„Oberst Chabert“ von H. W. v. Waltershausen – Mark Morouse singt Titelrolle in Opernrarität an der Oper Bonn – 2018
„Einst tot unter den Toten, nun tot unter den Lebenden“
– „Oberst Chabert“, eine beklemmende Musiktragödie von Hermann Wolfgang von Waltershausen an der Oper Bonn –
von Klaus J. Loderer
Es ist eine berührende Rolle, die Mark Morouse an der Oper Bonn als Graf Chabert verkörpert. Es ist die Geschichte eines Offiziers, der nach einer Schlacht lebendig begraben wird, sich aus dem Grab herausbuddeln kann, im Irrenhaus landet und dann verzweifelt um die Anerkennung daheim kämpft. Bühnenbildner David Hohmann hat dafür ein klaustrophobes Bild eines eingestürzten Bauwerks geschaffen. Durch die dauerhafte Anwesenheit von Mark Morouse auf der Bühne konzentriert Regisseur Roland Schwab die Handlung in Bonn noch mehr auf die Titelfigur. Es ist nicht nur die Verzweiflung der Hauptfigur, sondern auch die Liebe zu seiner ihn verleugnenden Ehefrau, die Morouse mit starkem Bariton und auch sanften Tönen zum Ausdruck bringt.
„Oberst Chabert“ an der Oper Bonn mit Mark Morouse als Graf Chabert
Foto: Thilo Beu
|
„Einst tot unter den Toten, nun tot unter den Lebenden“ ist auf dem heruntergelassenen Eisernen Vorhang, der in Bonn vor dem Orchestergraben abschließt und dadurch knapp vor der ersten Sitzreihe aufragt, zu lesen. Es ist ein Zitat aus einer beklemmenden Oper von Hermann Wolfgang von Waltershausen. Musiktragödie hat der Komponist die Oper „Oberst Chabert“, für die er auch das Libretto nach einer Erzählung von Balzac geschrieben hat, selbst genannt. Musikalisch gibt er sich als Spätromantiker mit Parallelitäten zu Richard Wagner und Richard Strauss.
Ein vergessener Komponist: Hermann Wolfgang von Waltershausen
Wer ist nun dieser heute kaum mehr bekannte Komponist Hermann Wolfgang von Waltershausen? Er wurde 1882 in Göttingen geboren. Nach einer schweren Krankheit wurden der rechte Arm und das rechte Bein amputiert. Er machte dann in Straßburg Abitur und begann dort ein Studium der Philosophie und Kunstgeschichte. 1901 ging er nach München und fing an sich mit Kompositionslehre zu beschäftigen. Er erhielt eine pianistische Ausbildung und führte sein Studium fort. 1909 erfolgte die Uraufführung seiner musikalischen Komödie „Else Klapperzehen“ in Dresden, 1912 die musikalische Tragödie „Oberst Chabert“ in Frankfurt am Main, 1915 der romantischen Oper „Richardis“ in Karlsruhe und 1919 der Oper „Die Rauensteiner Hochzeit“ in Karlsruhe. 1920 erhielt er einen Lehrstuhl an der Akademie der Tonkunst in München. Die Universität Frankfurt am Main ehrte ihn 1922 mit der Ehrendoktorwürde. 1933 wurde er als Direktor der Akademie der Tonkunst entlassen. Das erstaunt zunächst, denn seine Musik würde man ja eher als konservativ bezeichnen. Hintergrund war in diesem Fall gar nicht etwa die Einstufung seiner Werke als zu modern oder „entartet“ oder ein jüdischer Hintergrund. Er war 1926 Adolf Hitler begegnet und hatte wohl einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen. Waltershausen gründete ein Seminar für Privatmusiklehrer. Er blieb weiterhin ein einflussreicher Musikpädagoge, erhielt aber erst mit der Gründung des Waltershausen-Seminars 1948 wieder staatliche Anerkennung. 1954 starb er an einem Schlaganfall. Erst 1958 wurde konzertant seine 1936 fertiggestellte Oper „Die Gräfin von Tolosa“ aufgeführt, die immer noch ihrer szenischen Uraufführung harrt.
Eine Erzählung von Balzac
Die Oper um einen bei der Schlacht bei Preußisch-Eylau 1807 vermeintlich gestorbenen Oberst basiert auf einer erstmals 1832 erschienenen Erzählung von Honoré de Balzac. Er nahm sie 1835 in den Zyklus „La comédie humaine“ auf. Die Erzählung wurde schon von Balzac unter verschiedenen Titeln veröffentlicht, etwa „La transaction“, „Le comte Chabert“ und „La comtesse à deux maris“. Zur Zeit der Entstehung der Oper wurde die Geschichte erstmals 1911 verfilmt. Weitere Verfilmungen folgten, zuletzt 1994 als „Die Auferstehung des colonel Chabert“ (Le colonel Chabert) mit Gérard Depardieu und Fanny Ardant.
Die Oper setzt wie die Erzählung mit dem Versuch Chaberts vom Advokaten Derville (der übrigens in einigen Werken Balzacs vorkommt) angehört zu werden ein. Chabert war angesehener Oberst der Armee Napoleons. In der Schlacht von Preußisch-Eylau wurde er verwundet und für tot gehalten bestattet. Er kann sich aus dem Massengrab herausbuddeln, kommt aber als Landstreicher in die Irrenanstalt. Seine Frau antwortet nicht auf seine Briefe. Sie heiratet wieder und hat mit dem Grafen Ferraud zwei Kinder. In der Kanzlei taucht auch die Gräfin Chabert auf, was Derville zu einer Konfrontation ermuntert, in der die Gräfin Chabert erkennt, dies aber leugnet. Aber der Schreiber Godeschal erkennt seinen ehemaligen Oberst. Im zweiten Akt versucht Derville die Gräfin zu erpressen. Schnell erkennt er, dass die Gräfin die Briefe Chaberts doch erhalten hat. Der erste ist sogar direkt vor der Hochzeit mit Ferraud zu ihr gelangt. Sie leugnet aber weiterhin Chabert, um ihre Ehe und ihre Kinder zu retten. Der zweite Ehemann Graf Ferraud verstößt seine Frau Rosine aus Sorge um seine Ehre, nachdem sie sich weigert zu beschwören, dass Chabert nicht Chabert ist. Das Quintett ist musikalisch eine zentrale Stelle der Oper. Im dritten Akt erklärt die Gräfin Chabert nie geliebt zu haben. Als sie versucht sich zu vergiften, verhindert Chabert das. Er liebt seine Frau noch immer und möchte zuerst weiterhin auf seine Anerkennung drängen, zieht sich dann aber zurück, einen Brief hinterlassend, dass er ein Betrüger sei. Er erschießt sich. An der Leiche findet die Gräfin das Gift, mit dem sie sich das Leben nimmt. Sie hält ihre Schuld nicht länger aus. Das Finale ist übrigens von Waltershausen anders konzipiert als die Erzählung. Während sich bei ihm die Gräfin wandelt und letztlich ihre Liebe zu Chabert erkennt und deshalb mit ihm in den Tod geht, bringt sie ihn in der Erzählung um alles. Als er ihre Niedertracht erkennt, verlässt er entsetzt das Haus und endet schließlich, als Betrüger entehrt, als Landstreicher. Überhaupt ist die Rosine der Oper vielschichtiger als die kühl intrigante Gräfin der Erzählung. Dafür ist Graf Ferraud in der Oper ein eitler Geck, der nur mit seiner Ehre und seinem Titel als Pair (worauf er in der Erzählung erst hofft) beschäftigt ist.
Das Stück spielt im Original im frühen 19. Jahrhundert. Letztendlich könnte das Stück aber nach jedem Krieg spielen. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde es einige Male aufgeführt, nach dem Zweiten Weltkrieg war es längst in Vergessenheit geraten. Schon im Ersten Weltkrieg war eine Aufführung in Deutschland undenkbar, weil im Rückblick Chaberts immer wieder die Marseillaise aufklingt. Chabert ist dabei aber wesentlich traumatisierter als sein Soldatenkamerad in Heines Gedicht „Die beiden Grenadiere“ für dessen Vertonung Robert Schumann in der Vision des Soldaten vom wiederkehrenden Kaiser eben auch die Marseillaise verwandte.
Klaustrophobe Stimmung: ein eingestürztes Bauwerk
Auch für die Bonner Produktion sind nicht Napoleon und die Zeit danach die Folie sondern ein moderner Kriegsschauplatz. Wenn sich der Eiserne Vorhang zu tiefem Wummern öffnet, sehen wir ein gespenstisch eindrucksvolles Bühnenbild von David Hohmann. Wir blicken in die Ruine eines Hauses, auf eine zerborstene Betondecke, aus der die Armierungseisen herausstehen. Darin steht ein Mann mit Krücken – Chabert. Der vordere Teil des optisch bemerkenswerten (wie man an den zögerlichen Schritten der Sänger sieht, wohl nur schwierig begehbaren) Bühnenbildes bildet den Raumen der gesamten, nicht einmal zweistündigen Aufführung. Offen bleibt in Bonn, ob die Handlung eigentlich stattfindet, oder ob Regisseur Roland Schwab das als Visionen eines traumatisierten Soldaten im Krieg sieht. Chabert scheint gefangen in dieser Ruine. David Hohmann macht daraus ein Symbol des Eingeschlossenseins. Hinter dem Loch zeigen uns wechselnde Projektionen verschiedene Schauplätze. Eine zerstörte Stadt deutet einen Krieg der Gegenwart an, ein sich drehende Bild eines Aktenarchivs in Kombination mit dem von den Kanzlisten vertrösteten Chabert lässt natürlich Kafka-Assoziationen aufkommen. Später (im Haus Chaberts) blicken wir von unten nach oben in den Schneckeneffekt einer Wendeltreppe und schließlich in blätterlose Bäume. Dieses Konzept hätte eine Aufführung ohne Unterbrechung möglich gemacht. Aber man unterbricht. Es wird dunkel und drei Scheinwerfer scheinen grell in den Zuschauerraum. Und es dröhnt wummernd. Das soll wohl an Chaberts Traumatisierung erinnern. Aber das dauert alles zu lang. Und das nur, weil im Hintergrund einige Requisiten ausgetauscht werden müssen. Das verrupft die Inszenierung und stört leider ebenso wie der unbefriedigende Schluss, an dem stufenweise die Lichter dunkel werden (man könnte auch sanft herunterdimmen) und man die Sänger herummarschieren sieht. Und das bei einem „Liebestod“, der nicht von ungefähr an Wagners „Tristan und Isolde“ erinnert. Überhaupt Tristan: Chabert legt Waltershausen vor seinem Selbstmord ihm geradezu einen umgedrehten Kurneval-Text in den Mund. Aber trotzdem ein eindrucksvolles Bild am Ende: Im Vordergrund liegt der tote Chabert. Sein Schatten aber geht durch die Trümmer davon.
Jacques Lacombe kostet mit dem Beethoven-Orchester die spätromantische Partitur aus. Dass er dazu viel Forte gibt, steigert die Dramatik des Stücks durchaus. An einigen Stellen wäre es den Sängern zuliebe aber sicher gut gewesen, das Orchester etwas zurückzunehmen.
Gesanglich trägt die Bonner Produktion vor allem Mark Morouse als Chabert. Einen gerissenen Advokaten gibt Giorgos Kanaris als Derville. Nicht nur schauspielerisch überzeugt der Bariton. Yannick-Muriel Noah hat zwar die Leidenschaft der zuerst den Advokaten anbaggernden und dann verzweifelten Gräfin Rosine. Doch leider bleibt sie gesanglich die Höhen schuldig. Immerhin wurde sie von Kostümbildnerin Renée Listerdal in ein schönes Abendkleid gesteckt. Mit schrillem Falsett überzeugt Peter Tantsits als Graf Ferraud leider gar nicht. Man hätte sich eine kräftige Tenorstimme gewünscht. Die hat David Fischer in der kleinen Rolle als Schreiber Boucard. Bass Martin Tzonev spielt mit Leidenschaft und voller Stimme den ehemaligen Korporal Godeschal.
Besuchte Vorstellung: Dernière 13. Juli 2018
(Premiere 17. Juni 2018)
Oper Bonn
Kommentare
Kommentar veröffentlichen