Fotoausstellung: Schwarzweißfotos aus Budapest von Ottó Kaiser und Imre Kinszki – Ungarisches Kulturinstitut Stuttgart – 2018
Überraschende Perspektiven
Ausstellung „Képpontok / Views of Budapest“ mit Schwarzweißfotos von Ottó Kaiser und Imre Kinszki im Ungarischen Kulturinstitut in Stuttgart
von Klaus J. Loderer
Eine Ausstellung mit großformatigen Schwarz-Weiß-Fotografien
ist bis zum 16. Februar 2018 im Ungarischen Kulturinstitut in Stuttgart zu
sehen. Harte Hell-Dunkel-Kontraste, Muster ergebene Schlagschatten auf dem
Boden, kaligrafische Muster der Linienführung sind die Gemeinsamkeiten dieser
Fotos – und natürlich, dass Budapest das Modell all dieser Fotos ist. Aber es
sind ungewöhnliche Ansichten von Budapest. Die berühmten Gebäude fehlen völlig.
Es ist keine dieser Ausstellungen, in denen das Publikum gleich erkennt, hier
das Parlament, dort die Basilika, dann noch die Kettenbrücke etc. Es sind Fotos
aus ungewöhnlichen Perspektiven, mit Motiven des Alltags aus der ungarischen
Hauptstadt.
Die Ästhetik der Schwarz-Weiß-Fotografie vereinheitlicht die
Fotos. Doch stutzt man dann etwas. Von wann sind diese Bilder eigentlich? Erst
auf den zweiten Blick bemerkt man, dass die Fotos aus unterschiedlichen Epochen
stammen. Die Fotos von Ottó Kaiser sind von heute, die Fotos von Imre Kinszki
entstanden um 1930. Sowohl der Nebel der Donau wie die besondere
Hell-Dunkel-Wirkung des oft harten Lichts in Budapest vereinigt beider Blick.
Mit einem Abstand von mehr als 50 Jahren werden die beiden
Fotografen geboren. Durch die tragischen Umstände überschneiden sich die beiden
Biografien zeitlich nicht. Ottó Kaiser wurde 1953 in Pápa geboren und
entwickelte sich zum anerkannten Fotografen und Foto-Journalisten,
veröffentlichte zahlreiche Bildbände und zeigte seine Fotos international in
Ausstellungen. Die Fotos Kaisers sind in der Ausstellung viel älteren Fotos von
Imre Kinszki gegenübergestellt.
Der 1901 in Budapest geborene Imre Kinszki wird inzwischen
als der wichtigste Fotograf der „Neuen Sachlichkeit“ in Ungarn betrachtet. Über
seine Mutter, die aus dem jüdischen Bildungsbürgertum von Budapest stammte, war
er ein Enkel von Zsigmond Schiller, dem Chefredakteur der deutschsprachigen
Tageszeitung Pester Lloyd, und ein Neffe des Architekten Lipót Baumhorn. Sein
Medizinstudium musste er nach kurzer Zeit abbrechen. Für einen Juden war durch
die 1920 erlassenen antisemitischen Gesetze an ein Studium in Ungarn nicht mehr
zu denken. Er verdingte sich als Angestellter in einer Textilfabrik, in der er
Ilona Gárdonyi kennenlernte, die er 1925 heiratete. Seine Familie war über die
kleinbürgerlich-jüdische Herkunft der Schwiegertochter nicht glücklich.
Es war aber seine Frau, die ihm 1926 einen Fotoapparat
schenkte. Mit diesem fotografierte er nicht nur übliche Dinge wie die Familie
oder Landschaften, sondern er begann schnell mit Experimenten. So interessierte
ihn speziell die Makrofotografie, also die fotografische Abbildung sehr kleiner
Dinge, wofür er ein eigenes Objektiv entwickelte. Er gründete die „Gruppe
moderner ungarischer Fotografen“. 1937 organisierte er eine Ausstellung 100
Jahre Fotografie. Schon bald wurden sogar international Fotos von ihm
veröffentlicht.
Die Taufe sollte 1938 einen Schutz vor Diskriminierung
schützen. Doch die Situation wurde im Zweiten Weltkrieg immer bedrohlicher für
die Familie. Imre Kinszki wurde 1943 zur Zwangsarbeit herangezogen und kurz vor
dem Heranrücken der Roten Armee – wie sein Sohn Gábor – nach Deutschland in ein
Konzentrationslager deportiert. Sein Schicksal verliert sich kurz vor
Kriegsende. Er starb wohl bei einem der berüchtigten Todesmärsche zum KZ
Sachsenhausen. Als künstlerisch bedeutender Fotograf wurde er erst im 21.
Jahrhundert wiederentdeckt. Seine Tochter Judit rettete als zehnjähriges
Mädchen einen Koffer mit Negativen. Doch erst durch eine Veröffentlichung des
jüdischen Geschichtszentrum Centropa 2004 wurden die ungarische Nationalgalerie
und Fotogalerien in New York auf die Fotos Kinszkis aufmerksam. Inzwischen
erinnern vor dem Haus in der Róna utca Ecke Szugló utca Stolpersteine an Imre
und Gábor Kinszky.
Bemerkenswert ist die Licht-Schatten-Wirkung auf den Fotos
Kinszkys. Indem er bewusst ins Gegenlicht fotografiert, erhält er eigentlich zu
dunkle harte Schlagschatten, die mit fast überbelichteten hellen Stellen
kontrastieren. Die Wirkung nähert sich der Abstraktion, indem die Motive
flächig verschwimmen. Fast scherenschnittartig sind einige Fotos. Ein schönes
Beispiel ist die Frau auf der Straße, die zur schwarzen Silhouette wird,
verdoppelt durch den starken Schlagschatten. Wie oft ist das Pflaster der
Straße als grafisches Muster betont.
Ein besonderes Faible hatte Kinszki für die ungewöhnliche
Perspektive des Blicks von oben nach unten. Zum Beispiel fotografierte er aus
den Fenstern der Wohnung im Stadtteil Zugló nach unten auf die Straße. Durch
diesen Blickwinkel wird etwa das Muster des Straßenbelags wichtiger als die Gebäude.
Oder der Schatten des Zauns auf der Straße wird dominanter als der eigentliche
Zaun, den man ebenso wenig sehen kann wie die durch das Foto gehende Person.
Auch bei Menschen ist durch diesen Blick der Schlagschatten wichtiger als die
Person. Einen netten Effekt bewirkt ein Foto mit einem Mädchen mit Puppe im
Kinderwagen. Das Mädchen ist nicht zu erkennen. Aber die Puppe schaut dem
Betrachter entgegen. Besonders gerne scheint Kinszki am späten Nachmittag fotografiert
zu haben, wenn die Schatten lang sind und selbst kleinste Erhebungen einen
Schatten werfen. Solche Schattenmuster faszinierten ihn. Dieser für die
damalige Zeit noch ungewöhnliche Blickwinkel tauchte Ende der 1920er Jahre im
Umfeld des Bauhauses in Dessau auf. Es sei nur auf die Fotos von László
Moholy-Nagy verwiesen, der eine fotografische Stilistik entwickelte, die
Kinszky wenig später aufgegriffen hat. Auch der Berliner Fotograf Umbo fertigte
um 1928 eine Reihe von Fotos mit dem Blick von oben auf den Bürgersteig an.
Grafische Muster ergebende Schatten und der Blick von oben
sind in der Ausstellung auch der Sprung zu Ottó Kaiser, der die Tische eines
Straßencafés ebenso von oben fotografiert wie den verspielten Schatten des
Gitters vor der Basilika.
Überhaupt entdeckte Imre Kinszki überall grafische Muster,
seien es die Spuren von Fahrzeugen im Schnee, seien es die glänzenden Gleise am
Westbahnhof. Und dann findet man eine ganze Reihe von Fotos, die wie
Illustrationen einer Geschichte aussehen. Die Geschichte bleibt für uns aber
ein Geheimnis, denn man sieht sie nicht. Eindrückliches Beispiel die Menschenmasse
auf der Brücke beim Heldendenkmal. Die Menschen stehen am Geländer der Brücke
und schauen. Wir sehen aber nur die schauenden Menschen. Wir sehen nicht, was
sich da tut. Man kann in diesem Fall ahnen, dass die Leute, da es Winter ist,
auf die Eisbahn schauen.
18. Januar bis 16. Februar 2018
Ungarisches Kulturinstitut Stuttgart
Kommentare
Kommentar veröffentlichen