollen. Er stellt eine große Ledertasche ab, die gewissermaßen das Hexenhaus ersetzt. Der Tasche entsteigt überraschenderweise schon bald die Hexe. Die Tasche kann aber auch ein Brunnen sein. Der Spielmann bringt auch noch ein großes altes Buch, das immer wieder eine wichtige Rolle spielt. In diesem Ambiente kann natürlich keine Blume gedeihen. So wächst das Blümlein der Gänsemagd eben im Zauberbuch empor. Die Gänsemagd könnte man als Hippiemädchen beschreiben. Wenn sie vom Lindenbaum schwärmt, sehen wir als Filmprojektion sogar im Hintergrund die Blätter sich im Wind wiegen. Die Reinigungskräfte sind die modernisierten Besenbinder und Holzfäller. Die Requisiten stimmen noch: ein Reisigbesen und ein Beil. Hierher verirrt sich nun auch ein junger Mann im hellblauen Anzug, der Königssohn. Er möchte die Gänsemagd mitnehmen. Dass sie den Ort nicht verlassen kann, ist in der Inszenierung so gelöst, dass der Gänsemagd Passanten entgegentreten und sie am Verlassen des Raums hindern.
Ohne Unterbrechung geht es in den zweiten Akt über. Die Hexe schält sich aus ihrem Kostüm heraus und wird so zur Wirtstochter. Diese steht jener in Bösartigkeit nicht nach – insofern passt diese Verwandlung gut. Der Königssohn fühlt sich von dieser Wirtstochter unangenehm angebaggert. Eigentlich wäre man jetzt in der Stadt, in der die Honoratioren um zwölf Uhr Mittag die Ankunft des neuen Königs erwarten. Dass zu dieser Zeit die Gänsemagd erscheint, enttäuscht die Bürger. Weder möchten sie die Gänsemagd als Königin akzeptieren noch erkennen sie den tatsächlichen Königssohn, der aus Not zum Schweinehirten wurde. Da kann der Königssohn noch so lange singen, dass er im Inneren ein Königssohn sei – ohne Königswagen erkennt man ihn nicht. Innere Werte zählen in dieser Gesellschaft nicht, sagt uns diese Inszenierung. Man jagt Königssohn und Gänsemagd hinaus. Nur die Kinder erkennen die Königskinder und möchten, dass der Spielmann sie sucht. Besenbinder und Holzfäller erkennen Gänsemagd und Königssohn wieder nicht und sind nur an persönlicher Bereichung interessiert. Aus dem Papierkorb fischt der Besenbinder ein altes Brot und gibt es den beiden mit höhnischem Lachen. Wenn die Gänsemagd gestorben ist, eilen wieder die Passanten durch den Raum. Schockiert bleiben sie stehen. Da unterstellt Regisseur Ribitzki diesen Menschen sogar Mitgefühl. Würden sie nicht einfach kurz ein Foto mit dem Telefon machen und davonhetzen?
Besuchte Vorstellung: Premiere 24. November 2018
Musiktheater im Revier
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