Opernrarität: „Hamlet“ (Amleto) von Franco Fraccio – Theater Chemnitz – 2018

Nach 150 Jahren wieder auf dem Spielplan 

– „Hamlet“ (Amleto) von Franco Faccio als deutsche Erstaufführung der Theater Chemnitz – 

von Klaus J. Loderer

Mit einer sensationellen Ausgrabung warten die Theater Chemnitz auf: „Hamlet“ von Franco Faccio. Der vergessene Verdi-Zeitgenosse hatte es verdient, endlich wieder aus der Versenkung herausgeholt zu werden. Nun ist in Chemnitz die Produktion der Bregenzer Festspiele als deutsche Erstaufführung zu sehen. Musikalisch bereichernd unter der Leitung von Gerrit Prießnitz und in einer spannenden und schön anzuschauenden Inszenierung von Olivier Tambosi dargeboten, lohnt sich die Fahrt für große italienische Oper nach Chemnitz.

Gustavo Peña (Hamlet), Katerina Hebelkova (Gertrude), Pierre-Yves Pruvot (Claudius) 
Foto: Nasser Hashemi
Selbst bei italienischen Opern geistert Richard Wagner noch durch die Programmhefte. Und das in diesem Fall nur, weil er einmal meinte: „Hamlet geht den Musiker nichts an“. Die Heiligtümer des Schauspiels zu vertonen, damit hatte man in Deutschland immer ein Problem. Da war man in Frankreich und Italien weniger verzagt. Arrigo Boito hatte nach Gounod dann sogar die Dreistigkeit Goethes allerheiligstes Werk, gleich beide Faustteile in eine Oper zu fassen. Boito hatte sich davor schon einmal an die Opernfassung eines ganz berühmten Schauspiels gemacht. Auch so ein Schauspiel der Schauspiele, nämlich Shakespeares „Hamlet“. In diesem Fall war Boito aber der Librettist. Die Musik stammte von Franco Faccio. Die Verdianer werden nun stutzen. War das nicht der Dirigent der Aida-Erstaufführung in Italien und der Otello-Uraufführung? Genau. Musik von Verdi, Libretto von Boito. Doch Faccio war nicht nur Dirigent. Faccio und Boito waren jung und ungestüm einmal angetreten eine neue italienische Musik zu schaffen. Diese Musik sollte nicht wie Verdi klingen. Vielmehr faszinierte sie Berlioz und das Wagnersche Musikdrama. Musterbeispiel dieses „nuovo melodramma“ sollte „Amleto“ werden mit Text von Boito und Musik von Faccio. 1865 wurde „Hamlet“ dann in Genua uraufgeführt. 1871 kam die Oper nach Mailand. Die Erkrankung des Tenors führte schon zu einer Verschiebung der Premiere um zwei Wochen, doch auch die Premiere selbst fiel durch den nicht hörbaren Tenor durch. Es gab keine weitere Aufführung. Angeblich hat der Komponist die Noten zerrissen. Faccio komponierte nichts mehr und beschränkete sich ab da auf das Dirigieren. Als Dirigent der Verdi-Opern wurde er berühmt. Erst 2007 wurde die rekonstrierte Partitur von „Hamlet“ veröffentlicht. So fand zuerst 2014 in Albuquerque in Neu-Mexiko eine Aufführung statt. Es folgte 2016 die Produktion der Bregenzer Festspiele, die nun in Chemnitz zu sehen ist.

Man ist natürlich gespannt, wie der Anti-Verdi klingt. Und dann wähnt man doch Verdi zu hören. Aber man muss differenzieren. Man hört einen eingängigen Melodiereichtum, unterlegt mit einem tänzerischen Rhythmus. Vielleicht ist es das, was an Verdi erinnert. Es fallen aber auch die abrupten Brüche auf. Gehen bei Verdi die Motive sanft ineinander über, wechselt Faccio plötzlich den Takt, bricht plötzlich ab, macht eine Pause und verarbeitet eine neue Idee. Das hat er vielleicht von Berlioz. Man fühlt sich auch durchaus gelegentlich an Wagner erinnert. Es ist ein ungewohnter Stil, der nicht zu den Hörgewohnheiten passt. Und man denkt an Boitos „Mefistofele“, aber der ist 1867, also knapp nach „Hamlet“ entstanden.

Tommaso Randazzo (König Gonzaga), Katerina Hebelkova (Gertrude), Ina Yoshikawa (Königin Giovanna), Pierre-Yves Pruvot (Claudius), Magnus Piontek (Polonius), Cosmin Ifrim (Laertes)
Foto: Nasser Hashemi
Wie bei Mefistofele, mit dem sich Boito am Goethe-Text orientierte, arbeitete Boito auch bei „Hamlet“ sehr genau entlang des Shakespeare-Texts. Dazu gehörte auch die Verwendung von originalen Textpassagen. Natürlich musste er das Stück raffen, auf sieben Szenen in vier Akten. So ist Boito wesentlich näher am Shakespeare-Original als die knapp danach entstandene Opernfassung von Ambroise Thomas. Den Anfang des Shakespeare-Dramas lässt Boito einfach weg und fällt mit der Handlung in eine effektvolle Festszene. So rahmen zwei Feste die Opernhandlung. Bei beiden singt der König ein Trinklied. In das erste ist eigenartigerweise ein Totengedenken eingebaut. Das zweite dient dazu Hamlet einen vergifteten Becher zu reichen, den aber die Königin trinkt. Leben und Tod prallen hier eng aufeinander.

Man versteht in Chemnitz, warum ein guter Tenor so wichtig für diese Oper ist. Hamlet ist schlichtweg fast durchgängig auf der Bühne. Mit dem in Las Palmas auf Teneriffa geborenen Gustavo Peña erlebt man einen stimmgewaltigen Tenor, der die unterschiedlichen Stimmungslagen der Partie von Trauer über Rache bis Übermut und Leidenschaft mit seiner hellen Stimme differenziert artikuliert und überzeugend vermittelt. Schlank in Stimme und Körper spielt er dazu behendig und beherzt.

Bariton Pierre-Yves Pruvot vermittelt einen intriganten König Claudius, der nicht daran erinnert werden möchte, dass er seinen Bruder umgebracht hat. Dunkel und bedrohlich unterlegt er seine Stimmme. Als Hamlets Mutter Königin Gertrud ergründet die tschechische Mezzosopranistin Katerina Hebelkova überraschende Tiefen der Stimme. Liebe und Leidenschaft zeigt Tatiana Larina als Ophelia mit einem in der Höhe schönen Sopran, mit ihrer Verzweiflung berührt sie. Magnus Piontek singt mit schönem Bass die kleine Rolle von Ophelias Vater Polonius. Cosmin Ifrim überzeugt als ihr Bruder Laertes in der Höhe nicht so ganz. Ricardo Llamas Márquez und Matthias Winter sind als Horatio und Marcellus gut besetzte kleine Rollen. Der mexikanische Bassbariton Noé Colín ist als Geist stimmgewaltig – die elektronische Verstärkung verzerrt die Stimme leider stark. Tommaso Randazzo und Ina Yoshikawa spielen komödiantisch die Szene der Ermordung des Königs Gonzaga. Auch André Eckert vermittelt als Totengräber Witz.

Kontrastreich wie die Musik ist auch die Inszenierung. Vor dem Hintergrund der schwarzen Bühne wirken die Kostüme von Gesine Völlm nur umso prächtiger. Sie spielt mit historischen Vorbildern aus der Renaissance, verfremdet und überzeichnet Reifröcke, Pluderhosen und Halskrausen. Als fast surreales Element tauchen auf vielen Hosen und Wämsern Augen auf. Dieser manchmal etwa in der Theaterspielszene sogar grellbunte Kostümreigen verdoppelt sich im verspiegelten Fußboden, der die Bühne geradezu enträumlicht. Doch auch Bühnenbildner Frank Philipp Schlößmann spielt mit dem Theater. Der Bühnenrahmen mit knallrotem Vorhang ist komödienhaft von Glühbirnen umrahmt. Weiter hinten folgt ein zweiter Bühnenrahmen mit Glühbirnen. Er öffnet sich zum Beispiel für die beiden Auftritte des Geists von Hamlets Vater, die in grellem Gegenlicht unter Verzicht auf jede Farbigkeit erfolgen. Wie als Scherenschnitt taucht ein geisterhafter Hofstaat mit dem ermordeten König in Rüstung auf, der sein Schwert wie ein Grabkreuz anklagend nach oben hält. Überhaupt hat die ganze Aufführung etwas Geisterhaftes oder Surreales. Ein mysteriöser riesiger Felsklotz fährt mit der Drehbühne herum, die noch mehr dazu beiträgt, die Handlung auf eine mysteriöse Ebene zu bringen.

Szene mit Gustavo Peña (Hamlet) und Noé Colín (Geist) 
Foto: Nasser Hashemi
Spannend und packend ist die Personenführung Olivier Tambosis, der mit Ballungen und Aufreihungen des Chors den Raum akzentuiert. Das wirkt sehr konzentriert. Tische können zu langen Tafeln zusammengefügt werden. So bilden sich Spielräume und lösen sich schnell wieder auf. Ein Meer von Kerzen markiert die Beisetzung Ophelias. Dass die Umbauten bei geschlossenem Vorhang stattfinden, unterbricht zwar etwas die Spannung, sorgt aber für den besseren theatralischen Effekt. Im letzten Akt entwickelt das Stück noch eine bemerkenswerte Steigerung. Die Produktion setzt das effektvoll um mit langen Tischen, auf denen der Fechtkampf stattfindet, bei dem alle Hauptpersonen schließlich zu Tode kommen.

Von Stefan Bilz gut geprobt ist der Opernchor, der in der Produktion auch schauspielerisch gefordert ist und häufig den räumlichen Rahmen der Szenen bildet. Glänzend aufgestellt ist die Robert-Schumann-Philharmonie unter der Leitung von Gerrit Prießnitz, die sich besonders in den sinfonischen Vor- und Zwischenspielen entfalten kann. Die leidenschaftliche Musik kann sich bei Prießnitz voll entfalten. Er lässt sich auf die unterschiedlichen Klangfarben und Kontraste der vielseitigen Partitur ein. Da darf sich ein Fortissimo ebenso mächtig entfalten wie Sanftheit zur Begleitung von Ophelia. So ist auch der Klang aus dem Orchestergraben spannend und ein wichtiges Element für einen großen Opernabend.

Einen großen Opernabend mit einer hörenswerten Musik kann man in Chemnitz zweifelsohne gerade erleben. Opernliebhaber kommen von weit her angereist, um sich diese Rarität anzuschauen. Wenn ich aber die vielen leeren Plätze in meiner Aufführung betrachte scheint man in Chemnitz selbst nicht so richtig zu schätzen, was für einen Leckerbissen das Opernhaus gerade bietet. Und man sieht für einen Bruchteil der dortigen Preise eine Produktion der Bregenzer Festspiele.

Besuchte Vorstellung: 8. Dezember 2018
(Premiere 3. November 2018,
Produktion der Bregenzer Festspiele 2016)
Opernhaus Chemnitz



Bekannter ist die Opernfassung von Ambroise Thomas. Diese auch nicht so oft gespielte Oper läuft derzeit in Mönchengladbach. Hier ist ein Link zur Besprechung der dortigen Aufführung:



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